Von Jürgen Kunze
Die Vollversammlung der Vereinten Nationen hat das Jahr 2004 zum Internationalen Jahr des Gedenkens an den Kampf gegen die Sklaverei und an deren Abschaffung ausgerufen. Zur Eröffnung dieses Gedenkjahres sagte UNESCO-Generalsekretär Koïchiro Matsuura in Cape Coast (Ghana), das Gedenken sei nicht nur ein »Akt historischer Solidarität mit den Opfern einer schrecklichen Ungerechtigkeit und mit denjenigen, die für ihre Freiheit und ihre Rechte kämpften«, sondern auch ein »Akt der Bekräftigung des noch immer ausgetragenen Kampfes gegen alle Formen von Rassismus, Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz und Ungerechtigkeit«.
Der transatlantische Sklavenhandel steht am Anfang der neuzeitlichen Geschichte und hatte große – allerdings auch sehr unterschiedliche – Auswirkungen auf die Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme Afrikas, Amerikas und Europas. Die Versklavung von 30 Millionen afrikanischer Menschen im Verlaufe von drei Jahrhunderten, ihre Deportation über den Atlantik, ihr extrem wertgesteigerter Wiederverkauf, ihre hochprofitable Verwendung in den kolonialen Ökonomien Amerikas und der Karibik und ihr Austausch gegen dort produzierte Rohstoffe bilden einen wirtschaftshistorisch beispiellosen Vorgang. Die massenweise Aneignung von Menschen als ferntransportierte Handelsware und als wertschaffende Arbeitsinstrumente war nicht nur eine Voraussetzung für die Akkumulation beträchtlicher privater Kapitalien und staatlicher Steuereinnahmen für die westeuropäischen Handelsmächte und schließlich für die anbrechende industrielle Revolution, sie schuf auch erstmals in der Geschichte ein Wirtschaftssystem, das weit auseinander liegende Weltregionen miteinander verband. Es setzte verschiedene politische und wirtschaftliche Systeme, Akteure und Interessen aufs Engste in eine wechselseitige funktionale Beziehung. Allerdings waren, abgesehen von den unermesslichen Opfern und Leiden der von Sklaverei betroffenen Afrikaner, die Auswirkungen des Sklavenhandels für die beteiligten Seiten unterschiedlich. Während der Sklavenhandel für Westeuropa und seine kolonialen Ökonomien einen wesentlichen wirtschaftlichen Fortschritt mit sich brachte, dominierte in den Herkunftsregionen der Sklaven eine Tendenz der gesellschaftlichen Krise. Die Einstellung afrikanischer Gesellschaften auf die Bedingungen des Sklavenhandels zog wesentliche Deformationen nach sich, die in vermehrten kriegerischen Auseinandersetzungen, in der Militarisierung oder auch im Niedergangs von Staaten und in zunehmender gesellschaftlicher Konflikthaftigkeit ihren Ausdruck fanden. Der innerafrikanische Warenhandel und die traditionellen Produktionssysteme wurden erheblich gestört und die Humanressourcen in weiten Gebieten zerstört oder zumindest enorm geschwächt. Der durch den Sklavenhandel erlangte Input an Waren und Luxusgütern (Waffen und Munition, Baumwoll- und Leinenstoffe, Kaurimuscheln, Alkohol, Tabak, Eisenbarren u.a.) war wenig geeignet, interne Wirtschaftsprozesse zu dynamisieren. Die hierdurch angereizten Bedürfnisse der afrikanischen Eliten verstärkten lediglich die despotischen und militaristischen Tendenzen und die Antriebe zur Ausweitung der kriegerischen Sklavenjagd. Nur dort, wo der Sklavenhandel unmittelbar zur entscheidenden wirtschaftlichen Grundlage des politischen Systems werden konnte, kam es zu einer vorübergehenden Blüte einiger weniger afrikanischer Staatswesen in jener Periode. Insgesamt wurden in der Zeit des Sklavenhandels (in der merkantilen Phase des Kolonialismus) die Weichen für die koloniale Unterentwicklung der afrikanischen Gesellschaften gestellt.
Es ist zweifellos würdigend hervorzuheben, dass die internationale Staatengemeinschaft das vor zweihundert Jahren beginnende Ende des auf Sklavenhandel und Sklavenausbeutung beruhenden atlantischen Wirtschaftssystems in diesem Jahr und auf diese Weise kommmemoriert (und man wünschte sich einen viel breiteren öffentlichen Diskurs zu dieser Thematik), doch kommt Skepsis auf hinsichtlich des Grades an Entschlossenheit, heute existierende Formen spezifischer Sklaverei anzuprangern und Schritte zu ihrer Überwindung einzuleiten. Dabei ist besonders auf zwei Dinge hinzuweisen: Erstens ist Sklaverei eine vor allem auf Profit orientierte Institution, die im Beziehungsgefüge von Wirtschaft und sozialer Macht verankert ist. Sie gehört insofern – weit über den Aktionsradius der UNESCO hinaus – auf die Agenda der internationalen ökonomischen Organisationen, Foren, Verbände und Politiken ebenso wie in den Forderungskatalog der modernen sozialen Bewegungen. Zweitens ist es nicht hinreichend, den historischen Rückblick auf die Vorgänge, Begleiterscheinungen und Folgen des transatlantischen Sklavenhandels vom 16. bis weit in das 19. Jahrhundert hinein in einem allgemeinen Aufruf zur Ächtung aller Formen von Diskriminierung münden zu lassen. Eine Debatte um die gegenwärtig existierende Sklaverei ist unter anderem auch in den Rahmen wirtschaftlicher Globalisierungsprozesse zu stellen, deren organischer Bestandteil die modernen Formen der Sklaverei zweifellos sind und die im Hinblick auf die barbarische Seite des Spektrums der Globalisierungserscheinungen sehr konkret und auch zunehmend aussagekräftig recherchiert sind.
Wer heute Sklaverei denkt, bezieht sich normalerweise auf Vergangenheiten. Sklaverei ist das Merkmal antiker Gesellschaften – Spartakus ist jedem ein Begriff. Auch der Sklavenhandel von Afrika über den Atlantik und die Sklavenplantagen in Amerika und in der Karibik sind weithin bekannt – Onkel Toms Hütte haben viele gelesen. Selbst wenn der eine oder andere spektakuläre Fall von Menschenhandel oder Kinderarbeit in den Medien erscheint, machen sich jedoch nur wenige Menschen in ganzer Tragweite bewusst, dass diese Situation eine nicht wenig verbreitete Erscheinung unserer heutigen Realität ist. Wir begegnen ihr, oft ohne sie zu erkennen, sogar direkt in unserer Mitte in Gestalt von Kinderarbeit, Kinder- und Frauenhandel, Prostitution und beim Handel mit illegal verwendeten Arbeitskräften. Moderne Sklaverei erfasst heute je nach Definition und Abgrenzung dieses Begriffs zwischen 30 und 200 Millionen Menschen. Ergebnisse des Sklavenhandels und der Arbeit von Sklaven – vielschichtig vermittelt durch den internationalen Kapital-, Waren- und Dienstleistungsverkehr – erreichen Konsumenten in aller Welt. Mehr noch, Menschenhandel, namentlich mit Kindern und Frauen, ist ein erheblicher und zunehmender Bestandteil dieses Verkehrs, dessen Umfang sich nach Befunden der Internationalen Organisation für Migration auf 7 bis 10 Milliarden Dollar jährlich beläuft und schnell im Wachsen begriffen ist. Wenn die Erscheinungen der Sklaverei auch geächtet, verboten und teilweise direkt bekämpft werden, so bleiben sie doch Teil weiträumiger internationaler Wertschöpfungsprozesse. Das bedeutet, wenn Sklaverei auch verboten ist, so ist sie gegenwärtig nicht nur ein Relikt vergangener Epochen, sondern eine Erscheinung der Moderne, die durchaus ihren Platz im Rahmen der sozioökonomischen Rationalität moderner Gesellschaften findet.
Unter moderner Sklaverei werden verschiedene Formen der persönlichen Abhängigkeit verstanden, die über das hinausgehen, was im allgemeinen unter wirtschaftlicher Ausbeutung, Unterdrückung und Abhängigkeit begriffen wird und auch mehr beinhalten als eine generelle Verletzung von Menschenrechten. Versklavung ist nicht schlechthin die übermäßige Abschöpfung, Aneignung und Verwertung der Arbeitskraft von Menschen, sondern die Aneignung des Menschen selbst, seine Verwandlung in eine Ware, seine Unterwerfung unter die Willkür des Besitzers oder Eigentümers durch außerökonomischen Zwang, zumeist unter Androhung physischer oder psychischer Gewalt. Im Status der Sklaverei ist das betroffene Individuum einer ausbeuterischen Gewalt ausgesetzt, die es aller humanitären Freiheitsrechte und Sozialansprüche beraubt. Der versklavte Mensch lebt unter Umständen, unter denen er auch sozial weitestgehend entrechtet ist. Er ist einer kontrollierenden Macht unterworfen, die ein großes Maß an Einschränkungen, Zwang und Misshandlungen gegen ihn einsetzen kann. Der Sklave oder die Sklavin haben keinen Anspruch auf einen Anteil am Wert der von ihnen geleisteten Arbeit, ihr sozialer Anspruch reduziert sich zwangsweise auf die oft fragwürdige Gewährleistung eines zumeist kläglichen physischen Überlebens. Die Umstände, unter denen die betroffenen Menschen leben, binden sie an eine Situation sozialer Entbehrung, Lähmung und Ohnmacht, der sie sich in der Regel nicht aus eigener Kraft entziehen können.
Sklaverei existiert in verschienen Formen. Anti-Slavery International – die namhafte schon 1836 gegründete britische Nichtregierungsorganisation – hebt insbesondere folgende Zustände der Sklaverei hervor, die in unzähligen Variationen vorkommen:
- Schuldknechtschaft, die Menschen mitunter lebenslang (manchmal über mehrere Generationen) einer persönlichen Abhängigkeit unter extrem ausbeuterischen Bedingungen aussetzt – die Betroffenen, die als Gegenleistung für intensivste und lange Arbeit oft nur Verpflegung und Unterkunft erhalten, werden weltweit auf etwa 20 Millionen geschätzt.
- Zwangsarbeit – durch administrativen Druck und die Androhung von Gewalt erzwungene Arbeitsleistung ohne Entgelt.
- Kinderarbeit, die vielfach die Kriterien der Sklaverei erfüllt und den Betroffenen jede Chance auf Ausbildung und Persönlichkeitsentwicklung vorenthält - sie erfasst einen erheblichen Teil der Kinderarbeiter, die nach Angaben der ILO weltweit 250 Millionen Personen zählen; von ihnen leben etwa 61 Prozent in Asien, und 32 bzw. 7 Prozent in Afrika und Lateinamerika.
- Kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern und Frauen, Zwang zur Pornographie und Prostitution.
- Verschleppung von Menschen und Menschenhandel zum Zwecke der ökonomischen Ausbeutung.
- Zwangs- und Frühehen, die die Opfer in ein lebenslanges Knechtschaftsverhältnis zwingen und oft physischer Gewalt aussetzen.
- Traditionelle Sklaverei, insbesondere durch Ausnutzung persönlicher Abhängigkeit oder mittels Menschenraub angeeignete Verfügungsgewalt über Personen und deren Verkauf.
Die Auswirkungen der Sklaverei im Rahmen der modernen Weltökonomie sind außerordentlich widersprüchlich. Diese drastische Form menschlicher Ausbeutung generiert einerseits große Reichtümer und Kapitalien mit geringfügigstem Einsatz von Investitionen und schafft damit Märkte für Waren und Dienstleistungen. Das Markante daran ist jedoch andererseits, dass dieser wirtschaftliche Effekt keine organischen Volkswirtschaften fördert, sondern gerade in den ohnehin stark disproportionierten Ökonomien der Entwicklungsländer eine Tendenz zu strukturellen Deformationen und zu Stagnationserscheinungen in den sozioökonomischen Beziehungen dieser Gesellschaften verstärkt. Die Erscheinungen von Armut, Entrechtung, Überausbeutung und Gewalt im Zusammenhang mit der Versklavung von Menschen stehen in enger Beziehung mit Momenten des Parasitismus, der Korruption, des Schmuggels, der Schwarzarbeit und anderen illegalen Praktiken, nicht zuletzt auch mit Aspekten einer hypertrophen Militarisierung und des damit einhergehenden Waffenhandels, des Drogenhandels und des Einsatzes von Drogen bei der Rekrutierung und Verwendung von Sklaven (z.B. im Falle von Kindersoldaten). Auch der Raubbau an Naturressourcen in zahlreichen Regionen der dritten Welt steht hiermit in enger Verbindung. Darüber hinaus wirkt sich der verbreitete Rückgriff auf Sklavenarbeit negativ auf angrenzende Lohnarbeitssektoren der Wirtschaft aus. Sklaverei reduziert zwangsweise den wirtschaftlichen Aufwand für die individuelle Reproduktion der Arbeitskraft auf das Mindeste, das heißt auf die allernotwendigsten Überlebensbedürfnisse – und manchmal nicht einmal auf diese. Deshalb kann Sklaverei, wo sie sich in weitergehende Wirtschaftsbeziehungen einfügt, als ökonomische Ressource verwendet werden, die geeignet ist, durch Konkurrenz und Wettbewerb vermittelt, den Wert der Ware Arbeitskraft zu senken. Die Folge ist, dass sich Durchschnittslöhne in anderen Sektoren verbilligen. Diese Situation schafft dort, wo es sich im Sinne der Gewinnmaximierung fügt, günstige Bedingungen für (ausländische) Kapitalinvestitionen. Doch insgesamt bewirkt die Verbilligung der Arbeit eine wachsende Verelendung großer Bevölkerungsgruppen und hemmt oder verhindert Anreize zu Innovationen in weiten Bereichen der Landwirtschaft, der verarbeitenden und extraktiven Industrie und der Dienstleistungen. Sklaverei hat einen Anteil an der Billigproduktion in der dritten Welt, deren Ergebnisse massenweise in den Industrieländern konsumiert werden, sie steht zugleich für den Fortbestand von Strukturen der Unterentwicklung.
Der Verweis auf die heutigen Existenzfragen der Sklaverei provoziert die Frage nach der Überwindbarkeit dieses Phänomens. So wie sich das Vorhandensein von Sklaverei seit der Herausbildung differenzierter Gesellschaften durch die gesamte Geschichte der Menschheit zieht, ist auch die Frage nach ihrer letztendlichen Überwindung offen. Gesellschaftssysteme wie die antiken Sklavenhaltergesellschaften, in denen Sklaverei die entscheidende wirtschaftliche Grundlage bildete, waren gesamthistorisch gesehen Ausnahmen. Andererseits sind Geschichtsperioden und geographische Regionen, in denen Sklaverei nicht existierte, ebenso Ausnahmeerscheinungen. Die Abwesenheit von Sklaverei ging jedoch – wie im ausgehenden Mittelalter Westeuropas – einher mit anderen, nicht minder harschen Formen persönlicher Abhängigkeit und Ausbeutung (an feudalen Landbesitz gebundene Hörigkeit, Leibeigenschaft). Die ideologische Gegenbewegung gegen den transatlantischen Sklavenhandel und die Sklaverei (Abolitionismus) gewann in dem Maße an Stärke, in dem sich in Westeuropa eine neue ökonomische Rationalität durchsetzte, nämlich zu einer Zeit, in der sich qualitativ neue Formen wirtschaftlicher Ausbeutung und Verwertung auf der Grundlage sozialer Proletarisierung und Massenweiser Lohnarbeit als effizienter erwiesen. So verbot Großbritannien 1808 den Sklavenhandel und 1833 die Sklaverei. Andere Handelsmächte vollzogen diesen Schritt nachfolgend ebenfalls. Weder der transatlantische Sklavenhandel noch die Sklaverei verschwanden deshalb aus dieser Welt. Beide verloren jedoch später im Gefolge wirtschaftlicher Modernisierung ihre Bedeutung oder wurden politisch abgeschafft, weil ihr systembedingter ökonomischer Sinn verloren gegangen war. Sklaverei blieb nur in fragmentierten (unterentwickelten) Gesellschaften oder unter Bedingungen erhalten, unter denen sie in ein modernisierendes Wirtschaftssystem (in der Regel marginal) integriert werden konnte, weil sie (z.B. in bestimmten Plantagenwirtschaften) kapitalistische Verwertungsprozesse noch profitträchtiger machen konnte. Anders sieht es in der Gegenwart mit den Formen der modernen Sklaverei aus. Diese weiten sich nicht nur quantitativ aus, sondern integrieren sich offensichtlich relativ problemlos in moderne gesellschaftliche Reproduktions- und Konsumbedürfnisse globalen Ausmaßes, zumindest in einer Dimension, die dem in ethischen und politisch-rechtlichen Kategorien geführten Kampf um ihre Beseitigung erfolgreich widersteht.
Kevin Bales(2001): Die neue Sklaverei. München
Robert Harms (2004): Das Sklavenschiff. München
Pino Arlacchi (1999): Die Ware Mensch. München und Zürich
Dr. Jürgen Kunze ist habilitierter Afrikanist und Soziologe. Publikationen zu Fragen der Entwicklung und Unterentwicklung, Sozialstruktur und politischer Macht und Herrschaft in Afrika. Weitere Forschungen zur Migration und Integration von Aussiedlern.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008