Von Andrea Reikat
Wer in der „Cité An IV“ im Stadtteil Tampouy der burkinischen Hauptstadt Ouagadougou lebt, der hat es geschafft. Die meisten Bewohner sind zwar nicht reich, aber durchaus gut etabliert. Sie sind Polizisten, Zöllner, Lehrer, Militärs, Ärzte oder Verwaltungs-beamte, sie haben also ein festes Einkommen. Die Häuser in der „Cité An IV“ haben – für die Verhältnisse in einem der ärmsten Länder der Erde – einen durchaus ordentlichen Standard: Wohnzimmer und drei Schlafzimmer inmitten eines Hofes, in dem als Nebengebäude um das eigentliche Haus herum noch Dusche, Toilette und eine Küche gruppiert sind. Alle Häuser haben Strom und einen Wasseranschluß.
In der Regel sind es die Männer, die Familienväter, die mit ihrem gesicherten Job für den Lebensunterhalt der Familien in der „Cité An IV“ sorgen, in vielen Fällen arbeiten aber auch die Frauen. Aber unabhängig davon, ob die Frau des Hauses auswärts arbeitet oder nicht, finden sich doch in nahezu allen Haushalten Haushaltshilfen. Nur selten handelt es sich bei diesen – wie in Europa – um erwachsene Frauen, meistens sind es junge Mädchen: 11, 12, maximal 15 Jahre alt.
In dem Haushalt, in dem ich seit 1999 bei meinen Aufenthalten in Ouagadougou wohne, arbeitete in meiner Anfangszeit dort die damals ca. 14- oder 15-jährige Kwama (so genau kannte ihr Alter niemand, auch sie selbst nicht). Sie war drei Jahre zuvor meinem Gastgeber von ihren Verwandten anvertraut worden. Kwama war ein Waisenkind und hatte bei ihrem Onkel gelebt. Dieser hatte meinen Gastgeber, einen Verwaltungsbeamten, in einer der südlichen Provinzen kennengelernt und diesem Kwama als Haushaltshilfe mitgegeben. Kwama war ab diesem Zeitpunkt allein für die Versorgung des Haushaltes zuständig: Sie putzte, kaufte ein, kochte, machte die Wäsche und versorgte die Kinder des Haushalts, die kaum jünger waren als sie selbst. Kwama schlief in der, ausserhalb des Hauses gelegenen, Küche, aber sie erhielt – immerhin und eine absolute Ausnahme – eine monatliche Entlohnung von 5.000 CFA (ca. 7,50 EURO).
1999 nun begann Kwama, sich von einem jungen Mädchen zu einer erwachsenen Frau zu entwickeln. Wenn sie morgens auf den Markt ging, zog sie ihre beste Kleidung und Schuhe mit hohen Absätzen an, und sie blieb immer wieder auffallend lange weg. Daraufhin zog mein Gastgeber die Konsequenz und kontaktierte Kwamas Onkel: Er wollte nicht die Verantwortung für eine evtl. Schwangerschaft des Mädchens übernehmen und sie lieber „rechtzeitig“ nach Hause schicken. Ich fuhr Kwama in ihr Dorf zurück. Sie hatte zwei grosse Taschen mit all den Dingen dabei, die sie in den drei Jahren ihrer Tätigkeiten in der Hauptstadt hatte erwerben können. Auch bei dieser Fahrt trug sie die Kleidung, die sie für ihre beste hielt, inkl. der hochhackigen Schuhe, und sie war geschminkt. Bei der Ankunft im Dorf wurde sie (auch wegen dieses Aufzugs) von ihrem Onkel höchst ungehalten empfangen, der aber auch deutlich machte, für Kwama bereits einen Ehemann gefunden zu haben, so dass er die Verantwortung bald wieder würde abgeben können.
Ebenso wie die Bewohner der „Cité An IV“ hat auch Natalie es „geschafft“ – wenn auch in einem etwas bescheideneren Rahmen. Sie stammt aus einer der östlichen Provinzen, hat ein paar Jahre die Schule besucht und insgesamt 5 Kinder von mehreren Männern, die alle nicht bei ihr geblieben sind. Seit einigen Jahren betreibt sie in einem der ärmlicheren Vororte Ouagadougous eine Hirsebier-Schenke. Im Jahre 2002, mit Mitte 30, beschloss Natalie, dass es nun Zeit sei, einen Teil der Arbeit zu deligieren. Sie bat ihren Bruder, der nach wie vor im heimatlichen Dorf wohnte, ihr ein Kind zu schicken, das ihr bei der Arbeit helfen sollte. Der Bruder hörte sich im Dorf um und fand eine Familie, die bereit war, eine ihrer Töchter nach Ouagadougou zu schicken. Von nun an war es die 11-jährige Fati, die den Grossteil der Arbeit in Natalies Hirsebierschenke erledigte: Sie holte früh morgens, bevor um 7.00 h die ersten Gäste kamen, die Hirsebierkrüge vom Grosshändler, danach kümmerte sie sich um die Zubereitung des Essens, das in der Hirsebierschenke ebenfalls zu erhalten war. Sie bediente die Gäste und sie wusch das Geschirr.
In den ersten Tagen nach ihrer Ankunft in Ouagadougou weinte Fati ohne Unterlaß: Verpflanzt von ihrem 800-Einwohner-Dorf in eine Millionenstadt, ohne ein bekanntes Gesicht in ihrer Umgebung, fand sich dieses Kind aus einer streng islamischen Familie in der aufgewühlten, alkoholschwangeren Atmosphäre einer Hirsebierschenke wieder, in der die Männer sich einen grossen Spaß daraus machten, das junge hübsche Mädchen zu necken.
Um Fati zumindest ansatzweise eine Idee davon zu vermitteln, dass ihr Aufenthalt in Ouagadougou ihr auch eine andere Perspektive bieten könnte als die Männerbekanntschaften in der Hirsebierschenke, verfiel ich auf die Idee, sie in einer Abendschule anzumelden. Diese ist für Jugendliche und Erwachsene gedacht, die keine Gelegenheit zu einem regulären Schulbesuch haben. Auch in Natalies Viertel befindet sich eine dieser Einrichtungen, betrieben von einer protestantischen Missionsgesellschaft. Da Fatis Arbeiten in der Hirsebierschenke zwar schon vor Morgengrauen begannen, in der Regel aber gegen 16.00 h beendet waren, würde ein Schulbesuch ihre Arbeitsleistung für Natalie nicht beeinträchtigen. Natalie stimmte also relativ schnell zu, und auch Natalies Bruder, den ich seit über 10 Jahren kannte und der als ursprünglicher Vermittler der Verantwortliche für das weitere Vorgehen war, war einverstanden und informierte Fatis Familie.
Drei Monate lang hielt Fati dieser enormen Arbeitsbelastung stand: von 5.00 bis 16.00 h in der Hirsebierschenke, von 18.00 bis 20.00 h in der Schule. Schließlich holte ihre Familie sie ins Dorf zurück: man bräuchte sie dort, um ihrer Mutter zu helfen. Die Frage bleibt offen, ob dies nur ein Vorwand war und ob die Familie vielleicht nur den weiteren Schulbesuch des Mädchens in Ouagadougou unterbinden wollte.
Im Jahre 1998 lebte ich für zwei Monate in der Kleinstadt Tougan im Nordwesten Burkina Fasos. Ich hatte ein kleines Haus gemietet, das unmittelbar neben dem Gehöft der Familie eines Kollegen von der Universität Ouagadougou lag. Obwohl es in dem Haus Stromanschlüsse gab, so gab es doch keinen Strom, und es gab auch keinen Wasseranschluß. Also schickte mir die Familie meines Kollegen jeden Morgen die ca. 25-jährige Awa vorbei. Sie brachte Wasser aus einem nahegelegenen Brunnen mit, fegte meinen Hof, und sie wusch zweimal pro Woche meine Wäsche. Dafür gab ich ihr pro Woche 1.500 CFA (ca. 2,50 EURO). Erst gegen Ende meines Aufenthaltes erfuhr ich, dass Awa dieses Geld nicht behielt, sondern an die Familie meines Kollegen weitergab. Denn Awa konnte nicht auf eigene Rechnung arbeiten: Sie war eine Sklavin, die Arbeit bei mir war nur eine von vielen Aufgaben, zu denen sie bestellt wurde.
Als ich meine Zelte in Tougan abbrach, fragte mich Awa, ob ich sie nach Ouagadougou zu meinem Kollegen mitnehmen könne, bei dem sie „für einige Tage“ bleiben wolle. Ich versicherte mich bei der Familie, die ihre Zustimmung gab. Ich brachte sie also zu meinem Kollegen – und als ich drei Monate später nach Burkina Faso zurückkam, fand ich Awa immer noch dort im Haus vor. Sie war einfach dort geblieben und hatte sich auf diese Art der direkten Kontrolle der Grossfamilie in Tougan entzogen: Die Sklavin Awa bediente sich damit der gleichen Strategie wie es auch Familienmitglieder untereinander tun. Dies ist möglich, weil sie als Sklavin so etwas ähnliches wie ein Familienmitglied ist, und einem solchen kann man nicht die Tür weisen, solange es sich nicht eindeutiger Vergehen (Diebstahl im eigenen Haus, Ehebruch etc.) schuldig macht.
Eine letzte Episode, die uns wieder zur ersten zurückführt: Nach Kwamas Weggang wechselten sich im Haus meines Gastgebers in der „Cité An IV“ die Hausmädchen in schneller Reihenfolge ab. Manche kochten nicht gut genug, andere waren unsauber, die dritten verstanden sich nicht mit den Kindern. In dieser Situation kam eine Tante meines Gastgebers von einer Reise aus dem heimatlichen Dorf im Westen des Landes zurück. Sie brachte zwei Mädchen mit, ca. 8 und 10 Jahre alt. Beide waren sie Sklavenmädchen, das eine wollte sie bei meinem Gastgeber, das andere in ihrem eigenen Haushalt beschäftigen. Mein Gastgeber reagierte alles andere als begeistert, er war aber auch sichtlich bemüht, die Tante nicht zu brüskieren. Also blieb das ältere der beiden Mädchen ein paar Tage bei uns. Allerdings wurde die gerade engagierte Haushaltshilfe nicht entlassen, das Mädchen schlief in der Küche und gleichzeitig versuchte mein Gastgeber, es andernorts unterzubringen.
Wäre aber die Aufnahme eines Sklavenmädchens nicht die Lösung für das Problem der Haushaltsführung gewesen? Ausserdem hätte doch ein Sklavenmädchen kein Gehalt bezogen und damit das Haushaltsbudget nicht belastet. Die Argumente gegen das Engagement eines Sklavenmädchens wogen jedoch schwerer: Eine „normale“ Haushaltshilfe kann jederzeit entlassen werden, sobald sich Unregelmässigkeiten bei oder Unzufriedenheit mit ihrer Arbeit einstellen. Wenn sie krank wird, werden ihr die Fehlzeiten vom Lohn abgezogen, und sie muss die Behandlungskosten selbst bezahlen. Der Arbeitgeber hat ihr gegenüber keinerlei Verpflichtungen, die über die Zahlung des (geringen) Lohns (zumeist höchstens 10.000 CFA = 15 EURO pro Monat) hinausgehen. Hingegen erhält ein Sklavenmädchen zwar keinen Lohn, dafür muss es beherbergt und eingekleidet werden, und wenn es krank wird, ist der „Herr“ für die Behandlungskosten verantwortlich. Kommt es zu Unregelmässigkeiten im Haus (z.B. Diebstähle) oder bei der Arbeit, kann man ein Sklavenmädchen nicht einfach wegschicken, sondern die Massnahme muss erst mit der Familie, die ja insgesamt die Verantwortung trägt, diskutiert werden. Denn zumeist bestehen die Verbindungen zwischen den Sklaven und ihren „Herren“ seit Generationen – da will schon sehr genau überlegt sein, wie man sich bei Problemfällen verhält.
Was ist der Unterschied zwischen „einfacher Kinderarbeit“ und „Sklaverei“? Nicht-Sklaven werden weiterhin als ihren eigenen Familien zugehörig betrachtet, der Arbeitgeber ist gegenüber der ursprünglichen Familie des Kindes verantwortlich. Auch wenn die Behandlung der Kinder für europäische Vorstellung nur schwer akzeptabel oder erträglich ist (die Arbeitszeiten, die Arbeitsbedingungen, der allgemein übliche Ausschluss vom Schulbesuch, vor allem aber die völlige Willenlosigkeit der Kinder), so bleiben sie doch unter der Verantwortung ihrer eigenen Familien. Sklaven sind hingegen der Familie ihrer Herren „ausgeliefert“ – diese hat die volle Verantwortung.
All dies heisst aber keineswegs, dass es Sklaven notwendigerweise schlechter geht als „Freien“. In allen Fällen ist das Bewusstsein der verantwortlichen Familie entscheidend: Zum Beispiel liegt es im Verantwortungsgefühl des Familienchefs, ob im Krankheitsfall Medikamente bezahlt werden – ob dies nun der Vater oder der „Herr“ des betroffenen Kindes ist, ist dabei sekundär. Es ist möglich, dass „freie“ Kinder ohne Bezahlung arbeiten, genauso wie es möglich ist, dass ein Sklavenkind für seine Arbeit entlohnt wird. In vielen Fällen stehen die eigenen Eltern dem Schulbesuch ihrer Kinder (insbes. der Mädchen) ablehnend gegenüber, wohingegen es „Herren“ gibt, die ihre Sklavenkinder zumindest zur Abendschule schicken.
Sklaverei ist in Westafrika bis heute aktuell. Allerdings werden heute Sklavereibeziehungen nur selten neu angebahnt, sondern es handelt sich in den meisten Fällen um Abhängigkeitsbeziehungen, die schon seit Generationen etabliert sind. Natürlich ist die Sklaverei seit der Kolonialzeit verboten – und gerade meine Nachbarn in der „Cité An IV“ in Ouagadougou sind sich (als Staatsbeamte) dieses Verbots sehr wohl bewusst. Wenn aber die Sklaverei (zumindest in den Städten) im Rückgang begriffen ist, so liegt das weniger an diesem offiziellen Verbot, sondern an den oben geschilderten ökonomischen Überlegungen: Die Aufnahme eines Sklaven bringt für den Herren Verpflichtungen mit sich, die er bei der Beschäftigung eines Lohnarbeiters nicht eingeht. In einer Realität ohne Kündigungs-, Kranken- und Arbeitsschutz befinden sich die „normalen“ Lohnarbeiter häufig in einer wesentlich schlechteren praktischen (wenn auch nicht rechtlichen) Situation als die Sklaven.
So bedauerlich es auch ist, dass es Sklaverei in Westafrika nach wie vor gibt, entscheidender ist doch etwas anderes: Dass nämlich Kwama, Fati, Awa und all die anderen, seien sie nun Sklaven oder „Freie“, lernen, dass sie Rechte haben und dass sie diese artikulieren dürfen. Und auf der anderen Seite müssen die Erwachsenen, vor allen Dingen die Familienchefs, begreifen, dass sie Verantwortung tragen: für ihre Kinder, für ihre Angestellten – und, solange es diese noch gibt, für ihre Sklaven.
Reikat, Andrea (2002): Das „naam“ oder „der Wille zur Macht“. Der Fall des Königs von Tenkodogo (Burkina Faso, Westafrika). In: Paideuma 48, S. 77-99.
Reikat, Andrea (2002)(Hrsg.): Leben in Westafrika. Frankfurt, Sonderforschungsbereich 268 „Westafrikanische Savanne“.
Reikat, Andrea; Zacharie Minougou (2004): Au carrefour des histoires. Traditiones orales de la région Yana (Burkina Faso). Köln: Verlag Rüdiger Köppe.
Dr. Andrea Reikat ist Privatdozentin für „Historische Ethnologie“ an der „Johann Wolfgang Goethe-Universität“ in Frankfurt/M., z.Zt. an der Universität Ouagadougou in Burkina Faso (Westafrika). Seit 1992 jährlich Feldforschungen in Burkina Faso und Benin.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008