AUF BESUCH IM LAND VON

Von Sklaven und Touristen in Gambia

Von Gerda Kroeber-Wolf

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NO MORE SLAVERY. Foto: Gerda Kroeber-Wolf

Übergangslos wechsele ich vom winterlichen Frankfurt in ein Dorf im westafrikanischen Gambia. Im Flugzeug habe ich angefangen, Alex Haleys Roman „Roots“ zu lesen. Viele Szenen, die Haley vor allem auf den ersten 200 Seiten über das Leben seines Urahnen Kunta Kinte beschreibt, der vor sieben Generationen im westlichen Gambia, in dem Dorf Juffure, aufwuchs, kommen meinen ersten Eindrücken vom heutigen Leben in einem Dorf in Ostgambia überraschend nahe.
Haley schildert die Landschaft der Savanne in der Regen- und Trockenzeit, er beschreibt die Felder, auf denen damals wie heute Erdnüsse, Mais, Hirse und Reis angebaut werden. Auch die Häuser - runde Lehmhütten – mit ihren kegelförmigen Dächern aus Elefantengras findet man noch immer in den Dörfern Gambias. Und die Drei-Steine-Öfen, auf denen die Frauen in Juffure bereits im 18. Jahrhundert mit Feuerholz ihre Mahlzeiten zubereiteten, nutzt man im Landesinneren von Gambia noch heute. Ausführlich stellt Haley im ersten Teil seines Romans die Kultur und Religion der Mandinka (Malinke) dar. Er beschreibt das Schicksal einer afroamerikanischen Familie über mehrere Generationen hinweg. Der Autor betont, er zeichne in „Roots“ die Geschichte seiner eigenen Familie nach und Held seines Romans ist Kunta Kinte. 1787 - im Alter von 17 Jahren – wurde dieser von Sklavenjägern verschleppt, nach Amerika verfrachtet und dort an einen Farmer der Südstaaten verkauft.

Die Authentizität dieses Romans, der zu einem Bestseller und auch verfilmt wurde, haben Literaturwissenschaftler und andere immer wieder stark angezweifelt und kritisiert. Dennoch ist das Buch für Gambia ein Glücksfall. Fast jeder kennt dort heute den Namen Kunta Kinte und weiß eine Beziehung zwischen dem Buch und dem Dorf Juffure herzustellen. Allerdings habe ich niemanden in Gambia getroffen, der den Roman tatsächlich gelesen hat. Kunta Kinte und das Dorf Juffure sind heute zum Markenzeichen des gambischen Tourismus geworden.

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Gambia 2004. Im Dorf Kerewan Samba Sira. Foto: Gerda Kroeber-Wolf

Mit dem Erscheinen des Buches ab den 1970er Jahren setzte in Gambia ein Touristenstrom von Afro-Amerikanern ein. Auch die westliche Tourismusindustrie wusste Kunta Kinte für sich zu nutzen. Sie bietet sogenannte „Roots-Exkursionen“ an, geführte Touren - verbunden mit einer mehrstündigen Bootsfahrt über den Gambia-River in das Dorf Juffure. Dieses avancierte sehr schnell zum bekanntesten Dorf in Gambia und ganz Westafrika. Auf dem Weg dorthin stehen noch zwei weitere Orte zur Besichtigung (Albreda und James Island) an - ehemalige Handelsstationen, an denen man Sklaven aneinandergekettet gefangen hielt und sie dort auf den Abtransport nach Amerika warten ließ.

Für jeden Gambia-Pauschaltouristen ist die „Roots“- Tour ein Muss. Selbst als Einzelreisende wird man – vor allem im Bereich der Hauptstadt Banjul - häufig angesprochen mit der Frage und dem Angebot: „Do you like me to show you the slave-house and the village of Kunta Kinte? I can make you a very cheap price“. Einzelne Gambianer wollen die Reisenden gerne selbst gegen Bezahlung an die Stätten der Sklaverei führen und sich damit ein Zubrot verdienen zu ihrem ansonsten sehr niedrigen (oder auch nicht vorhandenem) Einkommen. Somit versucht das Land auch für sich davon zu profitieren, dass Haleys Roman das Interesse der Weltöffentlichkeit auf Gambia, das kleinste Land Afrikas, gelenkt hatte.

Die Geschichte der Sklaverei, die Haley am Beispiel von Kunta Kinte und seinen Nachkommen beschreibt, ist sehr bewegend. Was neu an diesem Buch war, als Haley es in den 70er Jahren veröffentlichte, ist, dass er Frauen und Männern in der Sklaverei, abgeschnitten von sozialen Bindungen und einer eigenen Familiengeschichte, so etwas wie kulturelle Identität gab, die heute auch deren Nachkommen für sich beanspruchen können. Haley spannte einen Bogen von Afrika nach Amerika und wieder zurück. Er recherchierte in Archiven und Bibliotheken, reiste nach Afrika, befragte dort Historiker und Griots (die in ihren Liedern und Erzählungen afrikanische Geschichte bewahren und von einer Generation an die andere weitergeben). Auf diese Weise fand er das Dorf Juffure. Er machte es zum Symbol für die unmenschliche Epoche der Sklaverei, und das ganze Dorf lebt heute vom Tourismus und hat einträgliche Einnahmen.

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"SLAVE TRADE MONUMENT BUILDING / JanJangBureh / SLAVE MASTERS RESIDENT OFFICE / SLAVES UNDERGROUND ROOM / TIP BOX AVAILABLE FOR ANY OFFER". Foto: Gerda Kroeber-Wolf

Auch im östlichen Gambia – nicht weit von dem Dorf entfernt, in dem ich als Gast in einer Fulbe - Familie lebe – erinnert auf Mac Carthy Island im Gambia River bei Georgetown eine Steinruine an die Zeit der Sklaverei. Mit dem Buschtaxi fahre ich dorthin, setze mit der Fähre auf die Insel über und gehe zu Fuß nach Georgetown, einem winzigen verschlafenen Ort. Schon lange vor Beginn der Kolonialzeit waren die Insel und Georgetown ein Umschlags- und Handelsplatz im Landesinneren. „Sklavenhaus“, steht dort auf dem Schild vor einer völlig heruntergekommenen Ruine, deren Wände über und über vollgekritzelt sind mit Parolen – zumeist von Afroamerikanern, die Gambia, die Heimat von „Roots“ bereisten. „Hallo, ich komme aus der Karibik und gehöre zu Euch“, kann man dort lesen, oder: „Nie wieder Sklaverei“ – „Es lebe Black Power“ – „Freiheit für alle Menschen“ – „black is beautiful“. Touristisch gibt es an diesem Ort so gut wie nichts zu sehen. Da kommen zwei Schüler auf mich zu und fragen mich, ob ich mir den Keller der Ruine anschauen wolle. Wenn ja, würden sie ihren Großvater holen. Ich bin skeptisch – was sollte ich in diesem verfallenem Gebäude schon sehen können? Doch ich sage zu, der Großvater kommt, schließt den Keller auf und im Schein von mehreren Kerzen entdecke ich, dass es in dem gemauerten, dunklen Keller eigentlich überhaupt nichts zu sehen gibt. Nur auf dem Boden gibt es ein rundes Loch, in dem Wasser steht und an der Decke zwei winzige Schlitze, durch die spärliches Licht fällt. Der alte Mann setzt sich auf einen kleinen Hocker und macht mir ein Zeichen, mich ebenfalls hinzuzusetzen. Dann beginnt er zu erzählen. Seine Enkel übersetzen in gebrochenem Englisch.

In diesem Raum, der maximal Platz für 30 Leute Platz bot, waren mindestens 150 Sklaven untergebracht, jeder in Eisenketten gefesselt oder in ein Joch eingespannt. Er zeigt auf die Lichtschlitze in der Decke, durch sie wurde einmal am Tag Nahrung in den Keller geschüttet. Er beschreibt, dass jedes Mal ein Tumult stattgefunden haben musste, wenn jeder der Gefangenen versuchte, von dem Essen etwas abzubekommen. Die Sklaven in der Mitte, die sich ohnehin kaum bewegen konnten, hatten keine Chance an dass Essen heranzukommen und verhungerten. Tote Sklaven wurden einmal am Tag aus dem Keller geholt und gleich nebenan in den Gambia River geworfen, wo die Krokodile schon warteten. Das runde Loch im Kellerboden stellte eine direkte Verbindung zum Fluß her. Wenn dieser hohes Wasser führte, konnten die Sklaven aus diesem Loch trinken. In den trockenen Monaten jedoch verdursteten sie. Aufsässige Sklaven kamen in winzige Zellen, die der Mann mir im Kerzenschein zeigt. In sie wurden bis zu fünf Personen hineingefercht. Holte man sie nicht rechtzeitig wieder heraus, erstickten sie dort.

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"WELCOME TO THE / REAL SLAVE / HOUSE WITH UNDER / GROUND IN / JanJangBureh SINCE / 1823 / NO MORE SLAVERY". Foto: Gerda Kroeber-Wolf

Der Mann spricht mit leiser Stimme in diesem dunklen, feuchten Keller, der völlig leer ist und ich werde immer mehr in seine Geschichten hineingezogen. Die Qual der ehemals hier gefangen gehaltenen Menschen wird durch ihn in diesem Raum auf einmal präsent. Er und seine beiden Enkel erzählen ganz unspektakulär, aber ihre Erzählungen, sicherlich ohne gezielte Intention, wirken auf mich wie eine Inszenierung. Sie sprechen in einer Art und Weise, wie vermutlich immer schon Geschichten in Gambia erzählt wurden und immer noch werden.

Auf dem Rückflug von Gambia lese ich den Rest der Geschichte von „Roots“. Ich habe das Gefühl, weite Teile der Geschichte, die die Gefangennahme und den Abtransport der Sklaven aus Westafrika betreffen, bereits zu kennen. Diese hatte mir der Mann im Keller schon sehr viel dramatischer erzählt, als der amerikanische Autor in seinem umfangreichen Buch. Der alte Mann in Georgetown hatte diesen Roman sicherlich nicht gelesen. Beim Abschied hatte er mich noch auf eine Kiste hingewiesen mit einem Schlitz im Deckel (eine Art Spendenbox), die ich zu bedienen hatte. So leben sowohl dieser Mann und seine Familie als auch der Autor in den USA von den Geschichten über die Sklaverei.

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"WE THE SONS AND DAUGHTERS / OF SLAVES SHIPPED / TO THE WEST INDIES / BARBADOS / HAVE RETURNED TO / LIBERATE OUR BROTHERS / AND SISTERS FROM / SPIRITUAL SLAVERY". Foto: Gerda Kroeber-Wolf

Wenn man in Gambia durch das Land reist, sollte man sich Zeit nehmen und zuhören. Die Geschichten, die man in Haleys Buch über den Weg der Sklaven nach Amerika lesen kann, wurden in Gambia schon immer erzählt. Sie sind Teil der oralen Traditionen des Landes und Teil der Identität seiner Menschen. Indem Haley aus diesen Geschichten ein Buch gemacht hat, entdeckten auch die Menschen in Gambia die Einzigartigkeit und die kulturelle Bedeutung ihrer eigenen Geschichten aus jener Zeit. Heute beziehen sie sich indirekt auf Haleys Buch, um Besuchern aus aller Welt ihre eigenen Geschichten aus jener Zeit zu erzählen, die in den einzelnen Regionen des Landes sicherlich auch verschieden ausfallen.

Zum Beispiel bei Nachkommen befreiter Sklaven, die Ende des 18. Jahrhunderts aus Großbritannien und Amerika nach Westafrika zurückgebracht wurden, und die heute in der Region um die Hauptstadt Banjul leben. Sie nennen sich Aku. Sie waren einst aus allen Regionen Afrikas verschleppt worden und ihre einzige Gemeinsamkeit war und ist ihr Schicksal. Gambianer betrachten sie als eine eigene ethnische Gruppe, die ein kreolisiertes Englisch spricht, das schwer zu verstehen ist. Und sicherlich leben in jeder einzelnen dieser Aku-Familien Geschichten weiter, wie Haley sie in „Roots“ beschrieben hat.

Alex Haley: Roots, 1976; deutsche Ausgabe „Wurzeln“, 2001, Fischer-Verlag


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008