Von Ulrike Krasberg
Die Ausstellung „Sevrugian. Bilder des Orients in Fotografie und Malerei 1880-1980“ zeigt sowohl Fotografien von Antoine-Khan Sevruguin als auch Gemälde seines Sohnes André „Darvish“ Sevrugian auf dem Hintergrund der Geschichte der armenischen Künstlerfamilie Sevrugian. Fotografien – auch solche aus der Anfangszeit der Fotografie – entsprechen ganz und gar europäischen Sehgewohnheiten. Gemälde aber, die wie von Darvish Illustrationen von – in diesem Falle persischer – (Welt-) Literatur sind, sind hierzulande von ihren ästhetischen Symbolen her weniger verständlich und damit nicht auf den ersten Blick zu entschlüsseln.
In ethnologischen Museen wird schon seit langem außereuropäische Kunst ausgestellt in der Regel mit Erklärungen zum kulturellen Stellenwert dieser Kunst in ihren Entstehungsländern. Damit unterscheiden sie sich von Kunstmuseen, die ganz auf Erklärungen verzichten und auf eine universelle, individuell verstehbare Ästhetik setzen. Seit einiger Zeit wird erneut diskutiert in welcher Form außereuropäische Kunst (alt oder modern), wenn sie nicht in und für den europäischen (modernen) Kunstmarkt geschaffen wurde, ausgestellt werden sollte.
2007 wurde im Leipziger Grassi-Museum zu diesem Thema die Tagung „Kunst oder Kontext? Präsentationsformen außereuropäischer Kulturen“ abgehalten. Die Beiträge (abgedruckt in Peideuma 54, 2008) diskutierten zum Beispiel das unterschiedliche Verständnis von Objekten (Bilder, Masken, Ritualgegenstände) beziehungsweise die veränderte Wahrnehmung ihrer Botschaft je nach dem, ob sie in einem Kunst- oder einem ethnologischen Museum ausgestellt wurden und je nach dem, in welchem weiteren Kontext der Ausstellung sie präsentiert wurden (Karl Heinz Kohl). Oder es ging um die Bedeutung, die exotische Objekte (vor allem aus Afrika) auf die Entwicklung der europäischen Kunst hatten, ohne dass sie selbst als Kunst anerkannt wurden (Peter Stepan). Der Beitrag von Bernhard Streck beschäftigte sich mit der Unvereinbarkeit von Kunst/Objekten, die von Künstlern im europäischen Kunstmarkt und für diesen geschaffen wurden und solchen, die ursprünglich in und für einen religiösen oder rituellen Kontext außerhalb Europas gemacht worden waren. Ein anderer Beitrag thematisierte am Beispiel einer Statue von der mexikanischen Göttin Coatlicue, die im Laufe der Jahrhunderte von der Göttin zum heidnischen Relikt, dann zum Furcht einflößenden Ungeheuer und schließlich zum Kunstobjekt wurde, wie in der Zeit sich wandelnde gesellschaftliche Rahmenbedingungen immer neue Aussagen im Gegenüber eines Objekts evozieren und ein Pendant in der Gleichzeitigkeit kulturell unterschiedlicher Modernen haben (Bernd M. Scherer).
Die Gemälde von André „Darvish“ Sevrugian, die in der Ausstellung gezeigt werden, fallen nicht unter diese in der Tagung diskutierten Bereiche, sie würden noch einen weiteren Bereich bilden. Man kann sie durchaus als Kunstwerke im europäischen Sinne (Darvish wurde an der Académie des Beaux Art in Paris zum Maler ausgebildet) bezeichnen, dennoch entziehen sie sich Kategorien europäischen Kunstschaffens. Das heißt aber nicht, dass sie als außereuropäische Kunst definiert werden können. Und die Frage nach der Gleichrangigkeit mit europäischer Kunst, wie sie oft an außereuropäische Kunstwerke gestellt wird, ist hier schon deshalb kein Thema, weil sie bedeutende Kunstwerke sind. Und fraglos können die Gemälde von Darvish auch unter rein ästhetischen Gesichtspunkten in ihrer künstlerischen Einmaligkeit betrachtet werden. Ihre Authentizität jedoch erschließt sich über die Wurzeln des armenischen Künstlers Darvish in der persischen Kultur.
Darvishs Werk steht in der Tradition der persischen Buchillustration; er illustrierte die Poesie des persischen Mittelalters, zum Beispiel das persische Nationalepos Schahname oder die Poesie islamischer Sufimeister. Darvish war höchst bewandert in der persischen Sufipoesie (daher auch der ihm von seinem Freundeskreis verliehe Beiname „Darvish“, der später sein Künstlername wurde). Schon sein Vater, der weltbekannte Fotograf Antoine-Khan Sevruguin, war intellektuell und emotional mit der persischen Kultur auf das Tiefste verbunden. Als Kind hatte Darvish oft Schahname-Rezitationsabende in seinem Elternhaus miterleben dürfen und diese eröffneten ihm früh die persische und islamische Poesie und Literatur: eine Quelle, aus der er sein Leben lang schöpfte. Zugleich waren Darvish und sein Vater Antoine-Khan aber auch Armenier. Sie waren und blieben ihr Leben lang Christen, hatten viele Verbindungen in die westliche Welt, aus der sie kulturell ebenfalls schöpften. Das Miteinander von östlicher islamischer Welt und westlicher christlicher Welt, wie es zum Beispiel im Alltag in der armenischen Diaspora in Teheran, in der beide geboren wurden und arbeiteten, gelebt wurde, bildeten beide Künstler auch in ihrem Oeuvre ab. Das Besondere in Darvishs Werk wird deutlich auf dem Hintergrund seiner – wie wir heute sagen würden – globalisierten Lebenszusammenhänge, wie sie schon vor mehr als 100 Jahren in armenischen Diasporafamilien üblich waren.
Darvish hat die persische Miniaturmalerei nicht als Anregung genommen im Sinne Picassos, der von den afrikanischen Dan-Masken inspiriert die europäische Stilrichtung des Primitivismus entwickelte. Er hat sich vielmehr bewusst in die Tradition der persischen Miniaturmalerei gestellt – weil sie Teil seiner kulturellen Identität als iranischer Armenier war. Aber er hat sie um Aspekte der europäischen Malerei erweitert, indem er durch helle und dunkle Farbgebung Perspektive andeutete und den Gestalten Emotionalität in Haltung und Mimik gab. Auch hat er sich nicht genau an die literarische Vorlage einzelner Szenen gehalten, wie es traditionell in der persischen Buchillustration üblich war und hat immer nur eine Szene – im Gegensatz zur Szenenvielfalt in persischen Miniaturen - in einem Bild dargestellt.
Seine Bilder weisen aus sich selbst über eine ausschließliche Betrachtung unter rein ästhetischen Gesichtspunkten hinaus. Denn jede seiner Illustrationen weist persische Schriftzeichen auf, Textstellen aus dem Schahname, die damit auf eine weitere - eben „schriftliche“, „literarische“ – Ebene hinweisen. Diese Schrift stellt die Gemälde in einen größeren kulturellen Zusammenhang. Des Farsi mächtige Besucher und Kenner des Schahname und der persischen Miniaturmalerei wissen um die Bedeutung der Schrift. Sie zitiert die Stellen im Schahname, die in den Bildern dargestellt werden. Für ein Publikum in Museen oder Galerien in Iran ist sofort deutlich, dass es sich hier um Illustrationen aus dem Schahname handelt - im Stil persischer Miniaturmalerei, aber um europäische Maltechniken erweitert. Für ein europäisches Publikum muss dieser Zusammenhang oder Hintergrund erst deutlich gemacht werden. Indem die Gemälde in der Ausstellung in den Kontext armenischer Geschichte und persischer Kultur gestellt werden, wird auf Aspekte der Bilder hingewiesen, die eine alleinige Betrachtung aus heutigem ästhetischem Blickwinkel wesentlich erweitern.
Ost-westliche Aspekte der Bilder André “Darvish“ Sevrugians
Der Kunsthistoriker Hans Belting schreibt in „Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks“ über die Bedeutung der Perspektive in der westlichen Kunst im Gegensatz zur künstlerischen Annäherung an das Undarstellbare in der islamischen Welt Bagdads. Das, was wir heute unter „(bildender) Kunst“ verstehen, ist in Europa entstanden, eng verbunden mit der europäischen Kulturgeschichte. Eine ihrer Wurzeln ist im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, vom theozentrischen zum anthropozentrischen Weltbild zu finden. Perspektive und Portrait wurden zum Ausdruck eines veränderten Weltbildes, indem nun nicht mehr Kirche und weltliche Obrigkeit das einzig gültige Erklärungsmodell menschlichen Lebens lieferten, sondern mehr und mehr das Individuum ins Zentrum des Lebens rückte. In der Folge entstand die wissenschaftliche Erkundung der Welt, die zwar immer noch als göttlichen Ursprungs angesehen, aber nun mehr und mehr als vom Menschen beherrschbar betrachtet wurde. Diese Anthropozentriertheit äußerte sich in der Kunst auch darin, dass nun ein Altarbild mit christlichen Motiven nicht mehr von den Malern einer Werkstatt gemeinsam und anonym geschaffen wurde, sondern ein Künstler als Urheber des Werks genannt wurde, wie auch bei Porträt-Bildern weltlicher Art, die nun aufkamen.
Während sich die europäische Kunst kontinuierlich vom theozentrischen Weltbild entfernte und zur Individual-Kunst entwickelte, basierte die außereuropäische islamische „Kunst“ weiterhin auf der inneren Verbindung zwischen Mensch und Schöpfer. Die arabische „Kunst“ sei eine Art wissenschaftliche Vermessung des Lichts, die europäische beruhe auf der Vermessung des Blicks (Perspektive), allerdings aufbauend auf arabischen Erkenntnissen dazu, schreibt Hans Belting. Die arabische Sehtheorie geht davon aus, dass der Prozess des Sehens erst im Menschen passiert, nicht schon im Auge. Das Licht, welches göttlichen Ursprungs ist, trifft den Menschen über das Auge in seinem Inneren, schafft damit eine Verbindung zwischen Mensch und Schöpfer (eine ähnliche Verbindung kann auch die Liebe herstellen, Duft, Süße, Poesie oder Musik). Es sind die Lichtstrahlen, die in der arabischen Kunst - mathematisch vermessen – Grundlage für Architektur, Raumgestaltung und Verzierung sind und sozusagen eine „abstrakte Spiritualität“, Imaginationen im Bereich der inneren Sinne erzeugen. Weil die möglichst perfekte künstlerische Umsetzung von Lichtstrahlen nicht der Individualität von Künstlern bedurfte, sondern des perfekten Könnens ihres Handwerks, wird hier von Europäern eher von „Kunsthandwerk“ als von „Kunst“ gesprochen.
Persische Miniaturen dagegen werden von Europäern durchaus als Kunst wahrgenommen, obwohl auch sie auf den Prinzipien des „inneren Sehens“ beruhen. Wie Belting schreibt, sind die persischen Buchillustrationen eng an den Text des Buches gebunden, sie zeigen nicht mehr oder anderes als der Text beschreibt. „Denn Bilder dieser Art gaben keine persönliche Erfahrung wieder, sondern ein kollektives Wissen. Man erkannte im Bild wieder, was man vom Text wusste, und beurteilte sogar die Maler danach, wie gut sie den Text verstanden hatten. Die Maler wiederholten ihrerseits eine eingeübte Art und Weise, einen bestimmten Text zu illustrieren, und taten es so, dass man ihre Vorbilder wieder erkannte.“
Die Illustrationen des Schahname zeigen die - nach bestimmten Regeln malerisch gestalteten - Helden nicht als Individuen, sie sind vielmehr die „Leerformeln“, die ein Betrachter mit seinen Imaginationen füllen kann, die durch die Geschichte hervorgerufen werden. Die Illustrationen waren gleichsam Panoramen, bei denen alle Einzelheiten die gleiche Bedeutung hatten und gleichgroß oder gleichklein nebeneinander standen. So korrespondiert die bildliche Gestaltung von Szenen aus dem Schahname mit der literarischen Erzählform des Epos: Zusammengetragen aus mündlich tradierten Erzählformen (in einem bestimmten Versmaß, in „erhabenem“ Stil, mit typischen Handlungselementen und sprachlichen Formeln), die aus einer unparteiischen allwissenden Perspektive dargeboten werden, wird von Menschen berichtet, die als mythische Vorfahren der heutigen Menschen gesehen werden, also keine einmaligen Individuen sind, sondern sich aus allgemein gültigen menschlichen Charakteren - im Positiven wie im Negativen - zusammen setzen. Auch hier zielt die erzählerische Darbietung auf die Imagination des „inneren Sehens“.
„Inneres Sehen“ beschreibt auch Orhan Pamuk in seinem Roman „Rot ist mein Name“. Die Geschichte von der Sehnsucht der Buchillustratoren nach Blindheit erzählt davon: Viele Illustratoren wurden im Alter blind. Diese Blindheit wurde als eine Gnade Allahs gesehen, als Zeichen, dass der Maler die höchste Stufe der Kunst erreicht hatte. Allerdings wurde gesagt, dass auch blinde Buchillustratoren noch malen konnten, weil sie aus einem inneren Fundus an Bildern schöpfen konnten, die ihre Hand – trainiert durch jahrzehntelanges Malen der immer gleichen Motive – blind auf das Papier zeichnen konnten und so dem „Sehen“ des Schöpfers Allah nahe gekommen waren.
Ein Zugang zur Authentizität der Bilder wird in der Ausstellung dadurch erreicht, dass in einem Bereich der familiale Hintergrund der Künstler, insbesondere ihre kulturelle Identität, die geprägt ist durch die persische Kultur, Kunst und Literatur thematisiert wird. Auf dem Hintergrund der Familiengeschichte der beiden Künstler Antoine-Khan und Darvish war es möglich, auf die Authentizität der Kunstwerke hinzuweisen und für den Betrachter wahrnehmbar zu machen. Denn in Kunstwerke fließen nicht nur die Persönlichkeit des Künstlers ein, sondern auch seine kulturelle Lebenswelt und die Bedingungen seiner Zeit. All das repräsentiert in dieser Ausstellung die Familien- und Künstlergeschichte der Sevrugians. Sie verweist auf die in ihrem Alltagsleben eng miteinander verbundenen verschiedenen kulturellen Traditionen (christlich – islamisch, iranisch – armenisch) und damit indirekt auch auf das heutige globale Miteinander und die gegenseitige Durchdringung verschiedener kultureller Traditionen und Hintergründe. Das künstlerische Werk von Vater und Sohn als solches wiederum definiert diese „orientalische“ Familie als eine absolut ebenbürtige in Bezug auf europäische Familien jener Zeit.
Gesellschaftliche Entwicklungen lassen immer wieder andere und neue Fragestellungen an historische oder fremde Kulturen entstehen. Während zur Hochzeit der abstrakten Malerei in der modernen europäischen Welt, figürliche Malerei nicht zeitgemäß erschien, hat sich diese Sichtweise nun geändert. Die figürliche Malerei eines Darvish mit ihrem spezifischen kulturellen Hintergrund scheint heute ein „Material“ (zum Beispiel in Bezug auf theozentrische und anthropozentrische Weltsichten) zu sein, das spezifischen interkulturellen Fragestellungen eine neue Richtung geben kann.
Weiterführende Literatur
Belting, Hans (2008): Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks. München: C. H. Beck
Pamuk, Orhan (2007): Rot ist mein Name. Frankfurt/M: Fischer
Kohl, Karl-Heinz (2008): Kontext ist Lüge. In: Peideuma. Mitteilungen zur Kulturkunde. 54, S. 217 – 222
Stepan, Peter (2008): „Primitivismus“. Sechs Thesen zu einem unzeitgemäßen Thema. In: Peideuma. Mitteilungen zur Kulturkunde. 54, S. 223–228
Streck, Berhard (2008): Anonyme Kreativität. Zur Eigenständigkeit des ethnologischen Kunstbegriffs. In: Peideuma. Mitteilungen zur Kulturkunde. 54, S. 229–232
Scherer, Bernd, M. (2008): Kunst und Kontext. In: Peideuma. Mitteilungen zur Kulturkunde. 54, S. 233–238
Zur Autorin
Dr. Ulrike Krasberg, Ethnologin. Privatdozentin am Institut für Vergleichende Kulturforschung, Universität Marburg. Feldforschungen in Griechenland und Marokko.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008