Von Katharina Märcz
Die Erforschung der eigenen Familiengeschichte ist für viele Menschen ein spannendes Thema. Aus welcher Familie stamme ich? Wer waren meine Vorfahren, in welchen Zeiten und an welchen Orten lebten sie? Ahnenforschung ist das neue Hobby der Deutschen, meldete die Süddeutsche Zeitung im November 2008. Aber nicht nur die eigene Familie ist von Interesse, auch das Eintauchen in fremde Familiengeschichten finden wir spannend und reizvoll. Wir verfolgen gerne die Lebenswege anderer, schauen mit Spannung auf biografische Wendepunkte, fühlen mit bei Schicksalsschlägen, wollen in Gesichtern und Geschichten lesen – vielleicht, um im Spiegel der Anderen uns selbst zu begegnen.
Diese Möglichkeit bietet die Ausstellung „Sevrugian. Bilder des Orients in Fotografie und Malerei, 1880-1980“ in der Galerie 37 des Museums der Weltkulturen. Der Besucher kann hier die Werke zweier armenischer Künstler, Vater und Sohn, im Kontext ihrer Lebens- und Familiengeschichte kennen lernen. Schon die ersten Ausstellungsgespräche zeigten, dass die Besucher sehr leicht Zugang zur Ausstellung finden und sie durchweg positiv beurteilen. Offensichtlich gelingt hier etwas, worum man sich anderswo vergeblich, manchmal auch zu wenig bemüht: Die Ausstellung spricht den Besucher auf emotionaler Ebene an und bringt ihn mit sich selbst in Berührung.
Es ist das erste Mal, dass Fotografien von Antoine-Khan Sevruguin und Illustrationen seines Sohnes André Darvish Sevrugian gemeinsam in einer Ausstellung präsentiert werden und dass Bezug auf ihren familiären Hintergrund genommen wird. Keiner der Besucher, die ich am Anfang eines Ausstellungsgesprächs danach fragte, hat jemals zuvor etwas von den beiden Künstlern gehört. Auf die Frage, was sie denn in die Ausstellung geführt habe, antworteten die meisten, es sei das Ausstellungsplakat gewesen. Andere waren durch die Presse aufmerksam geworden oder gehörten zum Stammpublikum des Museums und besuchten grundsätzlich alle Ausstellungen des Hauses. So ist es sinnvoll, gleich im Eingangsraum anhand einer Übersichtstafel die beiden Künstler kurzbiografisch vorzustellen und den Besuchern die Familienverhältnisse sowie die Herkunft der unterschiedlichen Nachnamen von Vater und Sohn zu erklären.
Antoine-Khan Sevruguin fotografierte Land und Leute Irans zu einer Zeit, als in Teheran noch die Pferdestraßenbahn fuhr und der Schah auf dem Pfauenthron saß. Für seine herausragenden Leistungen auf dem Gebiet der Fotografie wurde er auf internationalen Fotoausstellungen in Europa mit Medaillen und Anerkennungen geehrt. Später während der Revolution verlor er einen Großteil seiner Glasplatten-Negative und stand vor den Trümmern seines Lebenswerkes. In der Galerie 37 sind rund 50 seiner Fotografien zu sehen, die als Papierabzüge in der Familie weitergegeben wurden und sich heute im Besitz des in Heidelberg lebenden Enkels Dr. Emanuel Sevrugian befinden. Herrn Sevrugian ist es zu verdanken, dass diese Ausstellung zustande kommen konnte. Er hat die Werke seines Vaters und Großvaters sowie private Familienfotos zur Verfügung gestellt und der Ausstellungsmacherin Dr. Ulrike Krasberg in vielen Gesprächen von seiner Familie erzählt. Noch mehr als von seinem Großvater ist ihm natürlich von seinem Vater André in Erinnerung geblieben, der 1996 in Stuttgart verstarb.
André Darvish Sevrugian erbte die künstlerische Ader seines Vaters Antoine-Khan. Er studierte Malerei an der Academie des Beaux Arts in Paris und wurde 1934 in Teheran bekannt durch seine 416 Illustrationen des persischen Nationalepos Schahname, von denen 22 in der Galerie 37 ausgestellt sind. Die Wirren des Zweiten Weltkrieges führten André Darvish Sevrugian schließlich mit Frau und Kind nach Deutschland, wo er die restlichen gut 60 Jahre seines Lebens verbrachte. Hier hat er sich mit der Poesie des persischen Dichters Omar Chajjam und des armenischen Minnesängers Sajat-Nowa beschäftigt und diese malerisch umgesetzt. Auch von diesen Kunstwerken sind einige in der Galerie zu sehen.
Besonders die jungen Ausstellungsbesucher finden es spannend, zu sehen, wie der Maler André als Kind ausgesehen hat. Eine Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt ihn mit fünf Jahren, wie er in mittelalterlicher Rüstung dasitzt, als sei er eben von einem Kampf zurückgekehrt, in dem er genau wie Rostam, der große Held des Schahname, die persischen Könige vor bösen Ungeheuern gerettet hat. Schon als Kind war André fasziniert von den Abenteuer- und Heldengeschichten des Schahname, hörte aufmerksam zu, wenn im Freundeskreis seines Vaters Rezitationen stattfanden und spielte die Szenen begeistert nach. – Solche Anekdoten gefallen den Ausstellungsbesuchern, bringen sie zum Schmunzeln und wecken ihr Interesse und ihre Anteilnahme. Ältere erinnern sich an die eigene Kindheit, als sie lange Nachmittage mit Cowboy-und-Indianer-Spielen verbrachten.
Ob André, wie er eine Moschee malt, oder Antoine als grauhaariger Patriarch im Kreise seiner Großfamilie – die kleinformatigen, teils vergilbten und eingerissenen Fotografien in den ersten Räumen der Galerie 37 vermitteln den Eindruck, dass man hier in die private Welt einer Familie eingelassen wird. Und da ein jeder aus eigener Erfahrung weiß, dass die Familie ein Kosmos für sich ist, mit eigenen Regeln und Gesetzen, mit Traditionen, Geschichten und Geheimnissen, folgen die meisten Besucher dieser Einladung respektvoll, diskret und mit freundlicher Neugierde.
Die Sevrugians - wie viele andere Armenier auch - betrachteten die Familie als geschlossenen Raum, grenzten sie ab vom öffentlichen, gesellschaftlichen Leben. Die armenisch-christliche Identität wurde als Privatsache behandelt, und so wurden kulturelle Traditionen und die armenische Sprache nur im häuslichen, familiären Rahmen gepflegt und an die nächste Generation weitergegeben. Emanuel Sevrugian erzählte den Journalisten während der Pressekonferenz zur Ausstellung: „Wissen Sie, ich habe in meiner Kindheit gelernt, dass man über drei Dinge nicht spricht – über Politik, über Religion und über die Familie.“ – Sicher war dies das Sevrugiansche Rezept für ein angenehmes und erfolgreiches Leben in der armenischen Diaspora in Teheran. Hinzu kamen eine große Aufgeschlossenheit und die Liebe zur persischen Kultur. Antoine und André waren in Persien zuhause; sie hatten viele persische Freunde und waren beide der islamischen Mystik stark zugeneigt. Spielend leicht, so scheint es, verknüpften sie verschiedene Lebensweisen und Weltbilder und nutzten dies in schöpferischer Weise für ihre Kunst. Die Situation, als Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft zu leben und die Herausforderung, die eigene Identität im Wechselspiel von kultureller Anpassung und Bewahrung mitgebrachter Traditionen zu entwickeln, kennen manche Ausstellungsbesucher aus persönlicher Erfahrung. Leicht entwickeln sich hier interessante Gespräche, und manch einer neigt dazu, in den Sevrugians ein Vorbild zu sehen. So meinte eine Besucherin, angeregt auch von der gegenwärtigen öffentlichen Debatte über den Integrationswillen von Zuwanderern: „Es wäre wünschenswert, wenn die Türken hier in Deutschland ein bisschen mehr so wären wie die Sevrugians!“. Ob ein solcher Vergleich legitim ist, bleibt selbstverständlich dahingestellt.
Die Sevrugians waren wohl gut integriert, wenn man es so ausdrücken möchte. Anders wäre es nicht denkbar, dass Antoine-Khan als offizieller Hoffotograf den Schah auf seinen Jagdausflügen begleitete, bei Ministern zu Festlichkeiten eingeladen war, dass Privatleute und Wissenschaftler sein Fotoatelier aufsuchten und sich Teheraner Straßenverkäufer und Bettler bereitwillig von ihm fotografieren ließen.
Viele Besucher sagen, die Fotografien von Antoine-Khan Sevruguin seien das Highlight der Ausstellung. Tatsächlich nehmen sich die meisten mehrere Minuten lang Zeit, nah an die Bilder heranzutreten und eines nach dem anderen genau zu betrachten. Manchmal werden Fragen zu den fotografierten Situationen und Personen gestellt, die selten einfach zu beantworten sind, entweder weil uns der Fotograf keine genaueren Informationen hinterlassen hat oder weil wissenschaftliche Forschungen, die Licht ins Dunkel bringen könnten, noch ausstehen. So vertieft sich mancher Besucher während des Ausstellungsgesprächs derart in die Bilder, dass er den Anschluss an die Gruppe verliert. Andere kehren nach Ende des Gesprächs zu den Werken, die sie besonders interessieren, zurück und suchen noch einmal den persönlichen Zugang oder das stille, ästhetische Erlebnis.
Es fällt auf, dass meist die gleichen Fotografien das Interesse der Betrachter wecken: Es sind die Porträtaufnahmen der jungen Frauen verschiedener Ethnien, bestimmte Alltagssituationen der persischen Landbevölkerung und die Teheraner Straßenszenen. Lobend wird hervorgehoben, dass man hier als Betrachter Einblicke in frühere und fremde Lebenswelten gewinnt; die Porträts werden für „sehr authentisch“ befunden, Gesichter und Körpersprache der porträtierten Menschen seien „spannend“ und „faszinierend“. Neben dem künstlerischen Aspekt tragen sicher ihr hohes Alter und damit verbunden die Art und Weise, wie sie einst hergestellt wurden, zur Aura der Werke bei. Im digitalen Zeitalter fasziniert es uns, welch Arbeitsaufwand vor 130 Jahren betrieben werden musste, um ein einziges Foto zu machen. Dass mit diesen frühen technischen Verfahren eine solche Klarheit und Tiefe erreicht werden konnte, begeistert viele Betrachter. So haftet den Werken von Antoine-Khan Sevruguin auch viel vom Geist der Anfänge an, als ein lang gehegter Traum Wirklichkeit wurde, nämlich eine Momentaufnahme des Gegenwärtigen zu erstellen und dauerhaft zu konservieren. Antoine-Khan hat das Medium Fotografie genutzt, um das Persien, wie er es kannte, zu dokumentieren und dabei seine Bilder nach künstlerischen Aspekten zu gestalten.
Da die Ausstellung mit zehn Räumen, über 120 Bildern und all den verschiedenen Themen sehr viele Gesprächsanlässe bietet, bleiben am Ende eines Ausstellungsgesprächs meist nicht mehr als zehn Minuten, um das Hochparterre zu besuchen und dort die Schahname-Illustrationen von André Darvish Sevrugian anzuschauen. Nach ein paar einführenden Worten zum Schahname, dem persischen Nationalepos aus dem 11. Jahrhundert, werden ein bis zwei Bilder genauer vorgestellt. So erhalten die Besucher einen Zugang zu dieser Kunst und können sich nach Ende des Ausstellungsgesprächs mit Hilfe eines Booklets selbständig mit den Bildinhalten beschäftigen.
Anders bei den Ausstellungsgesprächen mit Kindern. Hier liegt der Schwerpunkt auf den Gemälden André Darvish Sevrugians und den märchenähnlichen Geschichten des Schahname. Zunächst hören die Kinder im Eingangsraum die Lebensgeschichte von Abū l-Quasim Ferdousi, der die Heldengeschichten der alten persischen Könige aufschrieb und am Ende von Sultan Mahmud für seine Mühen, statt mit Gold belohnt zu werden, nur Silbermünzen erhielt. Dreißig Jahre lang widmete sich Ferdousi der Arbeit am Schahname, dem „Buch der Könige“, und der Legende nach war er gerade gestorben, als der Sultan seinen Fehler einsah und dem Dichter doch noch eine Karawane mit Gold schickte. Ein Gemälde zeigt den Dichter Ferdousi als Greis mit Gehstock und einem Buch in der Hand.
Die Kinder interessieren sich sofort für Ferdousis Schicksal, stellen viele Fragen und diskutieren darüber. Sie erfahren, dass fast alle Kinder im Land Iran Ferdousis Geschichten kennen. Nun wird der Bogen zu André Darvish Sevrugian gespannt, der das Königsbuch ebenfalls von klein auf liebte, Szenen daraus malte und später dafür sogar mit einem Orden geehrt wurde. Ein Foto zeigt André als Kind in mittelalterlicher Rüstung, ein anderes als Erwachsenen mit Anzug, Krawatte und angestecktem Orden. Wenn die Kinder anschließend die Treppen zum Hochparterre hinaufsteigen und die großen, farbigen Schahname-Illustrationen entdecken, haben sie also bereits eine Vorstellung davon, wer diese Bilder gemalt hat und dass sie Geschichten aus einem sehr alten Buch zeigen.
Was nun folgt ist ein detektivisches Suchspiel, bei dem die Kinder verschiedene Hinweise erhalten, die sie zu ausgewählten Bildern führen. So gilt es, einen Bildausschnitt zu finden, einen verdeckten Gegenstand zu ertasten, eine Riechprobe zu erraten und eine Rätselaufgabe zu lösen, um zu den gesuchten Bildern zu gelangen. Vor den Bildern werden die Kinder dann zu einer persönlichen Auseinandersetzung angeregt. Manche dargestellten Szenen erschließen sich ihnen sehr gut, etwa die Geschichte vom eitlen König Kayka’us, der seinen Thron an eine Schar Vögel bindet, damit diese ihn in den Himmel tragen, und der am Ende herunterfällt, weil den Tieren die Kräfte schwinden. Bei anderen Bildgeschichten reagieren die Kinder mit Skepsis und Unverständnis. So können sie nicht verstehen, warum Rostam, der Held des Schahname, einem armen Feldwächter einfach die Ohren abschnitt. „Man kann doch reden!“, meinte ein sechsjähriger Junge. Er fand, Rostam sollte für diese Tat ins Gefängnis geworfen werden. Ein anderes Kind beschäftigte vielmehr die Frage, ob man ohne Ohren überhaupt noch hören kann.
Grundsätzlich verstehen Kinder die detailgenaue Bildsprache der ausgestellten Werke sehr gut; sie entwickeln schnell Gedanken und Gefühle dazu und leicht entstehen Gespräche. In einem Fall war ich selbst erschrocken darüber, welche Dramatik die Bilder enthalten und welche Emotionen sie dadurch bei manchen Kindern auslösen können.
Ein achtjähriges Mädchen brach in Tränen aus, als ich die Geschichte von Zal erzählte, der als Baby von seinem Vater verstoßen wurde und beim Vogel Simurg aufwuchs. Wie im Schahname berichtet wird, dauerte es lange, bis der leibliche Vater seinen Sohn aufsuchte und sich bei ihm entschuldigte. Im Gespräch mit der Erzieherin stellte sich später heraus, dass das Mädchen bei dieser Geschichte deshalb zu weinen anfing, weil sie Sehnsucht nach ihrem eigenen Papa hatte, den sie seit der Trennung ihrer Eltern lange nicht mehr gesehen hat. Gerade Familiengeschichten sind für viele Kinder ein sensibles Thema, dem man sich nur vorsichtig nähern sollte. Abgesehen davon gibt es in der Ausstellung auch Schahname-Illustrationen, die sich aufgrund ihrer grausamen und blutigen Darstellungen gar nicht für Gespräche mit Kindern eignen.
Ob Jung oder Alt, meiner Erfahrung nach vermittelt die Ausstellung „Sevrugian. Bilder des Orients in Fotografie und Malerei, 1880-1980“ nicht nur intellektuelles Wissen, sondern bietet große ästhetische Genüsse und vor allem die Möglichkeit, im Spiegel des Anderen mit sich selbst in Berührung zu kommen. Und das macht eine gute Ausstellung aus.
Zur Autorin
Katharina Märcz, M.A., Ethnologin, Religionswissenschaftlerin und Pädagogin
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008