Von Nadine Schober
Echte Sevruguins! Diese Erkenntnis löste mit einem Schlag die Rätsel um ungeklärte Fotografien und abgelichtete Personen, die bereits seit mehr als 100 Jahren wohlbehalten im Museum für Völkerkunde Hamburg ihrem Betrachter entgegenblicken. Die Tatsache, den Fotografen identifizieren zu können, war ein bewegendes Erfolgserlebnis im Alltag der Fotoabteilung des Museums in der ich als freie wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Team mit der Aufarbeitung der historischen Fotobestände zum Orient beschäftigt war.
Die Fotografien zum Iran wurden bis dato zusammen mit Zeitungsausschnitten nach Themen sortiert in Ikonokatalogen aufbewahrt, die vor einigen Jahrzehnten zu Lehrzwecken angelegt worden waren. Mehr als 70 historische Fotografien verschiedener Fotografen harrten dort ihrer Bearbeitung. Vor allem zu den ältesten und spannendsten in diesem Bestand fehlten in den Aufzeichnungen und Postenbüchern meist Informationen zu Fotograf, Aufnahmeort und Entstehung. Die Aufgabe des Teams an mich war daher eindeutig: Fahnde in historischen Fotobänden, Zeitschriften und Reiseberichten von Personen die zum vermuteten Zeitraum im Iran unterwegs waren nach Hinweisen und suche nach Vergleichsabbildungen, liefere so viele Informationen wie möglich! Klar war, die Fotografen zu identifizieren würde schwierig werden, denn nur selten fanden sie in der Frühzeit der Fotografie Erwähnung in Publikationen. Auch die Recherche via Internet, bei Auktionshäusern und ähnlichem ergab nur vage Anhaltspunkte zur Bestimmung von Ort und Zeit der in Hamburg aufbewahrten Fotografien. Erst die Durchsicht eines Kataloges des Ethnologischen Museums in Leiden brachte die heiße Spur. Der Verweis auf Datenbanken der Smithsonian Institution in Washington DC, USA führte endlich zu gleichen und ähnlichen Motiven aus der dortigen Sammlung. Die hinterlegten Informationen brachten Gewissheit! Aus den anfänglichen Vermutungen zur Datierung und der bildanalytischen Schlussfolgerung war nun ein wahrer Schatz geworden: Bei dem Hamburger Bestand handelte es sich um Positivabzüge von Antoin Sevruguins Glasnegativen! Damit war auch der Schlüssel zu den Motiven gefunden. Die bewegte Lebensgeschichte des Fotografen erweckte die Bilder zu neuem Leben und lüftete ein Stück weit das Geheimnis seiner Motive.
Als Antoin Sevruguin sich 1870 dazu entschied, mit seinen zwei Brüdern Kolja und Emanuel eine fotografische Reise durch den Iran anzutreten, interessierten ihn vor allem die Menschen, Landschaften und die Architektur. Diese erste Reise war der Auftakt zahlreicher Expeditionen mit der Kamera durch ein in Europa um die Jahrhundertwende größtenteils noch unbekanntes Land.
Die drei Brüder eröffneten anschließend ein Fotostudio in Teheran, in dem sie zwischen 1870 und 1930 zahlreiche Studioaufnahmen produzierten. Bei diesen Studio- und Portraitaufnahmen handelt es sich häufig um Typenbilder. Sie zeigen charakteristische ethnische Gruppen bei ihren beruflichen und alltäglichen Verrichtungen. Solche Fotografien waren dazu gedacht, Europäer über die persische Kultur zu informieren und fanden in ihnen begeisterte Abnehmer. Porträtiert wurden Menschen aus allen sozialen Schichten und Regionen des Iran. Dazu zählen auch Aufnahmen des von der Fotografie begeisterten Schahs Nāṣer ad-Dīn, die Antoin Sevruguin als dessen Hoffotograf anfertigte. Neben dem Schah, der Königsfamilie und religiöser Prominenz, fotografierte er ebenso Bettler, Gefangene, Lastenträger, Bauern, Derwische oder Soldaten. Das Fotostudio der Sevruguins nutzten auch Touristen, um sich vor einer bemalten Leinwand ablichten zu lassen. Ganz gleich wer sich fotografieren ließ, die Glasnegative der Aufnahmen wurden archiviert und von ihnen konnten die Sevruguins dann jederzeit Albuminabzüge oder Abzüge auf Auskopierpapier herstellen.
Antoin Sevruguin hielt es nicht in Teheran. Während seiner zahlreichen Reisen durch den Iran entstanden vor allem Fotografien von Altertümern, Brücken, Landschaften und Gebäuden. Diese Bilder waren schon zur damaligen Zeit eine beliebte und erschwingliche Quelle für Universitäten und Museen. Auch heute noch sind sie von ganz außergewöhnlicher Bedeutung, als oftmals einziges Zeugnis von inzwischen ganz oder teilweise zerstörten Bauten und veränderten Landschafts- und Lebensräumen.
Der ausgebildete Maler und Fotograf Antoin Sevruguin legte viel Wert auf eine kunstvolle Komposition seiner Bilder. Sein Interesse galt dabei besonders der Wirkung des Lichts. Ein großes Vorbild war Rembrandt, der es in seinen Gemälden verstand, eine dramatische Lichtführung ohne überzogene Theatralik umzusetzen. Trotz Inszenierung ist dort keine Spur von Pose oder Eitelkeit zu entdecken. Eine ebenso dezente Inszenierung ist Sevruguins Fotografien eigen. Die abgebildeten Menschen stehen dem Betrachter in aller Unmittelbarkeit gegenüber. Es scheint, als wolle er dem Wesen einer Person und der Natürlichkeit der Situation so nahe wie möglich kommen.
Auch wenn Sevruguin sich auf seinen alljährlichen Reisen nach Europa stets die aktuellsten Kameramodelle und schon mit Chemikalien präparierte Glasplatten für seine Aufnahmen besorgte, blieb doch die größtmögliche Ausnutzung des Lichts unentbehrlich für kontrastreiche und scharfe Motive. In Teheran bevorzugte er für Außenaufnahmen von Personen und Gruppen den Kanonenplatz (Top-Meidān). Dieser weite freie Platz wurde zu Übungszwecken vom Militär benutzt und war die übrige Zeit für die Öffentlichkeit zugänglich. Hier stand ausreichend Helligkeit zur Verfügung, da weder enge Bebauung noch Bepflanzung den Lichteinfall behinderten. Je nach Sonnenstand und Wetterlage waren hier zahlreiche Variationen für das Spiel mit Licht und Schattenwurf gegeben.
Die Häuser in den iranischen Städten waren meist ein- bis zweistöckig und hoben sich aufgrund der Lehmbauweise nur wenig von ihrer Umgebung ab. Die Häuserfronten lagen in der Regel nah beieinander, so dass ein Vorankommen in dem Labyrinth aus engen Gassen am besten zu Fuß oder mit Ausrüstung auf dem Rücken eines Pferdes oder Maultieres möglich war. Nicht selten zogen schwer beladene Karawanen durch die Straßen zum Basar. Der Basar war der Mittelpunkt eines jeden Ortes. Als Läden dienten häufig hohe Gewölbenischen. Von hier aus führten Gänge in die Karawansereien, wo die Großverkäufer ihre Vorräte lagerten. Die Läden sortierten sich nach verschiedenen Berufsgruppen und ihren Spezialitäten. Schuhmacher, Sattler, Tuch- und Teppichhändler waren in einem Bereich untergebracht; Kupfer-, Blech- und Hufschmiede in einem anderen. Zuckerbäcker, Apotheker, Obsthändler oder Geldwechsler hingegen fand man überall auf einem Basar. Zahlreiche Imbissstände versorgten Händler und Passanten mit Tee und anderen Köstlichkeiten. Die Waren in den einzelnen Verkaufsnischen wurden unter Ausnutzung der gesamten Raumhöhe übereinander aufgehängt und bei Bedarf für den Kunden heruntergeholt. Wollte Sevruguin solche Szenen festhalten, konnte es nur an Ort und Stelle geschehen, was für ihn bedeutete, sich mit den gegebenen Lichtverhältnissen zu arrangieren. Für scharfe Aufnahmen, musste das bunte Leben auf dem Markt für einige Zeiten still stehen. Dies gelang jedoch nicht immer allen seiner zu „Statisten“ gemachten Personen. Die Bilder zeugen dennoch von der Einfühlsamkeit und Überzeugungskraft des Fotografen und einer gewissen Faszination der Menschen an der damals noch jungen Technik.
„When a foreigner enters for the first time in his life a Persian bazar, he is at first overwhelmed by the various smells of food and of leather, of nutmeg, cloves, cinnamon, cardamom, saffron, fruits and tea, floating in the air on every side and blending themselves into a peculiar harmony of odours. But as one gets used to it, one gets so fond of the smells of a Persian bazar that hardly any perfume in the world can produce on you the same effect and give you the same sense of exhilaration as this singular symphony of heterogeneous odours.” (Bogdanov 1931:415)
Eine ganz besondere Erscheinung auf den Basaren und in den Gassen waren zu dieser Zeit die Derwische. Sie trugen Filzkappen mit Koransprüchen bestickt und als Accessoire diente häufig eine Stahlaxt oder ein Knüppel mit Nägeln oder eisernen Spitzen. Wichtiges Utensil war eine Almosenschale aus Kalebassenkürbis oder Seychellen-Kokosnuss gefertigt. Seit dem 12. Jahrhundert gab es in Persien zahlreiche mystische Bruderschaften, denen ein großer Teil der Derwische angehörte. Allein über Beziehungen war es möglich, einem Derwischorden beizutreten und eine Lehrzeit abzuleisten. Der Nachwuchs kam aus verschiedenen sozialen Schichten. Es waren sowohl Söhne angesehener Familien, als auch Handwerker- und Bauernsöhne darunter. Mit einem Gelübde verpflichteten sie sich zu einem Leben in Armut, Enthaltsamkeit und Ehelosigkeit. Einige verdienten sich neben dem Betteln ein wenig Geld durch den Verkauf von Heilmitteln, als Geschichtenerzähler oder Schlangenbeschwörer. Von ihren Mitmenschen wurden sie häufig mit Scheu oder Ehrfurcht betrachtet – oft auch mit beidem. Antoin Sevruguin zählte neben Angestellten des Hofes, Diplomaten und Intellektuellen ebenso Derwische zu seinen Freunden und machte sie zum Motiv seiner Arbeit.
Nicht nur diese einmaligen Aufnahmen, auch seine Art den „Zauber des Orients“ in einer ganz eigenen Weise festzuhalten, machen Sevruguins Fotografien zu einer besonderen Quelle der Forschung und das Hamburger Völkerkunde Museum weiß nun nach Abschluss des Projektes, dass es über einige dieser Schätze verfügt.
Eine ausführliche Version dieses Artikels über den fotografischen Bestand zum Iran im Museum für Völkerkunde Hamburg sowie weitere Fotografien von Antoin Sevruguin sind 2007 im Mitteilungsband des Museums „Mit Kamel und Kamera“ erschienen. Die gleichnamige Ausstellung zu Historischer Orient-Fotografie zwischen 1864 und 1970 ist noch bis 30.12.2009 in Hamburg zu sehen.
Weiterführende Literatur
Ardalan, Marjam (2003): Der Iran im Spiegel deutschsprachiger Reiseberichte im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main
van Waalwijk van Doorn Barjesteh, Ferydoun L.A. / Vogelsang-Eastwood, Gillian M. (1999): Sevruguin´s Iran. Late Nineteenth Century photographs of Iran from the National Museum of Ethnology in Leiden, the Netherlands. Teheran
Bogdanov, L. (1931): The home and life in Persia. In: Islamic Culture. Juli, S. 407-421. Hyderabad
Bogdanov, L. (1932): The home and life in Persia. In: Islamic Culture. Juli, S. 468-485. Hyderabad
Bohrer, Frederick N. (1999): Sevruguin and the Persian Image. Photographs of Iran 1870-1930. Seattle
Polak, Jakob Eduard (1865): Persien. Das Land und seine Bewohner. Ethnographische Schilderungen. Band I und II. Leipzig
Zur Autorin
Nadine Schober M.A. studierte Ethnologie und Religionswissenschaften in Hamburg. Während und nach ihrem Studium war sie mehrere Jahre im Museum für Völkerkunde Hamburg tätig. Zurzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Volontärin im LWL-Industriemuseum, Textilmuseum in Bocholt.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008