Von Aglaja Stirn
Die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der westlichen Welt ausgeübte Praxis des Tatauierens (hier „Tätowieren” genannt), die auf Übernahme von Vorbildern vornehmlich aus dem Pazifik gründete, fand immer außerhalb der institutionalisierten, professionellen Kunstkreise statt. Tattoomotive waren meist relativ grobe Einzelbildchen mit hochkonventionellem Inhalt (Totenköpfe, Sensenmänner, Panther, Adler, Schlangen oder Pin-up-Girls, militärische Insignien, Anker, Flaggen, patriotische Symbole sowie Namenszüge, die den Träger mit einer bestimmtem Person assoziierten). Die Tätowierten entstammten meist dem gleichen Arbeiterklassenhintergrund wie die Tätowierer, zu denen sie gingen. Diese übten ihr Handwerk aus ökonomischer Notwendigkeit aus, nicht aus künstlerischer Motivation. Ihre Grundkenntnisse hatten sie durch Zusehen erlernt, und es ging im Großen und Ganzen eher um technische Fähigkeiten als um ästhetische Qualitäten. Mitte des 20. Jahrhunderts war das Tätowieren in der öffentlichen Mittelschichtmeinung fest als eine deviante Praxis verankert.
Seit den 60er-Jahren jedoch hat die Praxis des Tätowierens so etwas wie eine Renaissance erfahren und zunehmend eine Veränderung in ihrer gesellschaftlichen Perzeption. Verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen und Gruppenbildungen stellen den Hintergrund für diese Renaissance: Spätestens in den 60er-Jahren hatte sich in den USA die Subkultur der Motorradrocker als gesellschaftsfeindlich etabliert. Oftmals kriminelle Mitglieder der Motorradgangs brachten die Tätowierpraxis von Gefängnisaufenthalten mit. In den Tattoomotiven der Rockergangs kommt die gesellschaftliche Ablehnung zum Ausdruck. In den USA waren zwei weitere gesellschaftliche Gruppen mit ihren speziellen Tattoopraktiken und -stilen ausschlaggebend für die weiteren Entwicklungen: die lateinamerikanisch gefärbten christlichen Motive mexikanischer Straßengangs (Chicanos), die mittels verbesserter Tätowiermaschinen den fotorealistischen (und daher eigentlich kitschigen) Stil ihrer religiösen Motive auf die Haut übertragen konnten, und die Tätowierungen von Gefängnisinsassen, die in ihrem Fotorealismus denen der Chicanos sehr ähnlich sind.
Von gesellschaftlichen Gegenströmungen wie der Hippiebewegung ging die Wegbereitung der gesellschaftlichen Akzeptanz von Tätowierungen aus, als diese begannen, tätowierte Peace-Zeichen, Pilze, Marihuanablätter und Sternzeichen als Form der gesellschaftlichen Rebellion zu tragen. Auch in der Schwulenbewegung sowie in der Frauenbewegung tauchten Tattoos auf – gefördert durch ebenfalls tätowierte Idole aus der Musik- und Filmwelt wie Janis Joplin, Joan Baez, Peter Fonda und Cher. Die Motive wurden „femininer“ und für den Mittelschichtgeschmack akzeptabler: Friedens- und Yin-Yang- sowie astrologische Zeichen und Tiermotive.
Gleichzeitig entstand das Interesse an der japanischen Tätowierwelt und ihrem elaboraten Stil mit großflächigeren und mythologischen, für den westlichen Geschmack exotischen Motiven, die von den ersten Tätowierern mit künstlerischer Ausbildung auf den Markt gebracht wurden. Performance-Künstler der 60er/70er-Jahre brachten zudem ein verändertes Kunstbild in die Gesellschaft ein, das mitunter sehr körperorientiert war und die Grenzen des traditionell gesellschaftlich Akzeptablen durch kathartische Blut- und Kotperformances, die vor körperlichen Selbst- und Fremdverstümmelungen nicht Halt machten, herausforderte und schließlich transzendierte. Hintergrund dieser Body Art war das Bestreben, eine ursprüngliche, anarchische Kreativität freizusetzen, die Wiederentdeckung einer archaischen Körperlichkeit, die den Menschen von den Entfremdungsmechanismen der Konsumwelt erlöst.
In den Kreisen der S/M-und Leder-Subkulturen wurden mit den beginnenden 70er-Jahren Tattoomotive aus indigenen Kulturen zusammen mit deren gesellschaftlichem Bedeutungshintergrund als Zeichen des Übergangs, der Veränderung und Initiation des Selbst sowie als „Weg zur Erleuchtung“ et cetera immer populärer. In den 80ern wurden diese auch von den Mitgliedern der Punkbewegung übernommen, die für die anschließende Modebildung der Mainstream-Kultur sehr animierend war. Die einfachen flächigen, einfarbigen Motive konnten selbst angebracht werden, und es entstanden persönlich gefärbte Variationen traditioneller Dessins, die heute als so genannte „tribals“ bekannt sind.
Im Punk wurde auch das Piercing, wie wir es heute als Modetrend sehen, „entwickelt“: zunächst mit einfachen Sicherheitsnadeln, dann – wohl wegen allergischer Reaktionen – mit zunehmend verfeinerten, edleren Legierungen aus Silber oder Titanium, die bis heute kalt und glatt – ganz anders als sonstiger getragener Schmuck – wirken. Dieses selbstverletzende Schmücken bedeutete gleichzeitig auch eine Verstümmelung und damit gesellschaftliche Stigmatisierung. Hierdurch, wie auch mit ihrem sonstigen Outfit und ihrer Musik, machten die Punks ihre Körper zur Demonstration einer Gegenkultur, die schockte und, wie Lotz (In: Gröning 1997: 234–235) treffend schreibt, „Ausdruck der Ohnmacht in einer Wettbewerbsgesellschaft war, die Menschen nach ’Anforderungsprofilen’ katalogisiert und jeden durch dieses Raster fallen lässt, der den Normen nicht entspricht. Das Grelle und Schrille des Punk-Outfits hatte substantiell nichts mit Lifestyle zu tun, sondern ist als eine Reaktion zu verstehen, die gesellschaftliche Ausgrenzung mit bewusster Abgrenzung beantwortete. In der Punkbewegung wurde keine Existenzform erkennbar, sondern ein Zustand der Ausweglosigkeit – angereichert mit Zynismus und Hohn, Provokation und Aggression, um die Verzweiflung zu unterdrücken.“ Viele dieser psychologischen Muster sind bis heute sublimiert in der Tattoobewegung spürbar.
Ungefähr zeitgleich zum Punk begann mit dem Lebenshilfe-Selbstverwirklichungs-Psychoratgeber-Boom ein breites gesellschaftliches Umdenken der Mittelschicht, die sich anderen, nicht westlichen Philosophien öffnete. Noch heute profitieren nicht wenige Tätowierer von dieser veränderten Geisteshaltung, die offen ist gegenüber den unterschiedlichsten Wegen zu mehr Glück, Lebensfreude und Selbstverwirklichung, und preisen sich als eine Art Therapeut an. Nahe liegend ist auch die Verbindung zur gesamten New-Age-Bewegung, deren Boom in den 70er/80er-Jahren am stärksten war. Die Grundgedanken des New Age mit seinen unterschiedlichen Subgruppen (wie zum Beispiel Magie, feministische „Neue Hexen/Weise Frauen“-Bewegung (Wicca-Kult), Astrologie, Tai-Chi, Meditation, Neo-Paganismus (Rückbesinnung auf keltische Druidenpraktiken) und schamanistische Rituale) und seine Offenheit gegenüber den unterschiedlichsten spirituellen Richtungen und ihrer anti-rationalistischen Denkweise finden sich heute in den Beweggründen für das Anbringen eines Tattoos wieder.
Vor allem aber auch die Ökologiebewegung mit ihren Vorstellungen von der ganzheitlichen Nähe oder Einheit mit der Natur, mitunter der Besinnung auf einfachere Lebensarten, dem Schutz der Tierwelt, dem Vegetarismus und ihrem „Eine-Welt-Gedanken“ hat einen großen Einfluss auf die moderne Tätowierpraxis gehabt, wie sich aus den immer wieder zu sehenden Tattoomotiven entnehmen lässt: vom Aussterben bedrohte Tiere wie Wale und Schneeeulen, Yanomani-Indianerhäuptlinge, der brasilianische Regenwald mit seiner Tierwelt stehen als Symbole für eine vom Ökologismus beeinflusste Geisteshaltung.
Mittlerweile sind zu der bereits großen Stilvielfalt noch Motive aus weiteren außereuropäischen und vergangenen Kulturen hinzugekommen: keltische Symbole, Sanskrit-, chinesische, japanische und tibetische Schriftzeichen, indianische Motive und ägyptische Kunst. Die Motive aus indigenen Gesellschaften nehmen einen breiten Raum ein. Der moderne Tätowierte, aus der Wissens-/Internetgeneration stammend, weiß um den Hintergrund seiner Motivwahl – er kennt den Kulturraum und die Symbolik (zumindest in Ansätzen). Das Motiv mit Intellektualität umgeben zu können, scheint ein wichtiger Faktor in der modernen Tätowierpraxis zu sein. Fantasy/Science-Fiction-Illustrationen, Comics, die Tattookopien klassischer Gemälde, Porträts und abstrakter Expressionismus sind weitere Tattoostile. Doch selbst hierbei ist es nicht geblieben.
Obwohl immer noch eine kommerziell orientierte Handwerksstruktur die Praxis des Tätowierens zu dominieren scheint, sind gerade innerhalb der letzten zehn Jahre signifikante Veränderungen in diesem Gewerbe eingetreten, die dazu beitragen, die veränderte gesellschaftliche Wahrnehmung der einst als so deviant verschrieenen Praxis zu erklären. Jüngere Tätowierer, oft mit abgeschlossenem Universitätsstudium oder Kunstakademie-Abschluss und Erfahrung in traditionellen Kunstrichtungen, haben begonnen, das Tätowieren als kreative Ausdrucksform zu explorieren. Sie sehen darin eine Möglichkeit, sich trotz ihrer Unzufriedenheit über die tradierten Kunstformen und die limitierten Karrieremöglichkeiten des übervollen Kunstmarktes dennoch hauptberuflich künstlerisch betätigen zu können. Viele ziehen, gerade in der Anfangszeit ihrer Karriere, die kreativen Werte den wirtschaftlichen vor und machen sich so einen Namen bei einem Kundenkreis, der die vom Tätowierer angebotenen, meist relativ großflächigen Tattoos zu schätzen weiß. Es haben sich besondere Werte in der Tattoo-Community herausgebildet wie die Sonder-/Einzelanfertigungen, bei denen es verpönt ist, sie einem weiteren Kunden einzustechen (durchaus mit der Einmaligkeit eines Originalgemäldes vergleichbar), was sich natürlich auch im Preis bemerkbar macht. Auch können es sich gut situierte Tätowierer mitunter leisten zu entscheiden, wem sie ein Tattoo einstechen – sie nennen es, „mit wem sie arbeiten wollen“ (was wiederum an die Künstler-Modell-Beziehung erinnert). In Übereinstimmung mit ihrem künstlerischen Hintergrund schöpfen die Tätowierer ihre Motive aus den unterschiedlichsten Richtungen, wie sie bereits oben dargestellt wurden. Diese gelten jedoch meist nur als Vorlagen, denn das Wichtigste ist die individuelle Note, die Einmaligkeit des gestochenen Bildes und der Individualismus, dem Tätowierer wie auch Tätowierter heutzutage den unbedingten Vorzug geben.
In zunehmendem Maße, indem Tätowierer sich als Künstler verstehen, ästhetisch beeindruckende Werke erstellen und diese als Kunst präsentieren, hat auch die Kunstwelt begonnen, von dem Medium Notiz zu nehmen. Die Praxis des Tätowierens legitimiert sich zunehmend gesellschaftlich, da Tattoowerke in Museen und Kunstgalerien gezeigt werden, ästhetisch ansprechende Hochglanzbildbände zum Thema erscheinen und das Thema „Tattoo“ Gegenstand kritischer Diskussion unter Kunstgelehrten und Galeristen wird. Dies fördert natürlich auch den sozialen Status des Tätowierers, dessen Werk nun als Kunst perzipiert, ausgestellt, diskutiert und gehandelt wird. Seine Klientel verändert sich zu anspruchsvollen Kunden mit Bildung und genügend verfügbarem Einkommen, um aufwendige, teure Spezialanfertigungen zu bestellen.
Somit erhält auch die Praxis des Tätowierens eine veränderte soziale Definition. Sie entfernt sich von ihrer in der westlichen Welt seit 150 Jahren bestehenden Definition als verachtete Handwerkspraxis, die zwischen Produzenten und Konsumenten, die weitab des gesellschaftlich anerkannten „Mainstreams“ stehen, ausgeführt wird, hin zu einer Kunstform in einer Art „kleineren Kunstwelt“, die eine klar umgrenzte, wenn auch in gewisser Weise (noch) konflikthafte Beziehung zur „großen Kunstwelt“ mit ihren traditionellen Ausdrucksformen hat (Sanders 1989: 21).
Pop-Idole wie Madonna, Axl Rose oder Vertreter der sehr körperorientierten neuen Musikrichtungen wie Surf-Punk, weißer Hip-Hop, Trash Metal oder Techno tun ihr Übriges, um das Tattoo in einem größeren Umfang gesellschaftlich akzeptabel zu machen, selbst in die großen Modemagazine wie Vogue haben Tattoos Einzug gehalten, wobei der noch stärker Interessierte mittlerweile die Möglichkeit hat, monatlich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Hochglanz-„Fachzeitschriften“ mit allgemeinen oder speziellen Tattooschwerpunkten zu wählen, die ihrerseits natürlich wieder meinungsbildend und -verbreitend wirken.
Lotz, W. (1998): Buntes Elend. In: Groening, K.: Geschmückte Haut. Eine Kulturgeschichte der Körperkunst. München: Frederking & Thaler
Oettermann, S. (1994): Zeichen auf der Haut. Die Geschichte der Tätowierung in Europa. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt
Sanders, C. R. (1989): Customizing the Body. The Art and Culture of Tattooing. Philadelphia: Temple University Press
Dr. med. Aglaja Stirn
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008