Von Heide Lazarus
„Ich vermag die Erziehung zum Tanz nur als eine bildnerische Aufgabe zu sehen, über die als stärkster Akzent der Mensch in seiner Körperlichkeit gesetzt ist“, schreibt Mary Wigman in ihrem Essay „Brief an einen jungen Tänzer“ am Ende ihrer Laufbahn als Choreographin, Schulgründerin und Solistin 1963. Zeit ihres Lebens ist sie diesem Prinzip einer ichbezogenen Formung eines öffentlich zur Schau gestellten Körpers gefolgt. „Körperbildung also? Ja – denn es geht um einen Wachstumsprozess, in dem körperliche Bewegung, seelische Bewegtheit und geistige Beweglichkeit sich die Waage halten müssen, um die Wandlungen des Körpers vom Leib zum Instrument zu vollziehen“, erklärt sie anschließend.
Mary Wigman beginnt ihre Laufbahn als Solistin ihrer eigenen Choreographien Ende der 1910er-Jahre. Bald darauf gründet sie ihre Schule in Dresden nach furios gefeierten Auftritten 1920/21 zusammen mit ihrer Assistentin und finanziellen Unterstützerin Berthe Trümpy. Es ist der „Tanz als Kunstwerk“, dem sich immer mehr Menschen zuwenden, der zu einem ernst zu nehmenden Berufszweig ausreift und zunehmend gleichrangig neben den anderen Künsten wie der Literatur, der Musik, der Plastik und Malerei bestehen kann. Hier wird mit dem eigenen, individuellen Körper eines jeden Bühnentänzers gearbeitet.
Mary Wigmans Konzept vom „Körper als Instrument“ ist aber auch ein Grundprinzip zeitgenössischer Bühnenperformance. Nur so kann man den immer wieder vollzogenen Rekurs auf die Heroin des Ausdruckstanzes verstehen, deren fotografierte Körperästhetik uns heute teilweise überzogen pathetisch und altmodisch anmutet. Doch man darf getrost auch an jedes andere theatralische Bühnenwerk denken, durchaus auch an ein Schauspiel. Auch Wigman dachte weniger in Sparten. Im Zenit ihres Ruhmes bestand sie sogar mehrfach auf ihrer imperialen Geste der „Eroberung des Theaters von der tänzerischen Geste“. Und man erhoffte es sich sogar eine Zeit lang. Man denke nur an die Gestik der Stummfilme oder Dokumentaraufnahmen von Brecht-Inszenierungen. Dass solch eine Forderung aus dem Munde einer Frau in der damals männerdominierten Öffentlichkeit ernst genommen wurde, mag folgendes Zitat von 1931 zeigen. „Sie geriet manchmal in die Gefahr der Tanzgouvernante, daraus hob sie sich selber mit grossartiger Kraft, nunmehr regiert sie mit Souveränität und mit Kraft über sich selbst und ihr grosser Schatten ruht bestimmend auf vielen Tanzschulen.“
Dass der Körper sprechen kann, hat die kunstsinnige Mary Wigman bei ihren zahlreichen Besuchen von Ausstellungen zur Malerei und Plastik kennen gelernt. Sie hat gesehen, dass der Versuch eines Abbildes von Bewegung durch Energie und Schwung das Material und die Form zu sprengen vermag und dass vor allem der Tanz in seiner Konzentration auf die pure Bewegung und den ausschließlichen Körperausdruck hier Abhilfe schaffen kann. „Plastique animée“, so hatte ihr erster Lehrer sein Bewegungskonzept einer körper- und bewegungsbezogenen Musikausbildung genannt. Emile Jaques-Dalcroze hieß er, war Schweizer und hatte 1910 durch kommunale und private Förderung die Möglichkeit erhalten, eine eigene Schule in der Gartenstadt Dresden-Hellerau zu gründen. Auf der Suche nach einem wahrhaftigen, künstlerischen Ausdruck des Gefühls oder der Seele wurde Jaques-Dalcroze durch die idealisierte griechische Antike inspiriert. Seine Musikpädagogik der „rhythmischen Gymnastik“, auf deren Grundlage er auch inszenierte, entsprach ganz den pädagogisch bestimmten Reformbestrebungen der damaligen Zeit. Zu ihm hatte es auch Mary Wigman auf der Suche nach einem sinnvollen und aussichtsreichen Beruf gezogen. Bei ihm lernte sie, den Körper als Instrument zu behandeln, und entwickelte selbst den Anspruch, eigene Sinneswahrnehmungen zu verarbeiten. Nicht unwesentlich war dabei die Methode der Improvisation, aber auch das Tragen einer atmungsfreundlichen Trainingskleidung.
Dalcroze ging es jedoch nicht nur um eine reine angewandte und gelebte Musikpädagogik, sondern gemeinsam mit dem Bühnenbildner Adolphe Appia um eine Wiederbelebung antiken Kunstverständnisses. Hellerau entwickelte sich dabei zu einem Festspielort von internationalem Format, was die Besucherzahl von etwa 5000 zum Sommerfest 1913 mit der szenischen Aufführung von Glucks „Orpheus und Eurydike“ verdeutlicht. Anders als Bayreuth war das Festspielhaus Hellerau kein Musentempel, sondern ein experimentelles Studio-Theater. Zusammen mit anderen bewegungspädagogischen Konzepten, die sich seit den 1910er-Jahren nicht zuletzt dank der Massenfotografie in hoher Qualität europa- und amerikaweit ausbreiteten, führte das System Dalcroze letztlich zu einer modernen Tanzpädagogik und damit zu der neuen Ästhetik des Modernen Tanzes. Einige Methoden, die neben der Methode von Jaques-Dalcroze wesentliche Anstöße gaben, seien hier stellvertretend genannt: die „hamonische Gymnastik“ von Genevieve Strebbin (um 1880 in New York entstanden), die „Körperkultur des Weibes“ von Bess Mensendieck (amerikanische Ärztin, 1906 in Deutsch publiziert), die „künstlerische Gymnastik“ von Hede Kallmeyer (1910 publiziert), die „tänzerische Gymnastik“ von Rudolf von Laban, deren Grundlagen er zuerst 1920 in „Die Welt des Tänzers“ publizierte und auf deren Grundlage auch seine Schülerin und spätere Assistentin Mary Wigman und viele ihrer Schüler arbeiteten. Womit wir wieder bei der Choreographin und Tänzerin Mary Wigman und ihrer pädagogischen Auffassung der Körperbildung angekommen wären.
Den „Körper als Instrument“ für einen suggestiven, bühnenwirksamen Auftritt zu entwickeln, war ihr erklärtes Ausbildungsziel. Erreichbar würde die Transformation eines Alltagskörpers hin zu einem spezifisch artifiziellen Körper, die Transformation von individuellen Alltagsabläufen und ihren Geschichten hin zu publikumsverständlichen Figuren durch ein Durchleben und Durcharbeiten von drei Entwicklungsstufen: vom „unbewussten Einheitserlebnis“ über das „Spaltungserlebnis“ hin zum „bewussten Einheitserlebnis“. Die Ausbildung für Tänzer und Lehrer verlief dabei prinzipiell gemeinsam. Wigman fasste ihr Ausbildungskonzept 1932 folgendermaßen zusammen: „Der Tanz ist und bleibt an den menschlichen Körper gebunden, und bei dem Tänzer wird der Körper das Instrument, mit dessen Hilfe er ausdrücken soll, was ihn innerlich seelisch bewegt und erfüllt. Der Tänzer muß also sein Instrument beherrschen und spielen können. … Aber nicht nur dieses! Er muß sein Instrument auch selber schaffen. Denn selbst der begabteste Körper gibt nicht von Anfang das her, was der Tänzer von ihm und was der Tanz von ihm verlangt. … In jahrelanger harter Arbeit ringt der Tänzer um die Verwandlung seines Körpers, bis sich allmählich die einzelnen Glieder, die Muskeln, Sehnen, Bänder und Gelenke dem tänzerischen Willen fügen und der Körper sich willig in den Dienst der tänzerischen Idee stellt, die der Tänzer im Tanzkunstwerk interpretiert. Ausdauer und Zähigkeit, Unerbittlichkeit und Strenge gegen sich selbst, Begeisterung, Fanatismus und Geduld, dies sind die Eigenschaften, die der Tänzer braucht, um sein Instrument aus den natürlichen Gegebenheiten des Körpers heraus zu entwickeln und zu bilden. Die Forderung, die der Tänzer an seinen Körper als Instrument zu stellen hat, heißt letzte Hingabe und Verausgabung mit der höchstmöglichen Disziplin (Können) verbinden, die scheinbar größten Gegensätze also zu vereinen.“
Der individual- und entwicklungspsychologische Ansatz bestimmte die Lehrweise. Darüber hinaus gab es keine weitere „objektive“ Methode – zumindest keine, die veröffentlicht oder bis heute in Archiven gefunden wurde. Es verwundert nicht, dass es ein Unterrichtskonzept im Sinne einer zu unterrichtenden technischen Etüdenfolge beziehungsweise nach einem sich immer wiederholenden Stundenaufbau nicht gab. Auf eine methodische Ausbildung dennoch stark achtend, wehrt sich Mary Wigman gegen eine Fixierung desselben:
„Die größte Gefahr wäre die Festlegung auf ein erprobtes Arbeitsprogramm, das aus Bequemlichkeit und Ermüdung sich in ständiger Wiederholung abrollt, sich monotonisiert und im Resultat eines veräußerlichten Scheinkönnens Lehrer wie Schüler in gleicher Weise schädigt. Der Lehrende muß in der Lage sein, auf der Basis einer gegebenen Unterrichtsaufgabe, eines sinnvoll aufgestellten Lehrplanes Übungen und Bewegungsfolgen zu erfinden, die der Eigenart des Schülers gerecht werden. Die notwendigen Korrekturen am Instrument können und dürfen nicht nach einer als allgemein gültig anerkannten Norm, sondern aus dem menschlichen und künstlerischen Verstehen des Individuums und seines wesenhaften Ausdrucks geschehen.“
Inwieweit ihr Konzept nach dem Weggang ihrer wichtigsten Mitstreiter der Anfangsjahre Anfang der 30er-Jahre und erst recht nach 1936 konkret beibehalten wurde, muss bezweifelt werden.
Bach, R. (1933): Das Mary Wigman–Werk. Dresden
Fritsch–Vivié, G. (1999): Mary Wigman. Reinbek bei Hamburg
Karina, L. und M. Kant (1999): Tanz unterm Hakenkreuz. Eine Dokumentation. Berlin
Loesch, I. (1990): Mit Leib und Seele. Erlebte Vergangenheit des Ausdruckstanzes. Berlin
Müller, H. (1986): Mary Wigman. Leben und Werk der großen Tänzerin. Weinheim/Berlin
Sonzogni, J.–L. / Weisenberger, P.(1991): Der stumme Schrei. Koproduktion BR,WDR/La Sept/Radiotelevisao RTD Portugesa/Lieurac Productions
Tanzgemeinschaft. Vierteljahresschrift für tänzerische Kultur. Hg. von der Deutschen Tanzgemeinschaft e.V.. Redaktion: Felix Emmel (unter Mitarbeit von Jo Fischer-Klamt). 1929-1931.
Wangenheim, A. v. (2002): Tanz unterm Hakenkreuz. Film–Dokumentation. WDR
Zur Autorin Heide Lazarus, M. A., Kultur- und Theaterwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Tanz. U.a. Herausgeberin der CD-ROM "Die Akte Wigman" mit Dokumenten der Mary Wigman-Schule Dresden 1920-42, Forschung zu Anatomie und Tanz und Interaktiven Environments.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008