Von Peter Mesenhöller
Westliche Südseebilder weisen seit dem 8. Jahrhundert immer wiederkehrende Motive auf, deren Vereinnahmung durch die jeweiligen Darstellungsweisen und -absichten zwar ideologisch differenziert ist, sich aber auf die Stereotypen „Paradies“ und „Hölle“ reduzieren lässt. Entsprechend wurden die Bewohner Polynesiens entweder als „edle Wilde“ oder aber als „Barbaren“ dargestellt, die den Segnungen europäischer Zivilisation bedurften. Im circa 3000 Kilometer nördlich von Neuseeland gelegenen Samoa-Archipel lebte ein scheinbar friedfertiges Volk, das seinen Göttern bereits im frühen 19. Jahrhundert bereitwillig zugunsten des Christentums abschwor. Die Missionare hatten leichtes Spiel, war den Samoanern doch durch ihre Kriegsgöttin Nafanua die Ankunft der papalagi , der „Himmelsdurchbrecher“, und ihres neuen Glaubens prophezeit worden. Mit den alten Göttern verschwanden auch deren Abbilder, sodass sich heute nur noch vereinzelt „Idole“ aus der Frühzeit des Kulturkontakts erhalten haben, deren künstlerischer „Wert“ zudem weit hinter vergleichbaren Objekten von den Gesellschaftsinseln oder aus Neuseeland steht. Die Formen menschlichen Zusammenlebens haben in der materiellen Kultur des Archipels indessen nie einen aufwendigen künstlerischen Widerhall gefunden; ihr Reichtum liegt in einem Höchstmaß an Konzentration, wie vor allem die Tatauierung der Männern zeigt.
Die Muster und Motive samoanischer Männertatauierungen, die von den Knien bis zum Oberkörper reichen und flächig pigmentiert werden, weisen auffällige Parallelen zur Bemusterung von Tonwaren der so genannten Lapita-Kultur auf, deren Vertreter um 1300 vor unserer Zeit aus Südostasien nach Ozeanien vordrangen und die als die Ahnen aller Polynesier gelten. Viele Samoaner beharren hingegen bis heute auf einem göttlichen Ursprung ihres Daseins – und mithin ihrer Tatauierung. Zum Verständnis der lokalen ideologischen Implikationen, die mit der ungebrochenen Tradition samoanischer Tatauierkunst verbunden sind, sei daher auf die Mythologie als Interpretationsrahmen verwiesen.
Ein weibliches siamesisches Zwillingspaar – Taema und Tilafaiga – schwamm einst über den großen Ozean von Samoa nach Fiji, wo es von zwei Meistern ihres Faches in der Kunst der weiblichen Körpertatauierung unterwiesen wurde. Nach Abschluss der Lehrzeit gaben die Tatauiermeister dem Zwillingspaar den Leitsatz mit auf den Weg: Tatau fafine, ae tatau tane (Tatauiert die Frauen, nicht die Männer). Immer wieder repetierten Taema und Tilafaiga diesen Satz auf ihrem Rückweg nach Samoa. An den vorgelagerten Riffen ihrer Heimat angelangt, sahen sie auf dem Meeresboden eine große Tridacna-Muschel, nach deren Fleisch sie hungerten, und tauchten. Bei der Rückkehr an die Wasseroberfläche hatte das Zwillingspaar den genauen Wortlaut der Instruktion vergessen und repetierte: Tatau tane, ae le tatau fafine (Tatauiert die Männer, nicht die Frauen).
Die Mythe von Taema und Tilafaiga entspricht nach George B. Milner einer allen polynesischen Gesellschaften eigenen Anschauung, wonach Oppositionen wie Freund/Feind, Natur/Kultur, Schmerz/Freude, Leben/Tod et cetera Funktionen im Drama der Geschlechterbeziehungen darstellen. Im konkreten Fall besagt ein samoanisches Sprichwort: Fanau le teine fana fanau, fanau le tama le tatau (Wenn ein Mädchen geboren wird, so wird es die Schmerzen des Gebärens ertragen müssen; wenn ein Junge geboren wird, so wird er die Schmerzen der Tatauierung ertragen müssen). Beider Schmerzen wiegen also einander auf, wobei als verbindendes Moment der Verlust von Blut gilt. In der Tat wird in Samoa der blutende Klient eines Tatauiermeisters ( tufuga ta tatau ) einem Fötus gleichgesetzt, der sich im Zustand der sozialen Geburt befindet. Die „Abnabelung“ des Klienten findet ihren symbolischen Ausdruck in der die Hautpigmentierung abschließenden Tatauierung des Bauchnabels. Der männliche Körper wird so „versiegelt“, er wird zu einer „geschlossenen“ Einheit. Erst als „geschlossenes“, das heißt tatauiertes Wesen kann ein Mann nach samoanischer Ansicht seinen sozialen Verpflichtungen gegenüber dem Gemeinwesen nachkommen. Bildlich kommt diese Überzeugung in der einheimischen Bezichnung pe’a für die Tatauierung zum Ausdruck: Pe’a ist zugleich der Name des samoanischen Flughundes (Pteropus spp.), der seine Schwingen schützend um die Jungen legt. Die Schutzmetapher gilt jedoch auch für den eigenen Körper, der durch die Tatauierung gleichsam gewappnet wird.
Die Samoaner waren kein friedfertiges Volk. Bis zur Wende des 20. Jahrhunderts wurden die häufigen Streitigkeiten um Land- und Titelrechte mit den Mitteln des Krieges ausgetragen, der göttlichen Ursprungs ist. Es waren die Söhne des Schöpfergottes Tagaloalagi, Tagaloa-leniu und Tagaloa-lefau, die einander um die Vorherrschaft über Samoa bekämpften. Tagaloa-leniu ging siegreich aus dem Kampf hervor und wurde der erste „Häuptling“ ( matai ). Werden Streitigkeiten zwischen Familienverbänden heute auch nicht mehr auf kriegerischem Wege ausgetragen, so spielt doch die symbolische Wappnung des matai durch die Tatauierung nach wie vor eine wichtige Rolle. Vor allem im Dorfrat signalisiert sie dem Kontrahenten Autorität, die pardoxerweise erst durch die Unterwerfung unter die schmerzvolle, bis zu drei Monate währende Tatauoperation erlangt wird. „Der Weg zur Macht heißt Dienen“, lautet ein samoanisches Sprichwort. Ein Titelaspirant ( manaia ) dient einem matai oft jahrelang als Aufwärter, bevor er tatauiert wird. Die Erlangung eines pe’a bedeutet nicht nur den Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt. Sie ist vielmehr der sichtbare Beweis, dass sich ihr Träger als würdiger Diener an der Gemeinschaft erwiesen hat.
In Samoa wurden und werden zugleich Frauen tatauiert, wobei das Wort tatau indessen ein rein männliches Konzept umreißt. Die weiblichen Zeichen auf der Haut werden nach dem Hauptmuster, einer einfachen oder doppelten Raute in den Kniekehlen, malu genannt. Sternchen, Kreuze et cetera, die sich über den ganzen Oberschenkel, oft auch die Hände, erstrecken und in Mustern angeordnet sind, gelten als ästhetisches „Beiwerk“, das den Körper gleichwohl vor bösen Mächten schützen soll. Alfred Gell hat darauf hingewiesen, dass die Kniekehlen der Frauen in Samoa erotisch besetzt sind, vergleichbar in unserer Kultur mit dem Dekolleté. Entsprechend kann die Raute auch als deplacierte Vulva gedeutet werden, die sich beim Strecken des Beins öffnet und beim Anwinkeln schließt. Malu bedeutet nach Milner auch „geschlossen“ oder „beschützt“, womit auf die samoanische Sexualmoral verwiesen ist. Vorehelicher Geschlechtsverkehr war und ist in der traditionellen samoanischen Gesellschaft verpönt. Besonders die Jungfräulichkeit der taupou (wörtlich: jungfräuliche Schwester) – als Anführerin des Bundes unverheirateter Frauen, Witwen und Ehefrauen unbetitelter Männer sowie potenzielle Ehefrau hochrangiger matai – wurde nach Erlangung ihrer Geschlechtsreife von älteren Frauen gehütet. Dem Gemeinen galt sie als tapu , tabu, oder samoanisch sa (heilig). Zum sichtbaren Zeichen, dass ihr Hymen auch wirklich intakt war, wurde sie anlässlich der Hochzeitsfeierlichkeiten von ihrem Bräutigam öffentlich defloriert. Während das malu also einerseits erotisch besetzt ist, gilt es doch andererseits als Symbol für die Unerreichbarkeit einer taupou . Archetypisch spiegelt sich die früher nahezu religiöse Verehrung der taupou und ihrer Jungfräulichkeit in der Mythologie wider: Die Kulturheroine Papa war von überragender Schönheit, kam aber ohne Vagina zur Welt. Sie war also unerreichbar für die sexuellen Wünsche ihrer Verehrer. Ein matai namens Olomatua „öffnete“ sie schließlich mithilfe eines Haifischzahns, der fortan ihre Intimorgane darstellte. Ihren ikonographischen Niederschlag findet die Symbolik bis heute im Motiv der vagina dentata , das vor allem auf bemalten oder bedruckten Rindenbaststoffen ( siapo ) zu finden ist. Den mythologischen Reigen schließt das siamesische Zwillingspaar Taema und Tilafaiga: Die beiden waren die Enkel Papas und Olomatuas und brachten den Männern die Technik des Tatauierens, bei der die Haut gewaltsam mittels einer gezähnten Knochenklingen geöffnet wird.
Patrick Vinton Kirch (1997): The Lapita People. Ancestors of the Oceanic World. Cambridge/Mass
George B. Milner (1969): Siames Twins, Birds and the Double Helix“. In: Man NS 4:5-24
Alfred Gell (1993): Wrapping in Imgages. Tattooing in Polynesia. Oxford
Peter Mesenhöller ist Ethnologe und Leiter der Museumspädagogischen Abteilung im Rautenstrauch Jost-Museum in Köln. Regionaler Forschungsschwerpunkt ist Polynesien.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008