Von Johannes Wachten
Körperbilder sind im Judentum verboten. Dieses Verbot ist abgeleitet aus Levitikus 19:28: „Für einen Toten dürft ihr keine Einschnitte auf eurem Körper anbringen, und ihr dürft euch keine Zeichen einritzen lassen. Ich bin der Herr.“
Die Gesamtzahl der biblischen Gebote beträgt nach der rabbinischen Tradition 613. R. Simlai, ein palästinischer Gesetzeslehrer, stellt fest: „613 Gebote wurden Moses am Sinai offenbart, von denen 365 Verbote sind wie die Zahl der Tage im Sonnenjahr und 248 Gebote sind gemäß der Zahl der Glieder des menschlichen Körpers.“ (babylonischer Talmud, Makkot 23b). In der Zusammenstellung dieser 613 Gebote bei Maimonides (1138–1204) ist das Tätowierungsverbot das 41. und wird folgendermaßen formuliert: „Tätowiere dich nicht nach Art der Götzendiener!“
Die Tätowierung ist im Altertum sowohl im Nahen Osten als auch in Griechenland und Rom ein Sklavenzeichen oder ein Zeichen für die Unterwerfung unter eine Gottheit. Die anonyme Mischna in Makkot (3:6) stellt fest, dass jemand das Tätowierungsverbot nur dann übertritt, wenn es sich bei dem Zeichen um Schrift handelt und wenn es mit unauslöschlicher Tinte geschieht. Rabbi Simeon ben Judah im Namen von Rabbi Simeon akzeptiert diese Meinung und stellt ergänzend fest, dass man sich nur dann schuldig macht, wenn man den Namen eines Götzen tätowiert (gemäß der talmudischen Interpretation in Makkot 21a). Er interpretiert so die letzten Worte aus Levitikus 19:28: „Ich bin der Herr.“ Die Halacha stimmt mit der anonymen Mischna überein (Schulchan aruch, Jore dea 180:1). Maimonides stimmt ebenfalls damit überein, fügt aber hinzu, dass obwohl jegliches Tätowieren verboten ist, der Grund für das Verbot darin liegt, dass „es Brauch der Götzendiener war, sich durch Tätowierung einem Götzen zu verschreiben, um anzuzeigen, dass sie seine leibeigenen Diener und seinem Dienst gewidmet seien“ (Jad ha-chasaqa, avoda sara 12:11).
Die Technik des Tätowierens kennt man im Judentum durchaus. Man schnitt die Haut ein und füllte den Schnitt mit Tinte oder Farbstoff. Diese Methode wird bereits in der Mischna erwähnt: „Wenn ein Mann eingestochene Schrift auf seine Haut schrieb ist er schuldig ... aber nur wenn er es schreibt und einsticht mit Tinte oder Augenschminke oder irgendetwas, das ein dauerhaftes Zeichen hinterlässt.“ (Makkot 3:6). Die Bibel verbietet diese Praxis kategorisch, wie eingangs schon erwähnt: „Ihr sollt euch für einen Toten keine Schnitte in euer Fleisch machen oder euch irgendein Zeichen (ketowet qa’aqa’) einschneiden. Ich bin der Herr.“ (Levitikus19:28). Während das die allgemeine Regel war, scheint es Fälle gegeben zu haben, in denen Anhänger des Ewigen sich Seinen Namen in ihre Arme einritzten. Jesaja mag sich auf diesen Brauch beziehen, wenn er sagt: „Der eine sagt: Ich gehöre dem Herrn. Ein anderer benennt sich mit dem Namen Jakobs. Einer schreibt auf seine Hand: Für den Herrn“ (Jesaja 44,5–6; vgl. auch Hiob 37:7: „Er versiegelt die Hand aller Menschen“), und vielleicht im übertragenen Sinn: „Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände, deine Mauern habe ich immer vor Augen.“ (Jesaja 49,16). Die „Mauern“ können im Hebräischen durch Metathesis zweier Konsonanten zu „Siegeln“ werden.
Hinsichtlich der Heiligkeit der Priester wird in Levitikus 21,8 eigens betont: „Die Priester sollen sich ... an ihrem Körper keine Einschnitte machen.“ Die Kennzeichnung ihrer Gottesdienerschaft geschieht durch die Kleidung. In Exodus 28:36–38 heißt es: Mach eine Rosette aus purem Gold, und bring darauf nach Art der Siegelgravierung die Inschrift an: Heilig dem Herrn. Befestige die Rosette an einer Schnur aus violettem Purpur, und bring sie am Turban an; sie soll an der Vorderseite des Turbans angebracht werden. Sie soll auf Aarons Stirn sein, denn Aaron ist verantwortlich für die Verfehlungen an den Weihegaben, die die Israeliten weihen, für alle heiligen Abgaben; sie soll ständig auf Aarons Stirn sein, damit sie dem Herrn genehm sind.“ (Vgl. Abb. 1: auf der Kopfbedeckung Samuels ist noch das hebräische Wort „Heilig dem Herrn “ erkennbar.)
Das Schreiben auf Körper und Haut ist nicht erlaubt, dennoch finden sich beschriebene Körperteile – freilich nur als Symbole und Amulette wie zum Beispiel die Hand als kosmisches Symbol oder ein kabbalistisches Amulett gegen Seuchen (vgl. Abb. 2 und 3), auf deren inhaltliche Erschließung hier nicht einzugehen ist.
Vom Golem, dem durch sprachliche Magie erschaffenen Wesen menschlicher Art, dem Homunkulus der jüdischen Mystik, wird überliefert, dass das Wort „emet“ (Wahrheit) auf seiner Stirn stehe. Durch Streichung des ersten Buchstabens wird er wieder zu toter Materie (met). In diesem wie im vorherigen Beispiel kann selbstverständlich von einer Tätowierung nicht die Rede sein.
Ähnlich wie der Hohepriester seine Gottesdienerschaft durch ein Kleidungsstück kennzeichnet, unterwirft sich ein frommer Jude dem entsprechenden göttlichen Gebot durch das tägliche Legen der Gebetsriemen (Tefillin), der Kopf- wie der Arm-Tefillin. Stirn und Herz (gegenüber dem linken Oberarm) werden so gekennzeichnet, selbstverständlich wieder ohne Tätowierung (vgl. Abb. 4: ein sephardischer Jude trägt Gebetsmantel und Tefillin, darüber ist beides noch einmal einzeln abgebildet wie auch die Bindung am Arm dargestellt ist). Der gleiche Bibeltext, der sich in den kleinen Kapseln befindet, ist auch in den Mesusot, den Behältnissen, in denen auf Pergament geschrieben das "Schma Jisrael" („Höre Israel“) sowie die Bibelstellen stehen, nach deren Vorschrift die Tür eines jeden jüdischen Hauses entsprechend zu kennzeichnen ist.
Im Museum Judengasse wird noch bis Mai 2006 die Ausstellung ANIMA von Susi Sielski Cantarino gezeigt. Darin lassen Bambusrohre an die Türpfosten oder auch die Wandbehältnisse denken. Die Künstlerin setzt sich in ihren Arbeiten mit Dokumenten, Memorabilia und Memoiren ihres Großvaters auseinander, der das Konzentrationslager Theresienstadt überlebte und der liebevoll „Vati“ genannt wird. Sie widmet ihm einen mit weißer Gaze bezogenen Bambus, auf dem neben „Vati“ auch seine Lager-Nummer und die Namen von Mithäftlingen stehen. Damit mag man eine äußerst säkulare und ferne Zurückweisung von Tätowierung und Einritzung assoziieren.
Dr. Johannes Wachten ist stellvertretender Direktor des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008