Von Lisette Gebhardt
Zwölf Unikate hervorragender Hautbilder hat Meister Hiromitsu geschaffen − und damit in der deutschen Kunstszene eine Mordserie ausgelöst. Im Film Tattoo (2002) bezieht sich der Regisseur Robert Schwentke auf die japanische Tätowiertradition, deren Perfektion tödliche Begehrlichkeiten weckt: Der Täter häutet die Opfer, um sich die Werke des Meisters anzueignen.
Die Vollkommenheit der japanischen Tätowierung fachte schon oft die Fantasien anderer Künste im Westen wie in Japan an, so eben die des Films (japanische Variation: „Irezumi – Die tätowierte Frau“, 1981) und die der Literatur. Tanizaki Jun’ichirô (1886–1965), bekannter Autor des Ästhetizismus, versteht in seiner Erzählung „Tätowierung“ (jap.: Shisei ) von 1910 das Tätowieren als Obsession einer der schönheitssüchtigsten historischen Epochen Japans: „Jeder bemühte sich, schön zu sein, bis man schließlich so weit ging, sich tätowieren zu lassen. Kühne Linien und leuchtende Farben tanzten auf der nackten Haut der Menschen jener Zeit. Wer Vergnügungsstätten besuchte, wählte sich Sänftenträger mit kunstvoller Tätowierung. Die Damen der Vergnügungsviertel Yoshiwara und Tatsumi bevorzugten mit ihrer Gunst schön tätowierte Männer. Hochstapler und Feuerwehrmänner, ehrsame Bürger und sogar Edelleute, alle ließen sich tätowieren. Von Zeit zu Zeit fanden öffentliche Zurschaustellungen von Tätowierungen statt. Dort zeigten die Männer protzend ihre nackten Leiber, und man kritisierte die Tätowierungen nach ihren künstlerischen Entwürfen, lobte die Originalität der einen und tadelte die Mängel der anderen.“ (Tanizaki 1990: 11).
Tanizaki erzählt die Geschichte des begnadeten Hautbildstechers Seikichi. Sein Meisterwerk entsteht auf dem Rücken eines schüchternen Mädchens, das sich dem schmerzhaften Tätowierprozess im Atelier Seikichis bereitwillig unterwirft, um mit Fertigstellung der Arbeit eine unheimliche Persönlichkeitstransformation zu erfahren. Die von ihm geschaffene selbstbewusste Schönheit wird den Künstler in einem orgiastischen Akt vernichten. Doch zuvor darf er sein Werk noch einmal betrachten: eine riesige Spinne!
Während Tanizaki das fin de siècle -Thema der letalen Schönheitsschau im historischen Ambiente der späteren Edo-Zeit darbietet, behandelt auch ein aktueller Text aus dem Jahr 2003 eine erotisierte Welt des japanischen Tattoos: Kanehara Hitomis „Von Piercings und Schlangen“ ( Hebi ni piasu ) führt den Leser in das gegenwärtige Japan, in eine jugendliche Subkultur, in der „Körpermodifikationen“ wie Piercen und die Teilung der Zungenspitze ( split tongue ) populär sind. Die Protagonistin Rui lässt sich zudem ein Hautbild stechen. Zwischen ihr und dem Tätowierkünstler Shiba entwickelt sich eine leidenschaftliche Beziehung, die ähnlich wie bei Tanizaki als sadomasochistisches Szenario konstruiert ist und – so kann man vermuten – Shiba schließlich dazu treibt, Ruis Freund Ama zu töten.
Die literarischen Variationen geben wichtige Hinweise auf die Tradition des Tätowierens in Japan. Tatsächlich ist in der Edo-Zeit eine signifikante Hautdekorierungsmode zu verzeichnen, und gegenwärtig erlebt die japanische Tätowierkunst im Gefolge internationaler Strömungen eine kleine Renaissance.
Japanischem Hautschmuck, dem von westlicher Seite bescheinigt wird, „zu großer Vollendung gediehen zu sein“ (Stratz 1925: 98), haftete und haftet in Japan jedoch auch eine negative Seite an. Frühe Tätowierungen waren meist punitiver Art. Der Hautschmuck der Edo-Zeit brachte die Zugehörigkeit zu einem niederen Stand und/oder eine subversive Haltung sowie eine unbotmäßig starke Gruppenidentität zum Ausdruck; die Regierung erließ deshalb vielfach Tätowierverbote. Heute begegnet man in Japan Tattooträgern mit großen Vorbehalten, denn sie werden in erster Linie als Angehörige der japanischen Mafia, als yakuza , identifiziert.
Wann wurde in Japan zum ersten Mal tätowiert? Keramiken der mittleren Jômon-Zeit (ab 3000 v. Chr.) lassen Rückschlüsse auf Tätowierungen zu. Die Textkompilation Nihon shoki (um 720) gibt Hinweise auf Straftätowierungen nach chinesischem Vorbild. Unter Shogun Yoshimune wurde das Straftattoo im 18. Jahrhundert erneut institutionalisiert. Schon bei kleineren Delikten setzte man irezumi (= „Tusche einbringen“) als Schandmale. In den Freudenvierteln waren in die Arme eingeritzte Liebesschwüre ( kishôbori ) gebräuchlich, ebenso mit einem permanenten Schönheitspunkt ( irebukuro ) verzierte Handrücken. Die "Geckentätowierung" brachte in Einzelbildern bewunderungsheischenden Männerstolz ( otokodate ) zum Ausdruck.
Eine veritable Tätowierwelle wurde unter den Stadtbürgern im Edo-zeitlichen Japan durch die Rezeption des Romans Suikoden (dt. „Die Rebellen vom Liang Shang Moor“) ausgelöst, wie es der Japanologe und Kenner der Materie Dirk-Boris Rödel erläutert. Der anarchisch aufgeladene Text traf den Nerv einer Zeit, die mit strengen Reglements für das Bürgertum aufwartete. Einige Helden des Suikoden trugen Hautdekorationen. Die zeitgenössischen Holzschnittkünstler schufen Porträts der beliebten Recken mit den durch den Text verbürgten Tätowiermotiven Drache, Kirschblüte, Päonie und Kiefernzweig. Später war es Utagawa Kuniyoshi, der weitere Protagonisten mit Hautbildern versah. Seine Arbeiten setzten neue Maßstäbe, was Farben, Motive und Flächenaufteilung betraf, Holzschnittkunst und Tätowierkunst befruchteten sich gegenseitig. Bald erreichte das Hautstichgewerbe eine hohe Professionalität. Der Tätowierer wurde als horishi bezeichnet, sein immer wieder mit Verboten belegtes Produkt als horimono .
Um 1900 begeisterten sich westliche Ausländer für die 1872 als barbarischer Brauch erneut mit Nachdruck untersagte japanische Tätowierung. Der spätere englische König, Georg V., ließ sich ein exotisches Hautbild in den rechten Unterarm stechen, andere Prominente mit Japan-Tattoo waren Königin Olga von Griechenland und der spätere Zar Nikolaus II. (Rödel 2004: 78). Im Jahr 1948 wurde das japanische Tätowierverbot durch die Demokratisierungsvorgaben Amerikas außer Kraft gesetzt.
Eine der ältesten Tätowiertraditionen in Japan ist die der im Norden ansässigen Ainu, über die Stratz bemerkt: „Bei den Aïno, von denen diese Sitte vermutlich durch die Japaner übernommen wurde, tätauieren sich nur die Frauen, und auch diese nur im Gesicht.“ (Stratz 1925: 98). Im Band „Die Ainu und ihre Religion“ ist auch Armtätowierung nachgewiesen. Der Verfasser kommentiert zum Tattoo-Brauch der Ainu: „Die Tätowierung ist ein Tabu, so wie bei uns etwa die Trauergewandung, nur daß es bei den Ainu das zur Frau eines Mannes ersehene Mädchen ist, das durch die schon in den Jahren früher Kindheit begonnene, erst an der Braut vollendete Gesichtszeichnung kundgibt, daß es vergeben ist und also für andere Männer ein Noli tangere zu sein hat. Ohne die fertige Tätowierung konnte bis vor kurzem ein Mädchen nicht heiraten, und die Ainu selbst erklären, dieser alte, ursprünglich wohl apotropäische, Brauch sei ein nicht unwesentliches Stück ihrer Religion.“ (Haas 1925: 8).
Vagabundierende japanische Banden zählten zu den ersten Trägern des Hautschmucks im frühen 18. Jahrhundert. Auch Glücksspieler ( bakuto ), fahrende Händler ( tekiya ), Sumô-Ringer, Feuerwehrmänner sowie Sänftenträger und Riksha-Arbeiter trugen bis in die Moderne Japans Tätowierungen. Für Transporteure und Läufer im Nachrichtenbeförderungsgewerbe hatten die Bilder geschäftsfördernde Wirkung (Rödel 2004: 71). Europäische Beobachter dokumentierten die Tätowierungen der Dienstleister mit großem Interesse, so etwa Stratz in seinen „Japanischen Körperformen“ von 1925.
Mitglieder der Feuerwehr wählten für ihr Ganzkörperdekor häufig wasserbezogene Motive, die sie als Talisman verstanden, als möglichen Schutz gegen ihren Feind, das Feuer. Drachen galten als Wasserwesen, ebenso Meerestiere wie Fische, Kraken, Seesterne oder Krebse. Beliebt waren darüber hinaus Kirschblüten, Kraniche oder chinesische Heldenfiguren. Konträr zur weit verbreiteten Meinung, die Aristokratie habe nie Tattoos getragen, ist anzunehmen, dass auch einige Fürsten und Verwaltungsbeamte tätowiert waren, wohl weil sie um die Respekt einflößende Wirkung der Hautbilder in einschlägigen Kreisen wussten. Und nicht nur Männer trugen Tattoos, um zu imponieren. Seit der Edo-Zeit weiß man auch von tätowierten Frauen. Im gegenwärtigen Japan assoziiert man mit einer tätowierten Frau eine Gangsterlady – unter der Bezeichnung gokudô no onna eine verbreitete Gestalt in Populärliteratur und Film.
Zum Inventar der japanischen Hautbilder gehören Motive aus dem Tier- (Drache, Tiger, Schlange, Karpfen) und Pflanzenreich (Kirschblüte, Päonie), Themen aus einem religiösen Kontext (Bodhidarma, Fudô Myôô, Wind- und Donnergott ( Fujin/Raijin ), Boddhisattva Kannon), aus der Mythologie ( kirin ), aus der chinesischen und japanischen Literatur (die zwölf suikoden -Rebellen) sowie die spektakulären „grausigen Bilder“ (“Geckentätowierung“). Heute findet man auch ungewöhnliche, oft von der westlichen Sicht geprägte Motive.
Gegenwärtig öffnen sich japanische Tätowiermeister innovativen Themen. Besonders beeindruckend sind die Arbeiten des Künstlers Horiyoshi III, der in den 1990er-Jahren eine Serie von „Hundert Dämonenbildern“ schuf. Horiyoshi beabsichtigt eine Erweiterung der begrenzten traditionellen Motive. Der Meister verfolgt mit den unheimlichen Dämonen und Geistern auch ein innovatives künstlerisches Konzept, das in der Farb- und Kompositionsgestaltung subtil westliche Sichtweisen integriert, ein Denken, das Rödel als „nahezu revolutionär“ beschreibt (S. 90).
Dieses weiter gespannte Themen- und Stilspektrum spricht japanische Jugendliche an, die sich unter dem Einfluss westlicher Tätowierungen und Tätowierszenen dem Hautbild zuwenden. Dass die japanische Tätowierkunst an Elan verliert, ist offenbar nicht zu befürchten. Texte der zeitgenössischen Literatur bestätigen diese Vermutung: In Kanehara Hitomis Erfolgsroman „Von Piercings und Schlangen“ lässt sich die junge Protagonistin im Laufe ihrer Körpermodifikation tätowieren, und das ganz traditionell: mit dem Motiv „Drache und kirin “. Tätowieren bedeutet bei Kanehara einen atavistischen Akt der Initiation, der Identitätsfindung und der ästhetischen Rebellion gegen einen grauen Alltag. Wieder formieren sich also subversive Gesinnungsgemeinschaften. Die Mitglieder des tätowierten urban tribe der Gegenwart sind in ihrem neuen Bemühen, „schön zu sein“, die ästhetischen Anarchisten globalisierter Zeiten.
Haas, Hans (1925): Die Ainu und ihre Religion. Bilderatlas zur Religionsgeschichte, 8. Lieferung
Kanehara Hitomi (2003): Hebi ni piasu. Tokyo: Shûeisha
Rödel, Dirk Boris (2004): Alles über japanische Tätowierungen. Die japanische Tätowierkunst der Edo-Zeit und ihre Entwicklung bis zur Gegenwart. Uhlstädt Kirchhasel: Arun
Stratz, C. H. (1925): Die Körperformen in Kunst und Leben der Japaner. Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke
Tanizaki Junichirô (1990): „Tätowierung“. In: M. Donath (Hg.): Japan erzählt. Frankfurt/Main: Fischer
Prof. Dr. Lisette Gebhardt, Universität Frankfurt, Fachbereich Japanologie; Forschungsschwerpunkte: japanische Kultur und Literatur.
www.japanologie.uni-frankfurt.de
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008