NEUER SCHAMANISMUS IN TUWA - DER FOTOGRAF ALS LANGZEITBEOBACHTER

Eine Ausstellung im Adelhausermuseum

Von Hans Voges

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Der sibirische Schamane. Der Schamane Nadezda spricht mit dem Geist eines toten Mannes. Kyzyl, 2004. Foto: Stanislav Krupar

Der tschechische Fotograf Stanislav Krupar fährt seit mehr als zehn Jahren nach Tuwa, eine im südlichen Sibirien gelegene Teilrepublik der GUS. Er interessiert sich für das Wiedererstarken des Schamanismus in der postsowjetischen Zeit (das heißt nach 1990). In der sowjetischen Zeit war der Schamanismus, wie jede andere Art von religiöser Aktivität, verboten; die Praktizierenden wurden verfolgt. So brachen unter dem politischen Druck das Wissen und die Praktiken der Schamamen auseinander und gingen großenteils verloren. Erhalten hat sich eine Art verstümmelter tuwinischer Schamanismus nur noch im Verborgenen, gleichsam als eingekapseltes Nischenwissen.

Heute sind die Tuwiner dabei, nach einem gemeinsamen Selbstverständnis zu suchen, und versenken sich in ihr kollektives Gedächtnis, in dem noch immer Spuren schamanistischer Traditionen leuchten und einen allgemeinen Bezugspunkt darstellen. Die zeitgenössische Arbeit am kollektiven Gedächtnis (die von dem Streben nach Eigenem und Unterschiedenem zehrt) kann sich allerdings nur an eine stark fragmentierte Überlieferung wenden. Außerdem muss sich die schamanistische Wissenspraxis auf die Bedingungen der Gegenwart einstellen - das heißt einerseits auf den Kenntnisstand der Praktizierenden, andererseits auch auf die Bedürfnisse potenzieller Klienten. Nach dem sowjetischen Traditionsabbruch lebt der Schamanismus im Großen wie im Kleinen unter völlig veränderten Bedingungen wieder auf und muss in weiten Teilen neu erfunden werden.

Im Vergleich zu schamanistischen Glaubensweisen in anderen Weltregionen sind in den letzten beiden Jahrzehnten in Tuwa höchst eigenwillige Hybridformen entstanden. Schamanen waren in früheren Zeiten „Einzelkämpfer“, die in einer engen Schüler-Lehrer-Beziehung in ihre Kenntnisse hineinwuchsen und deren Streben nach Wissen an den Grenzen ihrer Gemeinschaft Halt machte. Heute steht den Schamanen die ganze Welt zur Verfügung, als Bühne der Selbstdarstellung wie auch als Erscheinungsort von Sympathieträgern. Die schamanistische Intelligenz sucht sich ihre geistigen wie praktischen Instrumente überall. Ihr potenzielles Publikum ist zahlreich dank der Dauerkrise, in die die postsowjetischen Gesellschaften hineingeschliddert sind. Die neuen Schamanen arbeiten nicht länger individuell, sondern schließen sich häufig zu Gemeinschaftspraxen zusammen, manche von ihnen nennen sich Kliniken. Die zeitgenössischen Kommunikationsmedien wie Telefon, Handy und das Internet sind ihnen vertraut.

Die Attraktivität des alten wie die des neuen Schamanismus liegt auch darin, dass er nicht bloß eine Glaubenslehre formuliert, die Trost und Orientierung spendet. Der Schamanismus umfasst zugleich auch vielfältige Therapieangebote für eine weite Palette von Erkrankungen. In den letzten Jahren sind neue Krankheitsbilder (zum Beispiel Alkoholismus) zu diagnostizieren gewesen, ungewohnte Gefahrenquellen (wie Wohnungen in Plattenbausiedlungen und Autos) sind aufgetaucht, die einer schamanistischen Behandlung für wert erachtet werden.

Die Vitalität dieser schamanistischen Moderne, die sowohl religiöse wie politische Antriebe hat, ist es, die den Fotografen Stanislav Krupar fasziniert. Als geduldiger Beobachter widmet er sich den genannten Feldern, auf denen sich neuerdings Schamanen tummeln, von denen einige seine Freunde geworden sind. Man sieht auf diesen Fotos allerdings noch mehr: Ihr Reservoir sind die an den Umbrüchen der gegenwärtigen Gesellschaft gescheiterten Menschen, die geschlagen und verletzt zu ihnen kommen und denen sie Kraft und Zuversicht einzuflößen versuchen. Auf die Bedingungen einer Gesellschaft, die den Anschluss an ihre Geschichte sucht, deren Institutionen (wie Bildung und Gesundheit) zusammengebrochen sind, deren Mitglieder häufig arbeitslos, verzweifelt und krank sind, geben sie in den Augen vieler eine zeitgemäße Antwort. Gut ist an den ausgestellten Bildern zu merken, dass sich der Fotograf nicht nur mit den Menschen, für die er sich Zeit nimmt, identifiziert und Sympathie zu ihnen entwickelt. Es wird darüber hinaus sichtbar, dass es ihm auch gelingt, zu ihnen Distanz einzunehmen, ohne die Sympathie völlig aufzugeben. So wird in den Fotos der gegenwärtige Zustand einer sich in Schmerzen vollziehenden gesellschaftlichen Veränderung deutlich.

Einziger Wermutstropfen: Zu sehen ist im Adelhausermuseum in Freiburg nur ein kleiner Auszug aus einer langfristig angelegten fotografischen Arbeit, die menschliche Beziehungen dokumentiert und zugleich empathische wie kritische Beobachtung ist. Aber dafür können wir Stanislav Krupar schon jetzt danken.

Ein Katalog oder wenigstens eine kleine Broschüre hätten der Ausstellung überdies gut getan.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008