Von Igor Eberhard
Einmal vorneweg: Es gibt keine Wunder mehr. Das ist einfach so. Die Zeit der Wunder ist ein für alle mal vorbei. Auch in Museen erwartet kein einziger Mensch mehr Wunder. Warum auch?
Wohl einer der berühmtesten Philosophen der Postmoderne, Jean-François Lyotard, meinte einmal, dass Museen „einer gottlosen Kathedrale“ gleich kämen. Er hat diesen Begriff für uns hier, im „Westen“ geprägt. Wir Ethnologen, Wissenschaftler, Museumsschaffende beziehungsweise wir Europäer und Nord-Amerikaner seien Teil dieser „gottlosen Kathedrale“, wie er weiter ausführt. Weil es keine Wunder mehr gibt in unserem Alltag, würden wir uns Künstler und Museen „erschaffen“. Das mag sein. Es greift jedoch zu kurz.
Wir brauchen neue Kathedralen, denn die Gottlosen, das sind aus seiner Sicht wir; und um uns vor der „ewigen Nacht“, der Sinnlosigkeit zu bewahren, haben wir Museen geschaffen. Der Westen sagt sich, dass es „irgendeine Sache, die sich der Nacht endgültig widersetzt, verdient, gefeiert zu werden.“ Zu kurz greifend, irrt er sich. Denn wer geht wirklich mit staunenden Augen in Museen und erwartet ein Wunder zu finden? Die Allerwenigsten mit großer Sicherheit. Die Macht und die Möglichkeiten von Museen, von Kunst und von Wissenschaft werden von ihm überschätzt. Die „echten“ Kathedralen sind vielmehr die Kinos, Shoppingcenter und Einkaufsstraßen der Konsumgesellschaft. Vielleicht sind Museen sogar nur eine Art Mehrwert der Konsumgesellschaft, eine andere Form von Unterhaltungsmanufakturen. Ausgestattet nur mit der Autorität des Faktischen. Vielleicht.
Keine Wunder?
Eine besondere Art von Mehrwert und gleichsam eine besondere Art von Wunder ist dennoch dem Frankfurter Museum der Weltkulturen gelungen. Die kleine und dichte Fotoausstellung des in Neuseeland lebenden Tiroler Fotografen Arno Gasteiger kann nicht anders beschrieben werden. Er hatte Glück: Gerda Kroeber-Wolf und Peter Mesenhöller ist im Rahmen dieser kleinen Ausstellung sehr viel gelungen. Die Fotografien haben durch ihre Arbeit vermehrt ein „Gesicht“ und eine Wirkung verliehen bekommen. Doch das macht noch kein Wunder, sondern „nur“ professionelle Arbeit aus. Umso erstaunlicher, da diese kleine Schau eine Erweiterung der "Hautzeichen - Körperbilder”-Ausstellung darstellt, die das Museum der Weltkulturen zeitgleich im Haus Schaumainkai 29 zeigt. Arno Gasteiger hingegen ist mit seiner Fotoausstellung ein kleines Wunder oder vielleicht eher ein großer Wurf gelungen. Ganz nach Betrachtungsweise.
Inhaltlich wird in den 16 großformatigen schwarz-weiß Fotografien und in den biographischen Begleittexten „am Beispiel Neuseelands die zeitgenössische Praxis des Tatauierens in Ozeanien“ (wie es im Pressetext heißt) präsentiert. Seine Bilder erzählen durchaus intime Geschichten von einzelnen Maori, von ta moko (den Maori Tatauierungen), von maoritanga (der Maori-Erneuerungsbewegung) und vor allem von Individuen und ihrem Leben. Im ethnologischen Alltag leider immer noch eine Seltenheit.
Sechs Maori schildern ihr Leben, ihre Lebenswege und Einstellungen aus ihrer Sicht. Sie hatten das Selbstbestimmungsrecht über ihre Fotografien und ihre Texte und haben diese (mit-)gestaltet. Das Einschreiben der tätowierten Zeichen ist ein Beispiel für den Wandel ihres Lebens: Ihr Leben entwickelte sich parallel mit ihren Tatauierungen und ihren Einstellungen zu diesem Thema. Angefangen haben sie alle mit der Ablehnung von Tattoos oder nur mit Gefängnis- oder Gang-„Inschriften“, ausgeführt von ihren Zellengenossen oder irgendwelchen Backyard-Studios. Das hat sich geändert. Viele Tattoos wurden in späteren Lebensabschnitten durch moko überdeckt und erweitert, zum Teil der eigenen Geschichte gemacht, wobei ta moko das Ziel und der Ausgangspunkt dieser Form der Selbst-Bestimmung und -Findung war.
Für viele Maori definiert sich ihre Identität durch ta moko , die traditionellen Tätowierungen. Ta moko war durch die weißen Kolonisatoren verpönt, verboten und weitgehend ausgerottet. Erst im Zuge des Maori Widerstands ab den 1980er Jahren, durch die Wiederentdeckung der eigenen Werte und eigenen Wurzeln, ist eine neue Form von Freiheitswillen entstanden: Maoritanga , das Leben als Maori.
Maoritanga
Eine gemeinsam verstandene Identität als Maori über einzelne iwi (in etwa „Stämme“, lose Verbände mit hierarchischer Struktur), besteht erst seit ungefähr 150 Jahren und ist eine Folge der Kolonialisierung Neuseelands und des äußerst umstrittenen Vertrags von Waitangi 1840. Im Vertrag von Waitangi traten die Häuptlinge verschiedener iwi ihre volle Souveränität an Queen Victoria und die britische Krone ab. Maori wurden offiziell britische Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten. Bis heute sind Maori den pakeha , den weißen Neuseeländern, weder ökonomisch, noch landrechtlich, noch sozial oder in der Bildung gleichgestellt. Durch Landlosigkeit und Armut wurden viele Maori in die Städte und in schlecht bezahlte Hilfsarbeiterjobs gezwungen. Sowohl durch die langjährige Ungerechtigkeit, die grassierende Armut und die Hoffnungslosigkeit, als auch durch das Verbot der eigenen Sprache hat sich seit dieser Zeit ein gemeinsames Maori-Selbstverständnis herausgebildet. Dies resultierte aus verschiedenen Protestbewegungen und aus einer Revitalisierung der eigenen, tribalen Kultur. Durch verschiedene Aktionen, andauernde Proteste und einem immer stärker werdenden Selbstbewusstsein wurde 1975 das Waitangi Tribunal-Gesetz beschlossen und 1985 der “Treaty of Waitangi Amendment Act“. Durch Einberufung des Waitangi Tribunal seit 1977 und dessen Bemühungen wurde Maori zweite Landessprache und verschiedene iwi haben Landrechte zurückbekommen. Damit sind zwei wichtige Fundamente des maoritanga , des Maoritums, zumindest teilweise erfüllt.
Neben der Sprache ist vor allem die Verbindung zum Land und zur Gemeinschaft wesentlich. Die Gemeinschaft wird vor allem als aus waka bestehend verstanden. waka ist im weitestens Sinn eine Art Stammeskonföderation mit Ursprung in den mythischen Kanus der Vorfahren, iwi , hapu (Subeinheiten der iwi , ungefähr: Clan) und whanau , der Großfamilie. Die Berufung auf die heiligen Ahnen und auf die entsprechende Genealogie ( whakapapa ) schaffen heute soziale Anerkennung. Die überlieferten Werte und Traditionen, die Rückbesinnung auf Identitätscluster, wie zum Beispiel iwi , whakapapa – und seit einiger Zeit wieder auf whakairo (traditionelle Kunstformen wie Schnitzen und ta moko ), – bilden maoritanga , die Basis der Identität als Maori.
Ta moko
Das Wiederaufleben von ta moko als Teil der zeitgenössischen Maori-Kultur fand zuerst im urbanen Umfeld statt. Die meisten moko wurden zuerst bei Aktivisten, Intellektuellen, Sportlern, Rastafaris und Gang-Mitgliedern angebracht (2001 erschienen sogar in “National Geographic“ Fotos von Maori-Gangmitgliedern mit moko , “custom tattoos“ und Gefängnistätowierung). Mitte der 1990er-Jahre ist ta moko Teil politischer Aktivität und subkultureller Erscheinungsformen geworden. Zum Teil hat es damit ähnliche Bedeutung wie im amerikanisch-europäischen Kontext bekommen. Moko sind mittlerweile auch Mittel der Agitation in der Auseinandersetzung um indigene Rechte und indigenes Copyright. Im Jahr 2000 starteten etwa Maori aus Auckland eine Kampagne gegen das Verkehrsministerium: “Because each moko tells the story of its wearer, Mr Hake and fellow campaigner Rangi McLean, manager of the Manukau People's Centre, say selling images of the tattoo will breach intellectual property rights guaranteed under the Treaty of Waitangi.” (Collie:
03.02.2005) Ta moko sind ein sehr sensibler Bereich in der Maori-Kultur.
Zurück zur Ausstellung
Arno Gasteiger hat bei seinen Recherchen über die Maori-“Black-Power New Zealand“-Gang seinen wichtigsten Gewährsmann Martin Cooper, einen ehemaligen Führer dieser Gang, kennen gelernt. Über ihn bekam er die Erlaubnis für diese Fotografien. Dies ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Aus Furcht vor der Verletzung des Copyrights und aufgrund bitterer Erfahrungen mit dem Missbrauch ihrer Fotografien, etwa als abschreckende Werbung für Sicherheitsfirmen, bekommen heute nur noch wenige Fotografen die Erlaubnis, Fotografien von tatauierten Maori zu machen und sie auszustellen beziehungsweise zu publizieren (vergleiche etwa das umstrittene Buch von Hans Nelemann: Moko. Maori-Tattoo. Zürich, New York 1999 oder das von Gordon Toi Hatfield und Patricia Steur: Dedicated by Blood. Den Haag 2003).
Die Fotografierten Martin Cooper, Bernadette Papa, Laura Rahui, Tuhoe Isaak, Te Orohi Paul und schließlich Hakopa Paul haben sich verändert. Die Zeiten der Kriminalität sind vorbei. Sie sind alle erfolgreiche Persönlichkeiten geworden, sind angesehene Mitglieder ihrer Gemeinden und zum Teil maoritanga -Aktivisten geworden. Nur durch diese menschliche und kulturell-basierte Stärke und den daraus resultierenden Stolz konnten diese Bilder zustande kommen. Sie haben durch ihre Zusammenarbeit diese Ausstellung ermöglicht.
Die Umsetzung und Vermittlung von Aspekten der Kultur der Maori, insbesondere von der Kunst der Tatauierung, über das Medium Fotografie, ist ein schwieriger Weg, wenn sie nicht in Ethnokitsch oder Kommerz abrutschen soll. Dazu wird ein Fotokünstler benötigt. Der Erfolg von „Ta Moko – Tatauierte Lebenswege der Maori. Fotografien von Arno Gasteiger, Neuseeland“ sagt viel über den Fotografen – und auch den Menschen Arno Gasteiger aus. Die Ausstellung entspricht diesem. Das ist ein kleines Wunder.
Lyotard, Jean-François (2004): Das Elend der Philosophie. Passagen Philosophie. Wien
Eberhard, Igor (2004/2005): “We are Māori and we are proud” – Zwischen kultureller Renaissance und kirituhi. Untersuchungen zu Identitätskonstrukten am Beispiel von Tätowierungen der Māori (tā moko). In: Mitteillungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien (MAGW). Band 134/135, S. 151-163
03.02.2005 (National Geographic)
03.02.2005 (Waitangi Tribunal)
Igor Eberhard. Kulturanthropologe, Journalist, Künstler. Studium der Ethnologie, Germanistik, Philosophie und Geschichte an der Universität Mainz und an der Universität Wien. Mitarbeiter beim Tattoo Guide Europa. Forschungsstipendium der Universität Wien zum Thema ta moko, Maori Tätowierungen. Seit 2006 Dissertant an der Universität Wien.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008