BEKLEIDUNG UND SELBSTINSZENIERUNG

Zur zapotekischen Frauentracht in Juchitán, Mexiko.

Von Annegret Hesterberg de Hernández

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Zapoteca in huipil und rabona auf dem Markt von Juchitán, 1994. Foto: A. Hesterberg de Hernández

Kleidung an sich „macht“ nicht den Menschen, aber sie vermittelt in einzigartiger Weise das, was ihr Träger oder ihre Trägerin von sich nach außen geben will. Sie ist eine „zweite Haut“. Dabei hat sie den Vorteil, dass sie nicht - wie der Körper - von der Natur vorgegeben ist, sondern in ihrem Schnitt, der Ornamentierung, dem Material und der Weise, wie sie getragen wird, frei wählbar, gestaltbar und manipulierbar ist. Jede Bekleidungsform stellt also in diesem Sinne eine bewusste oder unbewusste „Inszenierung“ dar.

Bezogen auf Trachtenkleidung, scheint diese These auf den ersten Blick sonderbar, da es sich oft um Formen und Muster handelt, die über einen langen Zeitraum hinweg überliefert wurden und beispielsweise die Funktion haben können, den Träger als Mitglied einer bestimmten Gruppe zu kennzeichnen. Doch das Erscheinungsbild an sich ist in der Regel nicht statisch, sondern unterliegt dynamischen, unterschiedlich auffälligen Veränderungen. Durch sie können dann im Laufe der Zeit zum Beispiel solche Elemente in die Tracht integriert werden, die aktuell geltende Einstellungen der Gruppe besser nach außen repräsentieren, als es die ursprüngliche Form vermochte.

Betrachtet man die zapotekische Frau und ihre Tracht in der südmexikanischen Kleinstadt Juchitán, ist vieles anders als erwartet: Obwohl der Ort auf der Landenge zwischen Atlantik und Pazifik keinesfalls abgeschieden liegt, sondern über mehrere Jahrhunderte wichtiger Handelsknotenpunkt zwischen Nord- und Zentralamerika beziehungsweise Europa und Asien war und eine Unzahl fremder Menschen und Einflüsse erlebte, wurde die traditionelle indianische Bekleidungsform bisher nicht durch ein modernes „Outfit“ verdrängt. Die Tracht ist nicht nur bei festlichen Anlässen, sondern auch im Alltag präsent und wichtiger Bestandteil der regionalen Ökonomie.

Darüber hinaus gelten die Indianerinnen, die sie tragen, im ethnischen Panorama Mexikos als einzigartig. Reisende - seit dem 19. Jahrhundert bis heute - bezeichnen sie als unabhängig, charakterlich stark, frei und stolz. Ihre äußere Erscheinung orientiert sich auch heute noch am Ideal der körperlichen Fülle und stört sich wenig am aktuellen, weltweit durch die Medien propagierten Schlankheitswahn. Trotzdem wurden und werden sie mit „Südseeschönheiten“ verglichen und als exotisch, aristokratisch oder sogar königlich beschrieben.

Die Gründe für die starke Verwurzelung im „Eigenen“ liegen im positiven Selbstbild der Zapoteken. Die positive Rückspiegelung von Außenstehenden basiert auf einer gezielten Selbstinszenierung der eigenen Präsenz und Stärke, bei der die Tracht als wichtiges Instrument eingesetzt wird.

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Tanzende Frauen in enagua de holán. Juchitán, 1995. Foto: A. Hesterberg de Hernández

Die Tracht der Frauen aus Juchitán besteht in ihrer heutigen Form seit mehr als 100 Jahren. Als präkolumbianisches Erbe kann dabei der huipil (ein einfach geschnittenes Obergewand, heute aus industriell gefertigten Stoffen) betrachtet werden, dessen gerade, rechtwinklige Konstruktion auf die Gestaltungsmöglichkeiten des Hüftwebstuhls zurückzuführen ist. In Juchitán und den umliegenden Gemeinden wird er heute körpereng getragen und reicht knapp bis zur Hüfte. Zwar werden in einigen Geschäften und auf dem Markt fertige huipiles zum Kauf angeboten, doch gibt man ihn in der Regel bei einem Sticker der Region in Auftrag. Trotz eines individuellen Spielraums bei der Ornamentauswahl und Farbigkeit gelten dabei bestimmte Gestaltungsregeln, die gesellschaftsbedingt sind und eingehalten werden müssen.

Der handgewebte enredo (Wickelrock) wurde vor etwa 140 Jahren durch einen zugeschnittenen Rock, eine Variation der zeitgenössischen städtischen Mode, ersetzt und ist heute aus dem Bekleidungsrepertoire ganz verschwunden. Stattdessen werden für den täglichen Gebrauch die „mobileren“ Rockformen falda oder rabona getragen. Die falda fällt von der Taille an glockenförmig abwärts bis zur Erde. Die rabona wird meist aus einem sehr leichten, chiffonartigen Stoff genäht. Die Rockbahnen sind gerade geschnitten und am Rockbund stark gekräuselt oder in winzige Fältchen gelegt. An der Unterkante wird ein circa 28 Zentimeter langer Volant aus dem gleichen Stoff angesetzt, der bis zur Erde reicht. Für besondere Feste wird die enagua de holán (Rock mit angesetzter Spitze) getragen. Er wird aus Stoffen wie Samt oder Satin gearbeitet und besteht aus drei gerade zugeschnittenen Bahnen, die im Rockbund ebenfalls gekräuselt oder gefältelt sind. An der Unterkante wird eine mindestens 28 Zentimeter lange plissierte weiße Spitze, der holán , angesetzt, die heute ebenfalls überwiegend aus Kunstfaser hergestellt wird. Alle drei Rockformen haben an der Unterkante eine Mindestweite von drei Metern, was ihnen im Zusammenspiel mit der Stoffqualität ein großes Volumen und der Trägerin – im Vergleich zum Wickelrock – größtmögliche Bewegungsfreiheit verleiht. Kombiniert wird jeder Rock mit einem weißen Unterrock, der ebenfalls aus Spitze besteht oder mit Lochstickerei verziert ist. Die Ornamentierung besteht überwiegend aus floralen Motiven, entweder gedruckt wie bei den Stoffen von falda und rabona oder aufwendig handgestickt wie auf den huipiles und den meisten enaguas de holán . Die einzige geometrische Ornamentierung wird mithilfe alter Singer-Stickmaschinen der Jahrhundertwende kunstvoll auf huipiles oder enaguas de holán gestickt, und die Variationen der Muster scheinen unendlich zu sein. Jeder bestickte huipil kann mit jeder Rockform egal welcher floralen Ornamentik kombiniert werden, und nur der handbestickte enagua de holán verlangt nach einer exakten Kombination mit einem passenden huipil. Die Farbgebung ist also in jedem Fall mehr- bis vielfarbig, und jedes Teil an sich ist ein Einzelstück.

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Mädchen mit huipil grande während eines traditionellen Umzugs durch die Straßen Juchitáns, 2001. Foto: A. Hesterberg de Hernández

Als Accessoires werden schwere Goldketten mit eingearbeiteten Münzen sowie passende Ohrringe getragen, und auf Festen wird die Tracht oft durch einen huipil grande , ein blusenförmiges Kleidungsstück aus Spitze mit Scheinärmeln und Spitzenbesatz an Unterkante und um den Halsausschnitt, das jedoch als Kopfbedeckung dient, ergänzt.

Doch die Tracht ist nichts ohne ihre Trägerin: Geht man über einen der Plätze Juchitáns oder kauft auf dem Markt ein, der fest in der Hand der Händlerinnen liegt, ist das Bild beeindruckend: aufrecht gehende Frauen, oft Körbe mit Waren auf dem Kopf balancierend. Jede in einer anderen Kombination der Tracht, deren Farben unter der strahlenden Sonne des Isthmus mit den angebotenen Waren und Blumen um die Wette leuchten. Andere breitbeinig sitzend und lautstark und selbstbewusst ihre Waren offerierend. Kaum weiß man, wohin man zuerst schauen soll. Doch keine der Frauen ist zu übersehen. Ihre starke Persönlichkeit wird durch die Tracht unterstrichen. Zum einen durch die bunte, eindrückliche Farbgebung, zum anderen durch die Form der Kleidungsstücke an sich.

Der huipil liegt eng an, und die Armöffnungen sind bis dicht unter die Achseln geschlossen, sodass die Oberarme daraus hervorquellen. Die Leibesfülle, Zeichen von Wohlstand und Gesundheit, wird nicht versteckt, eher noch betont. Einen spannungsreichen Gegensatz dazu bieten die weiten, ausladenden Röcke. Sie verschmelzen optisch mit der Figur der Trägerin und erzeugen die Illusion eines gesteigerten Körpervolumens. Dabei nimmt nicht nur der Betrachter die größere Körperpräsenz wahr, sondern auch die Sinne der Trägerin erleben ein erweitertes Bewusstsein ihrer selbst. Stehen sie, bietet sich dem Betrachter eine Silhouette mit kegelförmiger Basis, die Stabilität und Standfestigkeit ausdrückt. Die Hüften der Trägerin sind nach vorne geschoben, die Füße in bequemen huaraches (einfache Sandalen) stehen sicher auf dem Boden. Diese Frau wirft so leicht nichts um. Ist die Trägerin in Bewegung, zeigt sich, dass die verschiedenen Rockformen nicht einengen, sondern der aktiven, mobilen Zapotekin größtmöglichen Bewegungsspielraum bieten. Sie schreitet weit aus, wobei die Bewegung auf den meist fließenden Stoff übertragen wird. Die Volants und Spitzen „rauschen“ elegant über den Boden, der Rock schwingt in den Bewegungen der Trägerin nach, und Anmut und Dynamik der Trägerin werden noch verstärkt (s. Abb. 1).

Diese Beobachtungen lassen sich sowohl in Bezug auf die Alltags- als auch auf die Festtracht machen. In der Festtracht treten darüber hinaus weitere Aspekte zutage. Das Tanzen der sones (traditionelle Tänze mit festgelegter Gestik) ist zum Beispiel nur in der traditionellen Tracht möglich. Eher als ein Tanzen im herkömmlichen Sinne ist es ein langsames, würdevolles Dahinschreiten. Dabei wird der enagua de holán mit beiden Händen gerafft und vor dem Körper etwas auseinander gezogen, die ursprüngliche Ausdehnung des Rockes also noch gesteigert. Gleichzeitig wird der wertvolle Unterrock sichtbar und der Tanz zu einem attraktiven Spiel der Ent- und Verhüllungen (s. Abb. 2).

Ein anderes spektakuläres Accessoir ist der huipil grande , der je nach Anlass in zwei verschiedenen Formen getragen wird. Bei religiösen Anlässen wird er ganz über den Kopf gezogen, sodass vom Körper nur das Gesicht, das aus der spitzenumsäumten Halsöffnung herausschaut, zu sehen ist. Der Rest der Kopfbedeckung fällt weit über Schultern und Oberkörper, sodass die weiblichen Körperformen total negiert werden, die Silhouette komplett kegelförmig wirkt und den Bildern weiblicher Heiligenfiguren ähnelt. Dieser Eindruck ändert sich völlig, nachdem die religiöse Zeremonie beendet ist und der huipil grande nun so „aufgesetzt“ wird, dass die Spitze der Unterkante des Kleidungsstückes wie eine Krone auf dem Kopf sitzt und so einen kostbaren Rahmen für Gesicht, Haartracht und Oberkörper der Trägerin abgibt, der die weiblichen Attribute, die kurz zuvor noch negiert wurden, nun betont. Die Grenze des Körpers wird nach oben erweitert, die Figur der Trägerin wirkt größer, würdevoller und fast königlich (s. Abb. 3).

Neben diesen durch die visuelle Wahrnehmung gesteuerten Eindrücken ist bei der Festtracht innerhalb der zapotekischen Gesellschaft auch der Aspekt des Prestigegewinns durch ein besonders wertvoll gewähltes Material, die Herstellung durch einen besonders berühmten Sticker und die Häufigkeit, mit der man eine neue Tracht vorführt, von größter Wichtigkeit.

Es wird deutlich, dass die Tracht innerhalb der zapotekischen Gesellschaft Juchitáns ein Instrument positiver Selbstdarstellung verkörpert, die „moderne“ Kleidung nicht bietet. So ist es kein Wunder, dass diese Kleidungsform trotz „Globalisation“ und schnelllebigen Wandels, von dem der Ort nicht ausgenommen ist, bis heute überdauert hat. Die Frauen Juchitáns haben viele Gesichter: Sie sind attraktive, aktive und unabhängige Frauen, Mütter, „Heilige“ und „Königinnen“. In der Tracht inszenieren sie jeden einzelnen dieser Aspekte. Das Ergebnis ist eine nicht zu übersehende „Präsenz“.

Weiterführende Literatur

Brasseur, C. (1981): Viaje por el Istmo de Tehuantepec 1859 - 1860. México, D. F.
Covarrubias, M. (1946): Mexico South - The Isthmus of Tehuantepec. London
El istmo y sus mujeres – Tehuanas en el Arte Mexicano. Museo Nacional de las Artes. México D. F., 1992
Giebeler, C. (1994): „La presencia - Die Bedeutung der Tracht“. In: V. Bennholdt-Thomsen (Hg.). Juchitán – Stadt der Frauen. Hamburg, S. 173 - 190
Henss, Martina (1994): Kleidung als Mittel der Körperstilisierung und des persönlichen Ausdrucks. Münster, New York
Hesterberg, A. (2000): „Presencia compartida - Una segunda piel“. In: Artes de México, Nr. 49, S. 38 - 43
Scheinmann, P. (1991): „A line at a time - Innovative patterning in the Isthmus of (Isthmian) Mexico“. In: M. Blum Schevill; J. C. Berlo (Hg.): Textile Tradition of Mesoamerica and the Andes. New York, S. 63 - 88

Zur Autorin

Annegret Hesterberg de Hernández, geb. 1965, Pädagogin und Textilwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Bekleidungsforschung. Mehrjährige Feldforschung in Mexiko, Ausstellungs- und museumsdidaktische Projekte in Mexiko und Spanien. Zurzeit im Schuldienst Nordrhein-Westfalens.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008