Von Bernhard Wörrle
Schamanen gelten bei uns als besonders traditionelle Heiler: Ihr Wissen, heißt es häufig, sei „uralt“, die Rituale hätten sich seit zwei, drei tausend Jahren kaum verändert. Doch wenn man in Ecuador im Behandlungszimmer eines Schamanen sitzt, merkt man rasch, wie wenig dieses Bild der Wirklichkeit entspricht: Auf dem im Hochland üblichen „Altar“ mit Ritualobjekten findet man in der Regel auch katholische Heiligenfiguren, chinesische Buddhas oder kleine Pyramiden aus Plexiglas. Darüber hängt häufig eine Urkunde, aus der hervorgeht, dass der Heiler zu einer staatlich anerkannten Schamanenorganisation gehört. Auch die westliche Medizin hat ihre Spuren hinterlassen: Bei manchen curanderos stehen Medikamentenschränke oder Untersuchungsliegen im Behandlungszimmer. Nicht selten wird das Heilungsritual mit der Empfehlung von Tabletten kombiniert. Einige Heiler geben ihren Patienten sogar Spritzen. Von einer Tradition, die sich seit Urzeiten fast nicht gewandelt hat, kann also keine Rede sein.
Obwohl sie nicht die einzige Triebkraft ist, spielt die westliche Medizin bei diesem Veränderungsprozess eine zentrale Rolle. Schon in der Kolonialzeit wurden Elemente aus dem medizinischen System der Spanier übernommen: So geht zum Beispiel die Urinschau, die manche Schamanen im Hochland Ecuadors als Diagnosetechnik praktizieren, auf eine Methode zurück, die damals in Europa üblich war. Umgekehrt haben die Spanier von den Indianern den Gebrauch zahlreicher Heilpflanzen übernommen. Die rituellen Aspekte, die in der indianischen Medizin nicht weniger bedeutsam sind, Gebete, Opfer, Reinigungszeremonien und so weiter, wurden dagegen verboten und verfolgt, weil sie als Hexerei betrachtet wurden.
Durch einen ähnlichen Eklektizismus zeichnete sich bis zur Verfassungsreform Ecuadors von 1998 auch der nationalstaatliche Umgang mit indigenen Heilern aus: Bis dahin war die Ausübung von Heilberufen – und dazu zählte auch der Schamanismus – ohne ein entsprechendes Diplom verboten. Wer sich erwischen ließ, landete nicht selten im Gefängnis und kam erst nach Zahlung eines hohen Bußgelds wieder frei. Am Heilpflanzenwissen der Indianer war der Staat dagegen durchaus interessiert: Möglicherweise enthielten die Kräuter ja tatsächlich Wirksubstanzen, die zur Entwicklung neuer Medikamente dienen konnten. Die Heiler begannen, sich dem anzupassen. So gründeten die Schamanen eines Hochland-Dorfs einen Verein, der laut Statuten „die phytochemischen Grundlagen der traditionellen Medizin erforscht“, um eine rechtliche Anerkennung vom Gesundheitsministerium zu bekommen. Obwohl ihre medizinisch-rituellen Praktiken die gleichen waren wie vorher, konnten sie fortan unbehelligt als Schamanen praktizieren.
Andererseits hat diese Form der staatlichen Anerkennung den Heilern aber auch zahlreiche Neuerungen aufgezwungen. Schon die Gründung eines Vereins mit Präsident, Vizepräsident, Schatzmeister und Sekretär, formalen Statuten und obligatorischen Mitgliedstreffen stellt eine völlig unübliche Form der „Professionalisierung“ dar, die immer wieder zu internen Problemen führte. Ein anderes Problem war der dem Ministerium jährlich vorzulegende Tätigkeitsbericht: Abgesehen von der normalen Subsistenzarbeit als Bauer oder Weber besteht die Tätigkeit eines Schamanen im Hochland Ecuadors hauptsächlich darin, Heilungsrituale durchzuführen. Hin und wieder badet er sich in bestimmten Quellen, um seine Kräfte wieder aufzufrischen. Darüber hinaus führt er vielleicht auch Schadenszauber aus. All das macht jeder Heiler individuell. Um die Vorgaben des Ministeriums zu erfüllen, waren jedoch auf einmal auch gemeinsame Aktivitäten nötig. Als „Beitrag des Vereins zur Überwindung der landesweiten Wirtschaftskrise“ veranstaltete man deshalb 1999 ein großes Opferritual an einem Wasserfall. Die Zeremonie war öffentlich, sogar die Presse und das Fernsehen wurden eingeladen. Der Tätigkeitsbericht war nun um einen Eintrag reicher. Doch eigentlich haben solche kollektiven Rituale im ecuadorianischen Schamanismus gar keine Tradition bzw. sind durch die Jahrhunderte lange Unterdrückung schon vor langer Zeit verloren gegangen.
Ein weitere Voraussetzung für die rechtliche Anerkennung des Vereins war die Bereitschaft, mit der westlichen Medizin zu kooperieren. Gedacht war dabei vor allem an eine Art Fortbildung für die Schamanen. Das lehnten die Heiler jedoch ab: Da ein Schamane anders heile als ein Arzt, mache es keinen Sinn, die beiden Systeme zu vermischen. Schließlich fand man eine Lösung, die auf den ersten Blick paradox erscheint. Als Beitrag zur Verbesserung der medizinischen Versorgung luden ausgerechnet die Schamanen Ärzte ein, die freiwillig eine kostenlose Sprechstunde für die Bevölkerung des Dorfs anboten!
Um im Vergleich zur westlichen Medizin nicht unprofessionell und oberflächlich zu erscheinen, sah man es aber plötzlich auch als nötig an, sich fortzubilden. Allerdings wandte man sich dafür nicht, wie es der Staat gerne gesehen hätte, an einen Arzt. Stattdessen organisierte man zusammen mit dem „Heilerhaus“ einer regionalen Indianerorganisation Ecuadors und einer NGO aus Amazonien ein mehrtägiges „Schamanen-Treffen“, zu dem auch Heiler aus Kolumbien eingeladen wurden. Die mit Plakaten öffentlich angekündigte Veranstaltung begann mit einer Opferzeremonie. An den darauffolgenden Tagen wurden Diagnosetechniken und Heilungsrituale vorgeführt und mehrere Workshops zum Austausch von Erfahrungen abgehalten. Sogar ein Faltblatt mit dem Veranstaltungsprogramm hatte man drucken lassen. Obwohl das Treffen den staatlichen Vorstellungen von Weiterbildung ein eigenständiges, indianisches Konzept entgegensetzen sollte, hat man letztlich die Strukturen einer akademischen Tagung übernommen.
Ähnliche Entwicklungen finden auch im Tiefland statt. Ein Schamanenverband in Amazonien veranstaltete zum Beispiel ein internes Seminar, auf dem die Mitglieder in Kurzvorträgen Wirkung, Anwendung und Dosierung der wichtigsten Heilpflanzen aus ihrem medizinischen Repertoire erörtern sollten. Die anderen wurden dazu angehalten mitzuschreiben. Aus den Rezepten solle irgendwann ein Buch entstehen, mit dem man dann versuchen wolle, einen staatlich anerkannten Titel als „botanisch-spiritistischer Arzt“ zu bekommen.
Auch auf den Visitenkarten, die sich viele Schamanen mittlerweile machen lassen, liest man immer öfter Bezeichnungen wie „vegetalista“ oder „médico botánico“, obwohl die Kräuter – anders als in der Hausmedizin – im Schamanismus nicht das zentrale Element darstellen: Die Heilung erfolgt hier vielmehr durch die Geister. Was man an Pflanzen verwendet, beschränkt sich im Tiefland meist auf halluzinogene Drogen, im Hochland auf Brennnesseln und zwei, drei andere Kräuter, mit denen der Körper des Patienten abgerieben wird. Möglicherweise ist dieser geringe Stellenwert aber erst das Ergebnis einer historischen Entwicklung: Die Wirkung der Heilpflanzen richtet sich gegen die Symptome einer Krankheit. Für diese wird heute aber, wenn die Hausmedizin nicht hilft, eher der Arzt als zuständig betrachtet, während man vom Schamanen vor allem erwartet, dass er die tiefere Ursache bekämpft. Die untergeordnete Rolle, die die Heilpflanzen in der Praxis spielen, hat vielleicht den gleichen Grund wie ihre überproportionale Darstellung nach außen hin: Die Auseinandersetzung mit der westlichen Medizin. Nur, dass man sich in diesem Fall nicht anpasste, indem man genau das betonte, was auch die Biomedizin (zumindest prinzipiell) für wirksam hält. Wenn die vermutete Entwicklung tatsächlich so verlaufen ist, zog man sich statt dessen auf einen therapeutischen Bereich zurück, in dem keine Konkurrenz bestand.
Neben solchen Anpassungs- und Abgrenzungsprozessen finden auch Integrationsversuche statt. Im „Heilerhaus“ einer Indianerorganisation im Hochland Ecuadors arbeiten ein Schamane und eine traditionelle Hebamme mit einem Zahnarzt und zwei westlich ausgebildeten Ärztinnen zusammen. Obwohl man sich gelegentlich sogar Patienten überweist und eine gemeinsame Verwaltung hat, stellt sich die Integration allerdings mehr als ein Nebeneinander denn als echtes Miteinander dar: In der Praxis ist der biomedizinische Befund für den Schamanen genauso wenig relevant wie dessen, aus einer Kerzenflamme oder in schwereren Fällen aus einer Eingeweideschau erstellte Diagnose für die beiden Ärztinnen. Dass Letztere in einer Anzeige als „Röntgenaufnahme mit dem Meerschweinchen“ bezeichnet wird, erinnert eher an die Medikamentenschränke, Untersuchungsliegen, die man bei manchen Heilern im Behandlungszimmer sieht: Man entlehnt aus der westlichen Medizin zwar Elemente, übernimmt aber nicht das System an sich.
Besonders ausgeprägt ist diese Form der Übernahme bei den städtischen Heilern. Gleichzeitig versuchen sie im Wettbewerb um die Patienten aber auch, sich von den Ärzten abzusetzen. Gerade bei den „Stadtschamanen“ sind deshalb auffällige Federkronen und andere Paraphernalia aus Amazonien weit verbreitet. Die Antwort auf die westliche Medizin scheint also teilweise in einer Revitalisierung indigener Elemente zu bestehen. Doch dieser Eindruck täuscht: Im Amazonastiefland selbst verwenden die Schamanen oft gar keinen Federschmuck. Ähnlich wie im Fall des kollektiven Opferrituals handelt es sich hier um eine „erfundene Tradition.“
Auf die westliche Medizin, die nicht nur eine neue Konkurrenz darstellt, sondern als offizielles medizinisches System gleichzeitig auch die Macht besitzt, abweichende Praktiken zu unterdrücken, haben die Heiler also mit einer Vielzahl kreativer Strategien reagiert. Um den Fortbestand der Tradition zu garantieren (und allem Anschein nach gibt es heute in Ecuador mehr Schamanen als je zuvor), hat man sich angepasst, doch die Veränderungen betreffen vielfach nur die Oberfläche: Gerade die auffälligsten Übernahmen sind häufig die mit der geringsten Tiefenwirkung. Dort, wo er nicht so offensichtlich ist, ist der Einfluss der westlichen Medizin allerdings oft um so größer. Die Gründung einer Schamanen-Organisation oder ein kollektives Opferritual stellen sehr viel weitreichendere Adaptionen dar als eine Untersuchungsliege im Behandlungszimmer.
Wörrle, Bernhard 2002: Heiler, Rituale und Patienten: Schamanismus in den Anden Ecuadors. Berlin: Dietrich Reimer Verlag.
Schweitzer de Palacios, Dagmar & Wörrle, Bernhard (Hrsg.) 2003: Heiler zwischen den Welten. Transkulturelle Austauschprozesse im Schamanismus Ecuadors. Marburg: Curupira.
Dr. Bernhard Wörrle, Ethnologe, Mitarbeiter des Instituts für Biodiversität (ibn), Regensburg, Feldforschungen in Kolumbien und Ecuador.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008