Von Bettina E. Schmidt
Wenn jemand krank ist und sich entscheiden muss auf welche Art und Weise die Heilung erfolgen soll, dann hängt viel davon ab, wie die Krankheit in der jeweiligen Kultur eingeordnet und definiert wird. In vielen Kulturen sind es religiöse Spezialisten, die sich um körperliche Erkrankungen kümmern, da ein Leiden unter Umständen als Strafe für den Verstoß gegen religiöse Regeln aufgefaßt wird, so daß eine Linderung nur eintritt, wenn der Verstoß gesühnt und die Götter oder Geister versöhnt sind. Oftmals stehen den Erkrankten Spezialisten unterschiedlicher medizinischer Systeme zu Verfügung, das heißt sie können entscheiden, wer für die Krankheit am besten geeignet ist. Dieser Synkretismus des Heilens nimmt derzeit auch in unserer Gesellschaft zu. Die indianischen Kulturen wie die der Purhépeche in Mexiko praktizieren ihn aber bereits viel länger.
Der medizinische Pluralismus bedeutet die Präsenz mehrerer medizinischer Systeme, die als gleichwertig angesehen werden. Es entsteht gewissermaßen ein neues System, das sich aus Elementen von diversen Systemen zusammensetzt. Die Schulmedizin ist nur ein Element unter vielen, auf die Patienten in bestimmten Situationen zugreifen können, und hat keinen Absolutheitsanspruch.
Meine Forschung habe ich in dem Dorf Tarecuato durchgeführt. Es liegt auf einer Höhe von etwas unter 2000 m in der Sierra Tarasca, einem Gebirgszug im Westen des mexikanischen Bundesstaates Michoacán. Tarecuato liegt an einer Bundesstraße, in der Nähe der Distrikthauptstadt Zamora, und ist damit verkehrstechnisch sehr gut angebunden. In Tarecuato leben etwa 7000 Personen, die sich überwiegend als Purhépecha bezeichnen.
Der Bundesstaat Michoacán im Westen von Mexiko umfaßt das traditionelle Siedlungsgebiet der Purhépecha, einer indianischen Ethnie, die etwa 1200 n. Chr. ein einheitliches Königreich gründeten. Das Reich konnte sich mit seiner Landwirtschaft gut versorgen, ein spezialisiertes Handwerk hervorbringen und einen vielfältigen Handel mit benachbarten Regionen betreiben. 1530 wurde der letzte König der Purépecha von den spanischen Eroberern getötet und das Reich damit zerstört (Engelbrecht 1987).
Heute leben im Bundesstaat Michoacán etwa 45.000 Purhépecha. Der mexikanische Staat bemüht sich um ihre Integration in die Gesellschaft unter Aufgabe der indianischen Identität, aber die Purhépecha beharren weiterhin stolz auf ihre eigene Kultur. Dennoch geht der Gebrauch der eigenen Sprache in den letzten Jahren immer weiter zurück. Die Purhépecha leben meistens von Subsistenzwirtschaft, besonders vom Anbau von Mais, Bohnen und Kürbissen, sowie vom Verkauf kunsthandwerklicher Produkte auf den Märkten oder an Zwischenhändler.
Durch Berichte spanischer Missionare ist bekannt, daß zu Beginn der Kolonialzeit folgende Experten unterschieden wurden: Jurím(i)echa waren als Hexer bekannt; Hirípati(e)cha wurden als «Pfleger des Feuers» bezeichnet; Curítiecha waren Priester, die auch bestimmte Krankheiten heilen konnten; und daneben wurden noch allgemein curanderos erwähnt, die vor allem mit Heilpflanzen heilten. Eine Erkrankung wurde somit oftmals mit religiösen Problemen verbunden, so daß zur Heilung ein religiöser Spezialist wie ein Hexer oder Priester aufgesucht wurde. Daneben war insbesondere die Heilpflanzenkunde sehr weit entwickelt. Nach den historischen Quellen kontrollierte ein Vertreter des Königs alle Heiler, die eine besondere Stellung im Reich der Purhépecha hatten. Einige mußten sogar dem Herrscher ins Grab folgen, wohl deshalb, um ihm auch im Leben nach dem Tod dienstbar zu sein.
Nach der militärischen Eroberungen versuchten die Spanier, die Medizin durch massive Unterdrückung der Heiler zu zerstören. Dennoch gibt es bis heute in den Dörfern bis zu fünf verschiedenen Gruppen von traditionellen Experten: Xuhijki heilen hauptsächlich mit Pflanzen und werden bei leichteren Krankheiten konsultiert. Sie bereiten ihre Heilmittel meistens selber zu und geben ihren Patienten die Heilkräuter gleich mit. Ihr Wissen vererben sie oftmals in ihren Familien, wo sich in der Regel ein Kind oder Enkel findet, der Interesse an Heilpflanzen hat. Síkuame verfügen über magische Kräfte. Der Kontakt zu ihnen ist zu meiden, es sei denn, man benötigt ihre Dienste. Hebammen sind fast ausschließlich für die Geburtshilfe zuständig, sowohl vorbereitend als auch anschließend. Meistens handelt es sich um ältere Frauen mit einer großen Erfahrung in der Geburtshilfe, die bei komplizierten Fällen einen Arzt hinzuziehen. Jaiárpiti behandeln Krankheiten mit ihren Händen, zum Teil durch Abtasten und zum Teil durch Massagen. Manchmal werden sie als traditionelle Chiropraktiker bezeichnet. Jaiáchakpiti behandeln spezielle Kinderkrankheiten, nämlich das Einsinken der Fontanelle. Die Krankheit äußert sich in Verdauungsstörungen sowie Stürzen.
Neben diesen traditionellen Heilern bieten in der Region noch weitere Heiler ihre Dienste an. Sie verwenden Elemente aus unterschiedlichen Systemen, wie Okkultismus, Hexerei und Heilpflanzenkunde, zum Teil sogar Akupunktur. Die Patienten sind allerdings meistens keine Purhépecha, da sie diese Mischung als Hexerei ablehnen (Rendón 1981).
Die indigene Landbevölkerung wird in Mexiko gegen einen geringen Beitrag durch das Instituto Mexicano del Siguro Social (IMSS) versorgt, die in den größeren Dörfern Gesundheitsstationen und in den Kreisstädten Krankenhäuser betreuen, die den versicherten Bauern kostenlose medizinische Behandlung anbietet. Das Institut wurde 1953 im Zuge einer allgemeinen Annäherung an die indigene Bevölkerung zur besseren medizinischen Versorgung der Landbevölkerung gegründet. Seit 1979 wird ein Programm zur Förderung der dörflichen Gesundheitsversorgung durchgeführt. Die Ärzte der Gesundheitsstationen sind in der Regel gerade abgeschlossene Medizinstudenten, die für die Approbation ein Jahr beim IMSS arbeiten müssen. Sie arbeiten in den Stationen mit einem Helfer zusammen, der meistens aus dem Dorf stammt. Zwar ist die medizinische Versorgung kostenlos, in der Regel fehlt es allerdings oft an Medikamenten. Auch aufgrund des ständigen Wechsels der Ärzte gehen die Patienten, wenn sie es sich leisten können, zu Privatärzten, von denen gesagt wird, daß sie mehr technische Geräte hätten, oder aber gleich in die Klinik in die Distrikthauptstadt. Dort müssen meistens auch die Medikamente besorgt werden, da die Dörfer über keine Apotheke verfügen (Young 1981).
Für die medizinische Versorgung stehen somit mehrere Gruppen von Experten zur Verfügung: zum einen traditionelle Heiler und zum anderen die Schulmediziner. Zwar entspricht das Zahlenverhältnis zwischen Schulmediziner und Patient keineswegs den deutschen Maßstäben, aber das Medizinsystem ist insgesamt betrachtet sehr viel vielseitiger und nicht nur auf eine Form reduziert. Der Patient bestimmt zusammen mit seiner Familie in jedem Krankheitsfall gesondert, wie und von wem die Krankheit behandelt wird. Die erste Diagnose wird stets von den Patienten und ihren Familien getroffen. In vielen Fällen wird zuerst versucht, die Krankheit mit eigenen Mitteln zu heilen. Dafür steht eine beeindruckende Auswahl an Heilpflanzen zur Verfügung, die entweder selber gesammelt werden oder auf dem Markt getrocknet oder auch frisch gekauft werden können. Die Verkäufer der Heilpflanzen bieten zusammen mit dem Produkt auch Therapievorschläge an, so daß viele Kunden ihnen die Symptome schildern und daraufhin bestimmte Kräuter angeboten bekommen. Häufig ergänzen leichte Schmerzmittel das Heilmittelangebot, zum Beispiel Aspirin, das in jedem kleinen Läden einzeln gekauft werden kann. Auch wird umgekehrt die Einnahme von Pharmaprodukten durch Heilpflanzen ergänzt, meistens ohne Absprache mit dem Arzt.
Erst wenn die Selbstbehandlung nicht den gewünschten Erfolg bringt, wird je nach Art und Schwere der Krankheit, nach dem Vertrauen zu den jeweiligen Experten und nach den finanziellen Möglichkeiten über die weitere Behandlung entschieden. Versagt der zuerst gewählte Experte oder wird die Behandlung als unzureichend eingestuft, wird der Patient zu einem anderen gebracht. Daneben gibt es aber auch Erkrankungen, die von vornherein bestimmten Experten zugeordnet werden. Bei Verletzungen, Knochenbrüchen, Zahnschmerzen und Skorpion- bzw. Schlangenbissen wird der Patient in der Regel sofort zu Schulmedizinern gebracht, während Erkrankungen, die als kulturspezifische Phänomene wie zum Beispiel Susto oder Empacho diagnostiziert werden, nur von traditionellen Heilern behandelt werden können.
Im Verlauf der wenigen Wochen, die ich im Haus einer Purhépecha-Familie verbrachte, wurden die unterschiedlichsten Heiler aufgesucht. Über Heilpflanzenkenntnisse verfügt die Frau des Hauses selber. Darüber hinaus wurden Vertreter der Schulmedizin aufgesucht, zwei Jaiárpiti sowie ein Síkuame . Über die Wahl des Heilers entschied die Familie nach einer ersten Selbstdiagnose der Erkrankung, nach der eingeschätzten Schwere der Krankheit sowie nach dem Vertrauen, das die Vertreter genießen. Jeder Heiler wird als Spezialist geachtet, wenn sie auch in verschiedenen Rubriken tätig sind und über unterschiedliche Kräfte verfügen. Da Erfahrung allerdings als sehr wichtig angesehen wird, sind die Ärzte in der Gesundheitsstation aufgrund ihrer Unerfahrenheit nicht sehr gut angesehen. Ihr Medizinsystem als solches aber ist ein wichtiger Bestandteil der medizinischen Angebots.
Zwischen den Gruppen von medizinischen Experten hat sich mit der Zeit ein Gleichgewicht eingestellt. Traditionelle Heiler arbeiten neben den Schulmedizinern, und die Patienten entscheiden, zu wem sie gehen. Leider gibt es noch immer keine Kooperationen zwischen den Systemen. Zwar bemühte sich das IMSS seit den 1980er Jahren um die Zusammenarbeit mit traditionellen Heilern hinsichtlich der Wirkung und Anwendung der Heilpflanzen. Das Ziel des auch vom WHO unterstützten Projektes ist es, durch verstärkten Einsatz von Heilpflanzen auf den Import der teuren Pharmaprodukte verzichten zu können oder sogar mit den lokalen Ressourcen eine eigenständige Pharmaindustrie aufzubauen. Aber das Mißtrauen gegen Regierungsprogramme und ihre Vertreter ist bei der indigenen Bevölkerung noch groß. Traditionelle Heiler haben Angst vor einer erneuten Ausbeutung, und lassen sich auch nicht gerne als minderwertig behandeln wie es noch immer oft geschieht. Diese Gräben lassen sich nur durch einen langsamen und kontinuierlichen Annäherungsprozeß überwinden (Schmidt 1991).
PD Dr. Bettina E. Schmidt, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Marburg, Feldforschung in Mexiko, Puerto Rico, Ecuador, New York, Peru und Deutschland. 2. Vorsitzende der AG Ethnomedizin. Veröffentlichung u.a. „Karibische Diaspora in New York: Vom Wilden Denken zur Polyphonen Kultur“. Berlin: Reimer Verlag.
Engelbrecht, B. (1987) Töpferinnen in Mexiko. (Baseler Beiträge zur Ethnologie). Basel.
Rendón, S. (1981) Notas sobre curanderismo en la meseta Tarasca. Mexiko: Dirección General de Culturas Populares.
Schmidt, Bettina (1991) Zur medizinischen Versorgung der Purhépecha in Tarecuato, Mexiko. In: Curare, Vol. 14: 217-220
Young, J.C. (19981) Medical Choice in a Mexican Village. New Brunswick/New Jersey.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008