Von Viola Hörbst
Das Dorf Jesús María (ca. 1.500 Einwohner) liegt in der Sierra Madre Occidental in Westmexiko. Etwa die Hälfte seiner Einwohner sind Mestizen, die den ökonomischen Bereich domi-nieren; die andere Hälfte der Bewohner sind neben einigen wenigen Huichol vor allem Cora, die von Subsistenzwirtschaft und Gelegenheitsarbeiten leben. Nicht wenige Cora und Mestizen migrieren für längere Perioden in die USA, Fernsehen und Telefon sind inzwischen für viele verfügbar. Auch neue Kommunikationstechniken wie das Internet gestatten öffentlichen Zugang zum „Rest der Welt“.
Seit 1996 gibt es ein sogenanntes gemischtes Krankenhaus. Je ein Trakt ist für Biomedizin und für die “traditionelle“ Heilkunde eingerichtet. Dieser Bereich umfasst sieben Räume und einen Kräutergarten. Hier arbeiten Vertreter der Organisazión de los Médicos Indígenas de Nayarit (OMTEN). Zusammengeschlossen sind in der OMTEN HeilerInnen der fünf verschiedenen Ethnien der Sierra: Cora, Huichol, Mexicaneros, Tepehuanos und Mestizen. In 6-monatigem Turnus wechselt je ein Team bestehend aus religiösem Heiler, Hebamme, Massagespezialistin, Knocheneinrenker, Kräuterheilkundigen und Dolmetscher. Vor ihrem Einsatz erhalten die Mitglieder eine Grundausbildung in biomedizinischen Bereichen, um - so die Aussage der Verwaltung - in der Lage zu sein, ernsthaft Erkrankte an die Fachärzte weiterzureichen
Im Verhältnis zwischen Biomedizin und traditioneller Heilkunde im Krankenhaus von Jesús María ist der Überlegenheitsanspruch der Biomedizin auffallend. Die Verwaltung und die Mehrheit der Ärzteschaft hält Massagen und ähnliches . und auch die Kräuterheilkunde in einfachen Krankheitsfällen für sinnvoll. Religiöse Heilungsformen werden dagegen als Aberglaube und Scharlatanerie angesehen. Zurückzuführen ist dies auf die Anschlussfähigkeit von Kräutergaben und manuellen Anwendungen im biomedizinischen Denken. Der individuelle, materielle Körper gilt als Ursache für Erkrankungen und an ihm wird die Behandlung vollzogen. In der Biomedizin werden ähnlich ausgerichtete Praktiken, wie Medikamentengabe, Massagen oder Krankengymnastik, angewendet. Spirituelle Bereiche kommen dabei nicht vor. So werden religiöse Heilungsformen von der Verwaltung und der Mehrheit der Ärzte als Unsinn abgetan und ihnen jegliche Auswirkung auf die Gesundheit abgesprochen.
Dies steht im krassen Gegensatz zur Beurteilung der Cora: Die Arbeit religiöser Heiler wird für wesentlich effizienter gehalten als etwa Massagen oder Kräutergaben. Wissen und Fertigkeiten in diesen Bereichen gelten gemeinhin als Alltagspraktiken, die viele Cora beherrschen, ohne den Status eines Heilers zu erhalten. Dies bleibt letztlich den religiösen Heilern vorbehalten.
Insofern werden indigene Heilungsansätze im traditionellen Krankenhausteil neu gewichtet: Hebammen, Massagekundige, Knocheneinrenker und Kräuterheilkundige werden von Ärzten und Verwaltung im Krankenhaus als Heiler eingeordnet und den den religiösen Heilern vorgezogen. Dadurch wird das eigentliche Verhältnis beider Bereiche der Cora-Heilkunde gerade umgekehrt.
Konzeptuell ist die „traditionelle Heilkunde“ im Krankenhaus damit als „invented traditional medicine“ zu betrachten: “Invented”, weil Menschen mit Kräuterwissen oder Kenntnissen in Massage und Knocheneinrenken außerhalb des Krankenhauses nicht als Heiler gesehen werden.
Die OMTEN-Heiler reagieren hierauf mit einer doppelten Strategie. Vordergründig akzeptieren sie diese Bewertung: gegenüber der Ärzteschaft werden die „manuellen Anwendungen“ wie Massage betont. Besucher von staatlichen Stellen aus anderen Teilen Lateinamerikas, die an diesem Pilotprojekt interessiert sind, werden zum Informationsaustausch an den Kräuterheilkundigen oder Massagespezialisten verwiesen. Zu diesen werden aber auch Mestizen, die sich als Patienten im traditionellen Trakt befinden, weitergeleitet. Materielle Behandlungsmethoden werden hier von den OMTEN-Heilern selbst in den Vordergrund gerückt, die religiösen Dimensionen jedoch kaschiert. Gegenüber indigenen Patienten aber ist das Verhalten gerade umgekehrt: fast alle werden zum religiösen Heiler als wichtigste Behandlungsform geschickt.
Die im Krankenhaus praktizierte Biomedizin wird von Heilern der Cora und OMTEN, aber auch von vielen indigenen Patienten wiederum als wenig effizient betrachtet. Patienten und Heiler machen sich zwar Medikamente wie Aspirin, Injektionen und Antibiotika zu Nutze und unterziehen sich auch Operationen. Doch viele sehen die Wirksamkeit der Biomedizin als begrenzt an. Dies wird unterstützt dadurch, dass die Ärzte stets die Überlegenheit ihrer Praktiken betonen. Die Cora aber machen die Beobachtung dass nicht allen Menschen von den Ärzten geholfen werden kann. Im Gegenteil: Im Krankenhaus sterben Menschen, obwohl die Ärzte sagen, sie hätten wesentlich mächtigere Möglichkeiten. Die Ärzte bleiben den Cora aber befriedigende Erklärungen dafür schuldig.
In diesem Zusammenhang beurteilen viele Cora ihre Praktiken als wesentlich weitreichender und effektiver. Grundvoraussetzung für die Wirksamkeit aller heilkundlichen Eingriffe, so die Cora, ist das Regeln der Beziehungen gegenüber Ahnen, katholischen Heiligen und Cora-Gottheiten.
Diese vielfältigen Beziehungsstränge zu „nicht-menschlichen Akteuren“ werden als costumbres bezeichnet. Die costumbres -Beziehungen verlaufen auf drei verschiedenen Ebenen: Zunächst ist jedes Individuum über Vater, Mutter oder Ehepartner mit mindestens zwei Heiligen bzw. Cora-Gottheiten verbunden. Verpflichtungen daraus sind, an den Jahresfesten des Heiligen oder Ahnen teilzunehmen, sie regelmäßig in der Kirche zu besuchen und sie mit Gaben und Rezitationen zu umsorgen. Neben diesen costumbres halten derzeit vier Cora-Familien in Jesús María besondere religiöse Verpflichtungen ein. Es sind Mitote – rituelle Gesangs- und Tanzzeremonien, welche in enger Verbindung zu Wachstum und Metamorphosen von Mais und Hirsch stehen. Jeder so Verpflichtete und seine Familie müssen jährlich drei Mitote ausrichten. Beide costumbres -Formen haben individuelle und familienbezogene Wirkungsbereiche. Wenn die damit verbundenen Verpflichtungen gegenüber den Heiligen oder die Mitote nicht oder nur ungenügend erfüllt werden, so führt dies zu Missernten, Leiden und Krankheiten in den Familien. Das sind dann falta de costumbres . Grundlegende Voraussetzung für eine Besserung is das Wissen welche Gottheit, welcher Heiliger oder Ahne dahinter steht, um die guten Beziehungen zu ihm wiederherzustellen. Dies ist die primäre Aufgabe der religiösen Heiler. Erst wenn die Beziehungen wieder im Lot sind, können verschiedene Methoden und Behandlungen effektiv sein. Und das umfasst ausdrücklich auch biomedizinische Praktiken und Substanzen. Nicht-heilbare Fälle werden auf schwerwiegende Verstöße von Menschen zurückgeführt.
Falta de costumbres gilt als Erkrankungsursache auch bezüglich der kollektiven costumbres der Cora, in welche die individuellen und familiären Verpflichtungen eingebettet sind. Organisiert werden sie durch ein verzweigtes Ämtersystem. Insgesamt umfasst es in Jesús María ca. 50 jährlich wechselnde Amtspositionen. Im Mittelpunkt dieser Aktivitäten steht die Aufrechterhaltung der Verbindung zum Cora-Pantheon. Alle Amtsinhaber nehmen an dieser Kommunikation auf verschiedene Art teil. Durch gemeinsame Anstrengungen von Gottheiten und Menschen wird die Basis für die Kontinuität des Kosmos und für das Wohlergehen der Menschen gewährleistet. Dieser Effekt wird nicht nur für die Zeremonialgemeinschaft, sondern für die gesamte Welt in Anspruch genommen, das heißt neben den Cora sind dabei ganz Mexiko, USA, Kanada und auch die Menschen in Deutschland eingeschlossen. Eine universelle und globale Ausrichtung der Cora-Aktivitäten wird dabei klar formuliert. Sichtbar wird dies an Gebetsaufführungen, bei denen in alle vier Himmelsrichtungen Gottheiten und Ahnen von den Rändern der Welt “aufgerufen” werden.
Damit sind die Aktivitäten der Amtsgruppen eng mit der Gesundheitsvor- und fürsorge des Zeremonialzentrums verbunden: einerseits tritt die Ämtergemeinschaft zusammen, wenn spezifische Erkrankungen Individuen oder die Gemeinschaft als Ganzes bedrohen; andererseits werden Zeremonien durchgeführt um Gottheiten aufzufordern, drohenden Erkrankungen auf kollektiver Ebene vorzubeugen (Hörbst 2002).
Indigene und biomedizinische Haltungen stehen sich mit ihrem Anspruch, das überlegene und universell gültige Wissen zu besitzen, in nichts nach. Beide ordnen das jeweils andere ihren eigenen Wertigkeiten unter. Beide fügen Elemente des anderen in ihre eigene Weltsicht ein, indem sie sie uminterpretieren. Allerdings gelingt dies den Cora vor Ort wesentlich flexibler, als umgekehrt den Medizinern im Krankenhaus, die sich des ebenfalls globalen Anspruches der Cora nicht bewusst sind.
Die Haltung der Cora mittels spiritueller Bereiche über effektiveres Wissen zu verfügen findet weitere Verbreitung: Aspekte ihrer medizinischen Weltsicht werden – abgewandelt - von Esoterikinteressierten in USA und Europa als „Gegengewicht“ zu westlichen medizinischen Techniken aufgenommen: spirituelle Welten als Grundlage von Heilungen und Prävention werden hier in eine andere Weltsicht eingepasst. Was die Sierra anbelangt, stehen die Huichol-Heiler in höherem Kurs. Sie werden in die USA, nach Italien oder Deutschland eingeladen und Gruppen-Reisen in Huichol-Gebiete werden organisiert. Dies trifft für die Cora noch nicht zu, aber auch hier tauchen erste „Heilsuchende“ auf. Und einige Cora-Heiler erkundigten sich bereits bei mir nach dem „Standort Deutschland“. Durch die stete, teils dauerhafte Migration der Cora in die USA, den global ausgerichteten Wirkungsanspruch ihres Wissens und einer fortschreitenden Suche von Esoterik-Kreisen sowie dem gestiegenen ethnologischen Forschungsinteresse an den Cora ist zu erwarten, dass Cora-Heilungsformen nicht an begrenzte Lokalitäten gebunden bleiben, sondern an verschiedenen Orten Umsetzungen finden. Auch diese Verbreitung und Adaption von Cora-Wissen in verschiedenen Regionen der Welt kann als weiterer Ausdruck gegenwärtiger Globalisierungsprozesse betrachtet werden (Hörbst und Wolf 2003).
Hannerz, Ulf 1992: Cultural Complexity. Studies in the Social Organization of Meaning. New York
Hörbst, Viola 2002: Heilungslandschaften. Umgangsweisen mit Erkrankung und Hei-lung bei den Cora in Jesús María, Mexiko. Unveröffentlichte Dissertation, Uni-versität Freiburg
Hörbst, Viola und Angelika Wolf 2003: Globalisierung der Heilkunde: Eine Einführung. In: Wolf, Angelika und Viola Hörbst (eds.): Globalisierung und Medizin: globale Ansprüche – lokale Antworten. S. 3-30. Münster
Whyte, Susan Reynolds 1997: Questioning Misfortune. The Pragmatics of Uncertainty in Eastern Uganda. Cambridge
Dr. des. Viola Hörbst, Ethnologin, Lehrbeauftragte am Institut für Ethnologie und Afrikanistik, München.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008