Von Doreen Montag
Die peruanische Stadt Urubamba liegt auf 2863 Höhenmetern über dem Meeresspiegel am Ostabhang der Anden, 72 Kilometer von Cuzco und ca. 33 Busstunden von Lima entfernt. Man kann über zwei asphaltierte Straßen die Viertausender nach Cuzco hin überqueren: einmal über Chincheros oder durch das Heilige Tal über Pisaq. Urubamba ist die Provinzhauptstadt der gleichnamigen Provinz, zu der 7 Distrikte gehören. Zu jedem Distrikt zählen wiederum kleinere comunidades indígenas (Dörfer). Die Provinz Urubamba umfasst 52.432 Einwohner. Davon entfallen 13.642 auf den Distrikt Urubamba und ca. 7500auf die Stadt selbst. Die Bevölkerung hat Zugang zu traditioneller Medizin und Biomedizin. In der Kleinstadt befinden sich zwei Krankenhäuser, ungefähr 25 traditionelle Heiler und Kräuterfrauen sowie 9 Apotheken und kleinere Geschäfte, die Medikamente ohne Rezept verkaufen. Bei meiner Feldforschung im Jahre 2000 zum Thema „traditionelle und Bio-Medizin“ kamen die folgenden Interviews zustande.
Junge Ärzte, die in den beiden Krankenhäusern Urubambas arbeiten, haben in ihrer Ausbildung an den Universitäten gelernt, dass die Biomedizin den alleinigen Vertretungsanspruch im peruanischen Gesundheitssystem inne hat und kommen nun in der Praxis mit dem Nebeneinander von traditionellen andinen und biomedizinischen Heilverfahren nicht zurecht. Die biomedizinische Ausbildung vermittelte den Studenten westliche Deutungsmuster. Sie sind aber in anderen, in traditionellen Deutungsmuster groß geworden und haben auch andere Glaubensvorstellungen. Die Ausbildung in westlicher Medizin führt dazu, dass peruanische Ärzte nun aus einem anderen Blickwinkel heraus die traditionelle Medizin betrachten und in einen inneren Konflikt geraten.
Dr. Gisella sagt: „Unser Projekt (die schulmedizinische Ausbildung) ist dazu da, dass wir den Menschen zeigen, wie wichtig die Biomedizin ist und somit auch eine Inanspruchnahme derselben zum Beispiel in Form von einer Krankenversicherung. Doch viele Leute - gerade aus dem Umland von Urubamba, also nicht aus dem direkten Stadtkern - haben keinen Zugang zu biomedizinischen Leistungen. Sie wissen nichts über die Ärzte und lassen sich nur von traditionelle Heiler behandeln. [... deshalb sind wir ja hier, um den Menschen zu zeigen, dass der traditionelle Heiler keine Kompetenz hat und nur wir sie heilen können.“]
Herr Jimenéz ist Gesundheitsbeauftragter für die Provinz Urubamba. Auch er führt das Problem der jungen Ärzte auf die Ausbildung zurück. Er meint: “Es gibt keinen Konflikt. Die verwestlichten Ärzte haben eine Ausbildung erhalten, die auf die Stadt abgestimmt ist und nach den Bedürfnissen der Stadt konzipiert wurde. Es gibt eigentlich keine Ärzte, die für das ländliche Gebiet spezialisiert sind. Und doch versuchen die Ärzte die herkommen, die westliche mit der populären Medizin zu verbinden, also die Kräuter mit einzubeziehen. Ich würde auf keinen Fall von einem Konflikt sprechen. Wir haben sogar zwei Ärzte in Urubamba, die extra hergekommen sind, um die traditionelle Medizin zu studieren, somit unser Wissen und unseren Horizont zu erweitern.”
Interessanterweise haben die Patienten diesen Konflikt nicht. Für sie steht die Dichotomie von mal und enfermedad im Vordergrund. Unter mal verstehen die Urubambinos Krankheiten, die durch das Übergehen von sozialen Normen (zum Beispiel einen Spaziergang über Felder bei Schwangerschaft) oder Hexerei entstehen. Sie können nur von traditionellen Heilern behandelt werden. Ärzte haben keine Kompetenz zum Heilen von males. Enfermedades sind für die Bevölkerung die Krankheiten, die einerseits nichts mit sozialen Gesetzen zu tun haben und andererseits nur von Ärzten behandelt werden können. Dazu kann man ein Zitat von Laureen heranziehen:
„Die Ärzte kennen keine males , wie soq’a oder susto , die können sie nicht diagnostizieren. [... Die Ärzte können nur ]enfermedades heilen.“
Zur Biomedizin passt das enfermedad -Konzept. Dagegen ist das Konzept des mal in die westliche Medizin nicht integrierbar. Obwohl Patienten keine Probleme haben, sich für eins der beiden Medizinsysteme (andine und biomedizinische Medizin) zu entscheiden, ist dennoch nicht immer ganz klar, an welchen Heiler, Arzt oder traditionellen Heiler sie sich im Fall einer bestimmten Krankheit wenden sollen. Die Symptome einer Krankheit scheinen nicht immer eindeutig als mal oder enfermedad klassifizierbar.
Allerdings kann der Patient, auch nachdem er sich für ein Medizinsystem entschieden hat, in Konflikte geraten. Zum Beispiel, wenn der Arzt eine Untersuchung anordnet, die der Schicklichkeit widerspricht, wie im Fall einer gynäkologischen Untersuchung. Das ist dann aber ein Konflikt zwischen traditioneller Schicklichkeit und medizinischer Notwendigkeit und nicht ein Konflikt zwischen zwei Heilsystemen.
Überraschenderweise gibt es in ökonomischer Hinsicht keine Konkurrenz zwischen Ärzten und traditionellen Heilern. Herr Jimenéz sagt in Bezug auf die ökonomische Ebene:
„Die traditionelle Medizin besteht aus einem botanischen und aus einem magischen Teil. Gut, im Bereich des magischen Teils gibt es schon einen kleinen Konflikt, aber der manifestiert sich nicht richtig, da die Ärzte wissen, dass der magische Aspekt der traditionellen Medizin einen psychischen Effekt auf die Personen ausübt, der seine guten Resultate zeigt. Die Ärzte können bei den selben Patienten mit ihrer Medizin nicht die gleichen Resultate erzielen.“
Herr Jimenéz geht davon aus, dass Ärzte und traditionelle Heiler, zumindest aus der Sicht der Patienten, unterschiedliche Kompetenzbereiche in Anspruch nehmen. Wenn sich die Arbeit der Ärzte und traditionellen Heilern nicht überschneidet, sondern vielleicht sogar ergänzt, so kann es nicht zu einem ökonomischen Konflikt kommen. Die Behandlung bei einem traditionellen Heiler kostet ungefähr dasselbe wie im Krankenhaus und variiert zwischen 70 und 90 Cent pro Behandlung (ohne Medikamentenkosten). Weiterführende Behandlungen wie Operationen oder große Heilungszeremonien sind sehr teuer. Sobald jedoch ein Krankenhausaufenthalt notwendig ist, übersteigen die Kosten der Biomedizin, die der traditionellen Medizin. Dennoch kann man erst einmal davon ausgehen, dass für die ersten Konsultationen kein bemerkenswerter ökonomischer Unterschied besteht.
Dr. Paulus erzählt, dass er über einen längeren Zeitraum hinweg mit dem traditionellen Heiler Quispe zusammengearbeitet hat, um die traditionelle andine Medizin zu untersuchen und zu verstehen. Er meint, dass es in Urubamba von Seiten der Ärzte keinen ökonomischen Konflikt gebe. Jeder wisse über die Qualitäten des anderen Bescheid. Die traditionellen Heiler wären einerseits in der Lage Problemfälle zu lösen, zum Beispiel in der Unfallchirurgie oder in Bezug auf chronische Krankheiten, zu denen die Biomediziner noch nicht in der Lage wären. Andererseits wüssten die traditionelle Heiler aber auch, dass ihre Kompetenz eingeschränkt ist und sie nicht alle Krankheiten heilen können. Dr. Ramírez weiß, dass es in der Unfallchirurgie sehr häufig vorkomme, dass die Patienten nur ins Krankenhaus kommen, um ihre Röntgenaufnahmen abzuholen und sie ihrem traditionellem Heiler mitzunehmen. Er könne das Handeln der Patienten nur unterstützen, da die traditionelle Heiler in bestimmten Bereichen einfach ein qualifizierteres Wissen aufweisen. Auch er versucht das traditionelle andine Wissen zu untersuchen, um das Wissen der Ärzte zu erweitern. Die traditionellen Heiler sind für ihn keine Konkurrenten, sondern Spezialisten, mit denen die Ärzte zusammenarbeiten sollten.
Von Seiten der traditionellen Heiler wird auch nicht von einem Konflikt gesprochen. Ganz im Gegenteil, man weiß, dass es males gibt, die die Ärzte nicht kennen, und gleichzeitig kennt man die eigenen Grenzen. Sehr gerne wird darauf verwiesen, dass man mit Ärzten zu verschiedenen Anlässen zusammenarbeitet, ob das nun bei Seminaren in der Universität ist, im Rahmen des Erste-Hilfe-Programms des MINSA oder einfach um privat Wissen auszutauschen. Herr Chupani spricht davon, dass er Patienten auch ab und an ins Krankenhaus schickt, wenn sie kein mal hätten. Genauso würden auch er und seine Familie die Biomedizin in Anspruch nehmen, wenn sein eigenes Wissen an Grenzen stoße.
Zusammenfassend lässt sich in Urubamba kein Konflikt zwischen den Akteuren der Medizinsysteme feststellen. In Bezug auf die Deutungsmuster kann man einen kognitiven Konflikt bei den jungen Ärzten, jedoch nicht bezogen auf die Wahlhandlungen der Patienten und traditionellen Heilern innerhalb eines Weltbildes, ausmachen.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008