Von Vera Kalitzkus
„Schön, wenn Sie Ihr Herz verschenkt haben. Wollen Sie’s nach Ihrem Tod noch einmal tun?“, so fragt dies Plakat, das Teil einer Werbekampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (1996/1997) war und öffentliche Plakatwände in Deutschland zierte. Die Transplantationsmedizin ist auf die Bereitschaft der Bevölkerung angewiesen, im Falle eines Hirntodes einer Organspende zuzustimmen. Um die Organspendebereitschaft zu steigern werden öffentliche Werbekampagnen durchgeführt. In dem hier gezeigten Plakat wird an unsere Nächstenliebe appelliert. Es fordert uns auf, in einem Moment des Glücks auch an diejenigen zu denken, denen es weniger gut geht: schwerkranke Mitmenschen, die um ihr Leben bangen. Das Plakat verlangt einen rationalen Umgang mit dem eigenen Körper, nämlich diesen als reine Biomaterie zu betrachten, die nach dem Tod nutzlos für die Verstorbenen und deshalb medizinischen Zwecken zur Verfügung gestellt werden kann. Zugleich appelliert das Plakat an die emotionale Ebene der Menschen, in dem es die metaphorische Bedeutung des Herzen als Sitz der Gefühle anspricht. Die Tatsache, einem Menschen mit dieser guten Tat das Leben zu retten, sollte Grund genug sein, um sich, wie auf dem Plakat zu lesen ist, „mit gutem Gefühl für die Organspende zu entscheiden“. Diese Art der „Aufklärung“ thematisiert jedoch nicht, dass die Transplantationsmedizin das menschliche Selbstverständnis in zweifacher Hinsicht – bezüglich der menschlichen Identität und des Todes – erschüttert.
Das transplantationsmedizinische Körperverständnis verankert die menschliche Identität im Gehirn und geht von einer Trennung zwischen Körper und Selbst eines Menschen aus. Dies macht es möglich, das irreversible und vollständige Versagen des Gehirns als den Tod des Menschen zu betrachten und Patienten im Zustand des Hirntodes Organe zu Transplantationszwecken zu entnehmen. Es birgt jedoch die Schwierigkeit, dass sich der Tod in neuem Gewand präsentiert, nämlich in biologisch noch lebenden Leichnamen, die nicht mehr dem traditionellen Todesverständnis entsprechen. Der Tod verliert dadurch auf sinnlicher Ebene seine Nachvollziehbarkeit.
Durch die Trennung zwischen Körper und Selbst eines Menschen können defekte Körperteile – ähnlich einer Maschine – bei Bedarf ersetzt werden. Nur so ist die Übertragung menschlicher Organe vorstellbar, ohne dass diese die Gefahr einer Identitätsveränderung der Empfänger birgt. Es ermöglicht der Transplantationsmedizin, menschliche Organe in therapeutische Gegenstände zu verwandeln, die als wertvolle Bioressource dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Einmal herausgelöst aus dem Kontext des originären Körpers, besteht aus dieser Sicht keine Verbindung mehr zwischen den entnommenen Organen und dem Leib des Menschen, dessen konstitutiver Bestandteil sie waren.
Dennoch überschreitet die Transplantationsmedizin mit der Übertragung von Organen die Grenzen zwischen Individuen. Die Erfahrungen von Angehörigen hirntoter Organspender und von Organempfängern zeigen, dass neben dem rationalen biomedizinischen Körperverständnis immer auch die subjektiv-sinnliche Ebene, die empfundene Leiblichkeit, eine Rolle spielt. Dies lässt Fragen entstehen nach dem Tod eines Menschen in einem biologisch noch lebenden Körper oder Veränderungen auf psychischer Ebene durch die Übertragung eines Organs.
Können Betroffene beider Seiten die biomedizinische Sichtweise teilen und menschliche Organe primär als eine Ressource betrachten, die nach dem Tod für die Verstorbenen keine Bedeutung mehr haben? Oder sind Transplantate ihrem Empfinden nach – auch über den Tod hinaus – mit Aspekten der Leiblichkeit eines Menschen durchdrungen, was ihre Übertragbarkeit für die direkt Betroffenen erschweren würde?
Die Erfahrungen Angehöriger hirntoter Organspender verdeutlichen, dass weder der Körper der Hirntoten noch die entnommenen Organe von ihnen rein auf der physiologischen Ebene gesehen werden. Vielmehr werden sie in unterschiedlichem Ausmaß von den Hinterbliebenen als mit dem Organspender verbunden und deshalb nur bedingt von seiner Individualität trennbar empfunden. Die Ehefrau eines Organspenders konzeptionalisierte Transplantate primär auf der Ebene des Körpers, denn sie wisse, „dass im Herzen nicht die Psyche sitzt“. Sie hatte dementsprechend keine Probleme mit der Organentnahme und sah auch keine Verbindung zu den Empfängern der Organe ihres verstorbenen Mannes. Ihr genügte das Wissen, Menschenleben gerettet zu haben. Betroffene mit dieser Sichtweise kommen mit der heutigen Praxis der Transplantationsmedizin am besten zurecht. Viele Hinterbliebene bekundeten dagegen Interesse an der Seite der Organempfänger und hätten gerne mehr über sie erfahren. Ein Hinterbliebener äußerte, dies hätte ihm helfen können, ein Gegengewicht zu den unpersönlichen Strukturen in der Klinik zu setzen. Von anderen wurde eine Art Schicksalsverbindung angenommen, durch die ein Kontakt auf ‚übernatürlicher’ Ebene entstanden sei. Diese Vorstellungen verweisen auf eine über die physische Ebene hinausgehende Dimension bei einer Organübertragung, die zwischen der spendenden und empfangenden Seite existiert. Wiederum andere empfanden das Organ als einen so intimen Teil des Körpers und so eng mit der Identität eines Menschen verbunden, dass der Gedanke an die entnommenen Organe, die sich nun im Körper eines wildfremden Menschen befinden, als „grotesk“ und „äußerst schmerzhaft“ empfunden wurde.
Zentral ist für Hinterbliebene jedoch die Schwierigkeit, den Hirntod als den Tod des Menschen nachzuvollziehen. „Mein Sohn ist, wenn Sie so wollen, zwei Tode gestorben“, berichtete ein Vater vom Sterben seines erwachsenen Sohnes. Als schlimmste Phase empfand er die Zeit zwischen Hirntoddiagnose und Entnahmeoperation: „In dieser Phase, wo Sie den warmen Körper gehabt haben und gewusst haben, dass er tot ist. Und dass er hier quasi als Organspender am Leben erhalten wird.“ Die Fortsetzung intensivmedizinischer Betreuung hirntoter Organspender ist notwendig, um die Organe bis zur Entnahmeoperation funktionsfähig zu halten. Die Konfrontation mit einem „lebenden Leichnam“, die fehlende Zeit bei der Abschiednahme auf der Intensivstation und der Druck, in einer emotionalen Ausnahmesituation eine Entscheidung treffen zu müssen, von der sie das Leben anderer Menschen abhängig wissen, stellen eine zusätzliche Belastung für die Hinterbliebenen dar.
Für Organempfänger beginnt nach einer Transplantation ein „neues Leben“. Dieses neue Leben ist jedoch mit Einschränkungen verbunden. Die Funktionsdauer eines transplantierten Organs ist begrenzt, das Leben der Empfänger von einer Abstoßungsreaktion ihres Körpers auf das fremde Organ bedroht, weshalb sie dauerhaft immunsuppressive Medikamente mit starken Nebenwirkungen einnehmen müssen. Dieses Wissen hängt „wie ein Damoklesschwert“ über dem Leben nach einer Transplantation. „Man ist nie wieder richtig gesund“, berichtete mir eine 38jährige Herzempfängerin, „ weil man nie wieder richtig normal und unbefangen mit sich und seinem Körper und auch mit der Umwelt umgehen kann“. Die Auseinandersetzung mit dem transplantierten Organ konfrontiert Organempfänger mit der Tatsache, ihr Leben dem Tod eines anderen Menschen zu verdanken. Es wurde mir zwar immer wieder berichtet, die Integration des neuen Organs in den Körper sei kein Problem, da es ja „nur ein Ersatzteil“ oder beim Herzen „nur ein Pumpe“ sei. Hinweise auf die problematischen Aspekte im Umgang mit dem Organ sind dennoch vorhanden, beispielsweise in der Scheu, sich das Ultraschallbild des neuen Herzens zu betrachten. Die Beziehung ist also ambivalent. „Ich kenne auch keinen Patienten, der wirklich Probleme damit gehabt hätte,“ berichtete mir ein 37jähriger Nierenempfänger. „Dafür ist, glaube ich, der Qualitätssprung zwischen Dialyse und Leben mit transplantierter Niere zu groß.“ Doch bereits im nächsten Satz erläuterte er weiter: „Das wird, glaube ich, komplett abgespalten. ... Man darf einfach nicht zu dem Schluss kommen, das geht nicht, das kann ich gar nicht. Weil, das hätte ja was Suizidales.“ Damit wird die existentielle Bedrohlichkeit dieses Themas deutlich, die einen (überlebensnotwendigen) Verdrängungsmechanismus nahe legen.
Eine Organspende wird als „geschenktes Leben“ bezeichnet. Ein Geschenk oder eine Spende lässt sich ethnologisch als Gabe bezeichnen. Der Gabentausch ist in anderen Gesellschaften ein Grundprinzip des sozialen Zusammenhaltes. Der Austausch von Gaben – etwa bei Hochzeiten oder Beerdigungen – dient der Schaffung sozialer Beziehungen. Grundprinzip des Gabentausches ist, so stellte der Ethnologe Marcel Mauss bereits 1925 fest, dass eine Gabe durch eine Gegengabe erwidert werden muss und damit eine Beziehung zwischen zwei Parteien hergestellt wird. Dies ist ein allgemein gültiges Prinzip, das auch auf heutige Gesellschaften zutrifft. Geschenke und Spenden könnte man als idealisierte Form einer Gabe bezeichnen, da sie freiwillig gegeben werden. Die Erwartung einer Gegengabe ist dennoch vorhanden: Sei es in Form von gesellschaftlicher Anerkennung, von Gegengeschenken oder aber in Erwartung von Dankbarkeit. Im Falle von Organtransplantationen ist der Gabentausch nicht ausgeglichen. Zwischen der gebenden und der empfangenden Seite wird strikte Anonymität gewahrt, die Gabe über eine dritte Instanz – die Transplantationsmedizin – vermittelt. Diese konzeptionalisiert menschliche Transplantate jedoch nicht als Gabe, sondern als Ressource, weshalb der Gedanke an eine Gegengabe nicht zentral ist.
Hinterbliebene vermissten die Anerkennung für ihre Zustimmung zur Organentnahme, die ihnen in einer schweren Zeit viel abverlangte. Damit kommt klar zum Ausdruck, dass eine (immaterielle) Gegengabe zum Ausgleich des Gabentausches notwendig wäre – sei es in Form des größtmöglichen Schutzes für Hinterbliebene während des Transplantationsprozesses oder in Form von gesellschaftlicher Anerkennung. Statt dessen fühlten sich viele meiner Interviewpartner nach ihrer Zustimmung als „störendes Element“ im Ablauf der Transplantation und mit ihren Bedürfnissen nicht wahrgenommen.
Die Verpflichtung zur Gegengabe, die jedem Gabentausch innewohnt, lässt sich auf der empfangenden Seite von Organtransplantationen in der immer wieder geäußerten Dankbarkeit für das „geschenkte Leben“ erkennen, die auch als immaterielle Gegengabe verstanden werden kann. Zwar beteuern Organempfänger, sich nicht für den Tod des Organspenders schuldig zu fühlen, doch trauern und gedenken viele dennoch ihres Organspenders. Dessen Todestag ist ihr „zweiter Geburtstag“. „Es war dieses schizophrene Gefühl,“ brachte eine 46jährige Nierentransplantierte ihre ambivalenten Gefühle zwischen Trauer und Freude zum Ausdruck, „Ein Mensch ist gestorben, von dem ich die Niere habe. Der steht mir auf einmal so nah, dass ich um ihn auch trauere. Dieses Gefühl, dass man aber nicht ‚Danke’ sagen kann. Das hat mich von da an verfolgt.“ Um ihrer Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, engagieren sich viele Organempfänger in Selbsthilfegruppen und für die Sache der Organspende. Dennoch leben sie in dem Wissen, ihr Leben dem Tod eines anderen Menschen zu verdanken und ein Geschenk von solcher Größe nie zurückgeben zu können.
Die Erfahrungen direkt von Organtransplantation Betroffener in Deutschland zeigen, dass Organtransplantationen noch nicht zum kulturell Selbstverständlichen gerechnet werden können. Sie berühren zwei zentrale Aspekte des menschlichen Selbstverständnisses – die Identität und den Tod –, die dem technischen Fortschritt (noch) nicht gefolgt sind. Damit erfährt die Transplantationsmedizin ihre Begrenzung nicht in ihrer technischen Dimension, sondern vor allem durch das, was Menschen seelisch zu verarbeiten möglich ist und was sie bereit sind, für ihr eigenes oder eines anderen Menschen Überleben auf sich zu nehmen.
Lock, Margaret (2002): Twice Dead. Organ Transplants and the Reinvention of Death. Berkeley: University of California Press
Müller-Nienstedt, Hans-Rudolf (1996): Geliehenes Leben. Tagebuch einer Transplantation. Zürich/Düsseldorf: Walter
Nancy, Jean-Luc (2000): Der Eindringling: Das fremde Herz: Berlin: Merve. Schlich, Thomas/Wiesemann, Claudia (Hrsg.) (2001): Hirntod. Zur Kulturgeschichte der Todesfeststellung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Dr. Vera Kalitzkus , Gesellschaft zur Förderung medizinischer Kommunikation e.V. Göttingen (GeMeKo)
Kalitzkus, Vera (2003): Leben durch den Tod. Die zwei Seiten der Organtransplantation. Eine medizinethnologische Studie. Frankfurt a. M./New York: Campus.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008