URBAN ISLAM - EIN AUSSTELLUNGSBESUCH

Von Astrid Meister

Urban Islam - ein Ausstellungsbesuch 1

„6,5 Milliarden Menschen.
1,3 Milliarden Muslime.
1 Islam.
1,3 Milliarden Arten, den Islam zu leben.
6,5 Milliarden Meinungen über den Islam.
Wo stehst du?“

Mit dieser simplen statistischen Auflistung bringt das Intro der Ausstellung Urban Islam ins Wanken, was unbewusst in vielen Köpfen kursiert: Muslimische Identität fuße auf verallgemeinerbaren Lebenskonzepten. Diese Auffassung entspringt der Vorstellung von einer vermeintlich einheitlichen Doktrin islamischer Lehre, und sie wird noch unterstützt von der unterstellten, daraus resultierenden „muslimischen Mentalität“. Eine museale Differenzierung erfährt dieses Bild in Ausstellungen allenfalls durch die Präsentation von Objekten, die Unterschiede im künstlerischen und architektonischen Ausdruck hervorheben. „Islam-Ausstellungen“ thematisieren mehrheitlich Religionsgeschichte, exponieren Objekte aus dem religiösen Bereich oder widmen sich regionalen Besonderheiten. Was also können Besucher in Basel Neues erwarten?

Eine große Infowand im ersten Stock des Museums der Kulturen in Basel: Urban Islam. Zwischen Handy und Koran. Am Alltag vier junger Musliminnen und Muslime in Istanbul, Marrakesch, Paramaribo und Dakar soll die Vielfalt islamischer Lebensformen vermittelt werden. Die am Amsterdamer Tropenmuseum konzipierte und dort von Dezember 2003 bis September 2004 gezeigte Ausstellung wurde vom Museum der Kulturen in Basel übernommen und um einen Schweizer Teil ergänzt.

Fragmente orientalischer Klänge und Hip-Hop-Musik, Gesprächsfetzen dringen aus dem rechten Ausstellungsraum hervor. Die Klänge wecken die Neugierde, nähren die Vorfreude auf das Ausstellungsprojekt, bei dem – so viel ist bekannt – die Themenvermittlung über Videofilme im Mittelpunkt steht. Man möchte sich nach rechts begeben, die Quellen der auditiven Reize ausfindig machen, doch der Pfeil auf der Infotafel gibt den Weg in die andere Richtung vor, in den ersten Raum:

Ursprünge und Grundlagen des Islam

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Gängige Präsentationsform: Vitrinen, Objekte, Texttafeln, gedämpftes Licht, Ruhe. Zu lesen ist mehr oder weniger Bekanntes über Allah, seinen Propheten Muhammad, die frühe Spaltung, die im sunnitischen und schiitischen Islam mündete, den Koran als Wort Gottes und Offenbarung, die Funktion der Moschee als Gebetsraum und Begegnungsstätte.

Dem mit der islamischen Lehre weniger vertrauten Besucher wird behutsam eine Auswahl begrifflicher Grundlagen und historischer Abläufe nahe gebracht. Die ausgewählten Objekte demonstrieren, dass religiöse Themen die Kunstschaffenden der arabischen, persischen und türkischen Welt immer schon inspirieren und weisen auf die Vielfalt der Motive hin, die in ihren Arbeiten Eingang gefunden haben: Noahs Geschichte beispielsweise, eine der Erzählungen im Koran, wird auf einer modernen Hinterglasmalerei der Arche Noah aufgegriffen. Die kalligraphische Darstellung der Namen der vier rechtgeleiteten Kalifen auf türkischem Porzellan weist auf die Konsolidierungsphase des frühen Islam hin, das nordafrikanische Schmuckamulett „Hand der Fatima“ auf die „fünf Säulen“ des Islam. Die Kuratoren haben damit auch unerwartete Aspekte aufgegriffen, diese aber nicht mit Erklärungen überladen und sich so den Grundlagen des Islam sensibel und offen zugleich gewidmet: In gut verdaulichen Häppchen auf klein gehaltenen Infotafeln werden lediglich Hilfestellungen erteilt, um verstehen zu können, was z. B. Farina aus Surinam meint, wenn sie im weiteren Verlauf der Ausstellung von der Vermögenssteuer zakah spricht, einer der fünf Säulen des Islam . Jeder Besucher wird in diesen Erläuterungen ihm mehr oder weniger bekannte Begriffe finden. Er wird über deren Bedeutungen informiert, darüber also, was man, mit aller gebotenen Vorsicht, als identitätsstiftend für die muslimische Welt bezeichnen kann.

Muslimische Identität – im Spannungsfeld von religiösen Vorgaben, gesellschaftlichem Kontext und individueller Wahl

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Neue Präsentationsformen: Trennwände – bunt plakatiert wie Litfasssäulen – schaffen örtliche und thematische Einheiten innerhalb des sonst eher offenen Raumes. Großstadtstrukturen entstehen; private Räume, öffentliche Räume und Nischen.

Auf dezenten Texttafeln wird mit wenigen Worten in die urbanen Schauplätze eingeführt. Statistische und historische Daten bleiben dabei im Hintergrund. Stimmungsvolle Beschreibungen transportieren die lokalen Eigentümlichkeiten: „Tagsüber ist es still in Marrakesch, einer Märchenstadt mit wogenden Palmen und rosa Gebäuden, die in der Hitze brüten.“ – „Fetzen türkischer Popmusik dringen aus den zahlreichen offenen Fenstern und vermischen sich mit dem melodischen Gebetsruf aus verschiedenen Moscheen.“ Stimmengewirr, Musik, Verkehrsgeräusche dringen über die Leinwände hervor, die jeder dargestellten städtischen Einheit als zentrale Informationsquelle vorangesetzt sind. Die akustische Dauereinstellung überträgt urbane Atmosphäre auch sinnlich auf die Besucher. Schnell ist man mittendrin, in den Großstädten Afrikas, Asiens und Südamerikas, kann sich hineinversetzen in die Lebensräume von Ferhat (Istanbul), Hanane (Marrakesch), Farina (Paramaribo) und Alioune (Dakar).

Istanbul: Trennung zwischen Staat und Religion

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Ferhat ist Lehrer in Istanbul. Er verortet seine Identität in der Polarität von „Muslim-Sein“ und „Westlich-Sein“. Ein vorherrschendes, häufig so konstruiertes Spannungsfeld, was Ferhats Selbstbeurteilung zufolge allerdings gut vereinbar ist. Dass Religion seit den Reformen Atatürks 1924 in der Türkei keinen Einfluss mehr auf den Staat haben sollte, bewertet er positiv. Allerdings sieht er den einschränkenden Einfluss des Staates auf das Individuum, wie er sich beispielsweise im Kopftuchverbot in staatlichen Institutionen ausdrückt, kritisch. Für ihn steht die Eigenverantwortung des Einzelnen über allem Handeln, sei es bei der Wahl der Freizeitaktivitäten oder der Einhaltung bzw. Nichteinhaltung der durch die fünf Säulen des Islam vorgegebenen Pflichten.

Marrakesch: Wahl von islamischen Lebensstilen

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Auch Hanane, Biologiestudentin in Marrakesch, begreift sich als moderne Muslima, was sie vor dem Hintergrund ihrer Religion an ihrer Offenheit gegenüber „der Welt, anderen Dingen und anderen Kulturen“ festmacht. In Hananes Leben umfasst das Spannungsfeld des Islam-Diskurses zahlreiche Aspekte: die kontroverse innerweibliche Diskussion über Frauen, Studium und Kopftuch ebenso wie die moralisierenden Ergüsse des populären ägyptischen Predigers Amr Khaled, nicht zuletzt aber auch die recht offenherzigen sexual-soziologischen Studien in marokkanischen Hochglanzmagazinen. In ihrer Freizeit schaut sie sich mit ihren Freundinnen gerne amerikanische Filme an und würde ihren Star Brad Pitt „heiraten, wenn er Muslim wäre“. Der Tag, an dem sie sich vor dem Hintergrund all dieser Faktoren dazu entscheidet, ein Kopftuch zu tragen, ist ihrem Tagebuch anvertraut – eines der Exponate, das aus dem Gebrauch der Protagonistin direkten Eingang in die Ausstellung gefunden hat.

Paramaribo: Islam in einer multikulturellen Gesellschaft

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Farina lebt in einem demographisch vergleichsweise anderen Umfeld. Die Bevölkerung Paramaribos – hätten Sie vor diesem Ausstellungsbesuch gewusst, dass im Nordosten Südamerikas Muslime leben? – ist ethnisch und religiös stark heterogen. Muslime befinden sich mit 20 % Bevölkerungsanteil neben Hindus (27 %) in der Minderheit gegenüber Christen (50 %). Für Farina ist diese Vielfalt, die sie seit ihrer Schulzeit kennt, „wie ein Strauß bunter Blumen“. Ihre Themen kreisen folgerichtig um die Herausforderungen, die ein multi-religiöser Freundeskreis mit sich bringt: die gemeinsame Freizeitgestaltung etwa, die vor die Frage stellt, wohin man zum Essen geht, wenn ein Teil der Freunde nur halal-geschlachtetes Fleisch essen kann. Als gläubige und praktizierende Muslimin setzt sie sich mit religiösen Vorschriften, die im Islam aus Koran und Hadith hergeleitet werden, kritisch auseinander. Vor diesem Hintergrund trifft sie ihre persönlichen Entscheidungen, beispielsweise Make-up als islamkonform zu bewerten und eine Kopfbedeckung nur während des Gebetes zu wählen, jedoch nicht in der Öffentlichkeit.

Dakar: weltlich und spirituell

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In der kaum beachteten schwarzafrikanisch-islamischen Peripherie, dem Senegal, lebt Alioune. Er ist Musikliebhaber und Kassettenverkäufer – mittlerweile in seinem eigenen kleinen Straßenladen –, weshalb der ihn porträtierende Filmbericht mit afrikanischen Musikvideos und der Stimme seines Lieblingssängers Youssou N’Dour unterlegt ist. Das so bunt und heiter gezeichnete Bild der Hauptstadt Dakkar wird kontrastiert durch Aliounes spirituelle Glaubenspraxis als Mitglied in Senegals zweitgrößter muslimischer Bruderschaft, der Muridiya. Vor der Kulisse seines Schlafplatzes erfährt der Besucher beispielsweise, wie ihm ein Marabout (Bezeichnung eines muslimischen Heiligen in Nord- und Westafrika) im Traum den Weg nach Touba weist, dem Ort, an dem sich die wichtigste Moschee der Muriden befindet. Für Alioune ist „Muslim sein alles (und sind) alle Muslime Muriden“. Demgemäß steht die sufische Lehre der Muridiya im Mittelpunkt der Darstellungen: Ihr Begründer und spiritueller Lehrmeister, Amadou Bamba, wird über dessen Biografie, seine Liedtexte und Schriften vorgestellt.

Ein neuer Raum; neue Kulissen: Alphörner, schwingende Schweizer Flaggen, Berge, Wiesen auf einer Fototapete:

Schweiz: Umgang mit Meinungen zum Islam

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Rechte Wand: Schlagzeilen aus Schweizer Zeitungen unterschiedlichster politischer Couleur: „Islamismus greift durch: alle Imame zum Deutschkurs“ (Blick); „Keine Angst vor dem Islam“ (Kirchenbote); „Euro-Islam? Ein Wort, zwei Konzepte, viele Probleme“ (NZZ). Zusammengetragen wurde das, was den Schweizer Islam-Kurs prägt und – so gebündelt präsentiert – dem Besucher vertraut und irritierend zugleich vorkommt.

Gegenüber: Bei dem „Medienfalle-Projekt Urban Islam“ von Schweizer Schulen in Kooperation mit dem Museum der Kulturen sind Kinder mit dem Islam konfrontiert, ihre persönliche Meinung ist gefragt: Ist der Islam eine Gefahr für die Schweiz? Sind Frauen im Islam benachteiligt? Was denkst du über das Verhältnis zwischen Schweizer Muslimen und Nicht-Muslimen? Über zwei Kopfhörer und dazugehörige Bildschirme erfährt der Besucher ihre ganz unterschiedlichen Antworten.

Das Herzstück des Raumes: eine Riesenleinwand. Auf ihr wechseln sich Gesichter ab: weibliche, männliche, mit Kopftuch, Sonnenbrille, dunkler Haut. Sechs in der Schweiz lebende Muslime füllen mit ihren Erfahrungsberichten und ihren Standpunkten Schlagworte wie Heirat, Moral, Jugend, Diskriminierung mit Inhalt. Jedes Interview unterbrochen vom Intro des immer gleichen orientalischen Musikstücks.

Der Raum lädt zum Verweilen ein. Auf der eigens aufgebauten Tribüne sitzt es sich nicht nur bequem, auch der Blick kann rundherum schweifen. Hier lassen sich persönliche Erfahrungen mit den Einstellungen von Muslimen vergleichen, gängige öffentliche Ansichten über deren Religion aufnehmen. Tatsächlich wird hier gesessen, geschaut, zugehört, nachgedacht. Dass hieraus, wie von den Schweizer Kuratoren im Ausstellungsgespräch angeregt, eine Begegnungsstätte wird, die buchstäblichen Diskussionsraum bietet, ist wünschenswert. Die Auflösung der „sakralen“ Aura vieler Ausstellungen, in der schon der über ein Flüstern hinausgehende Kommentar die Missbilligung des Aufsichtspersonals nach sich zieht, ist mittels der lebhaften medialen Darstellung immerhin vollzogen.

Die Eindringlichkeit des Alltäglichen

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Welchen Erkenntnisgewinn können solch exemplifizierte Darstellungen über den Gesamtkomplex Islam bieten?
Wie sollen die über individuelle Lebensgeschichten transportierten Standpunkte in den herrschenden Islam-Diskurs rückgeführt werden?
Die Irritation einiger Besucher über die Intention der Ausstellung und ihre Zweifel an der Aussagekraft einzelner muslimischer Stimmen tritt im Ausstellungsgespräch am zweiten Öffnungstag hervor. Fragen nach der Repräsentativität sowie Kritik an der gänzlichen Abwesenheit von „Reizthemen“ wie Fundamentalismus und Terror machen deutlich, wie neu und ungewohnt dieser Weg der Annäherung an Islam-Themen ist: Junge Menschen im Alter zwischen 20 und 30 thematisieren, was in ihrem Leben wichtig ist, nämlich Freundschaft, Familie, Heirat, Ausbildung, Lebenserwerb, Freizeit – und könnten damit in jeder Großstadt der Welt verortet sein. Über die Auseinandersetzung mit ihrem Alltag entsteht so ein Panorama an Lebenswelten, aus dem Unterschiede ebenso herausstechen wie Gemeinsamkeiten. Vor allem aber wird der Besucher für die Komplexität von Identitätsfindungsprozessen, der rote Faden der Ausstellung, sensibilisiert: Soziale und wirtschaftliche, religiöse und säkulare Faktoren werden zu einem Fundus, aus dem der Einzelne seine Lebenseinstellungen und Bewältigungsstrategien gewinnt. Vor diesem Hintergrund reflektiert er seine Religion auf gesellschaftliche Werte und Handlungen – und vice versa.

Urban Islam bedient nicht das gesellschaftliche Verlangen nach eindeutigen, allgemeingültigen und polarisierenden Antworten über „den“ Islam. Vielmehr transportiert die Ausstellung über die Strategie der Beliebigkeit die reichhaltige und bereichernde Vielfalt urbanen menschlichen Lebens.

Den Kuratoren ist damit eine hervorragende, gleichermaßen unterhaltsame wie informative Ausstellung gelungen. Neben der Wahl der vielfältigen musealen Darstellungsformen entpuppt sich als weiterer großer Pluspunkt, dass ihre Macher hinter die Aussagekraft der Porträtierten zurücktreten.

Einzig der Ausstellungsentstehung wird zu wenig Rechnung getragen. Gerade die im Zentrum stehenden filmischen Darstellungen hätten es jedoch wunderbar ermöglicht, auch den Entstehungsprozess der Ausstellung thematisch einzubeziehen, also die Kriterien bei der Auswahl gerade dieser vier jungen Menschen und die Annäherung an sie. Überdies hätten die Feldforschungen der niederländischen Kuratorinnen in den vier Städten als zentrale Methode der Ethnologie in die Präsentation aufgenommen werden können. So wäre die Bandbreite von Islam-Ausstellungen nicht nur um einen neuen thematischen Fokus - Jugend und Alltag – erweitert, mithin wären auch originäre Wege der musealen ethnographischen Repräsentation aufgezeigt worden.

Was bleibt, ist ein Rest an Irritation und offenen Fragen. Doch genau darin liegt das Potenzial für Auseinandersetzungen mit den vielen neu erfahrenen Facetten muslimischen Lebens. Die Ausstellung Urban Islam löst sich aus den in der Regel starren Darstellungsmustern von Islam Themen. Damit kann sie nicht nur für neue museale Repräsentationsformen, sondern ebenso für einen von Empathie getragenen Umgang mit dem Islam als gesellschaftlich relevantes Moment richtungsweisend sein.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008