Von Gerda Kroeber-Wolf
Sylvia Schopf lädt in ihrem Kinderbuch zu einer poetischen Reise durch die Welt der Mythen ein. Wie ein roter Faden durchzieht die Begegnung zwischen der Schülerin Anna-Lena und Herrn Pauli ihr Buch. Das Mädchen stellt interessiert und unbefangen seine Fragen, und ihr erwachsener Gesprächspartner versucht, diese auf der Grundlage religionsethnologischen Wissens umfassend zu beantworten. Die Mythenbeispiele, die Herr Pauli anführt, sind im Buch optisch deutlich abgesetzt. Sie können auch unabhängig von der Romanhandlung einzeln oder nacheinander gelesen werden. So genannte Sachbuchteile mit gut recherchiertem Informationsmaterial zu jeder Bevölkerungsgruppe, von der die Mythen erzählen, bereichern mit eindrucksvollen Fotos das Werk.
Kein Wunder, dass Anna-Lena verunsichert ist. Wie die Welt entstanden sei - darüber hatten sie am Morgen im Unterricht gesprochen und später auf dem Schulhof noch weiter diskutiert. Da war von der Ursuppe, dem Zusammenstoß zweier Kometen, aber auch von Gott und Allah, den Weltenschöpfern, die Rede. Unterschiedliche Meinungen wurden lautstark geäußert. Was Anna-Lena gehört hatte, war widersprüchlich. Hatte Lukas Recht mit seiner "fetten Explosion"? War die Welt wirklich in sechs Tagen erschaffen worden? "Quatsch!", hatte Jana gerufen.
Zu gerne hätte Anna-Lena Genaueres darüber erfahren, wann, wie und wo das Wasser, die Sonne, die Wolken, die Erde, der Himmel und auch die Menschen entstanden sind. Aber selbst ihre Mutter reagiert ausweichend. Sie hat – wie immer – keine Zeit und vertröstet ihre Tochter auf den Abend. Wenn Papa da sei, könne man über dieses Thema in Ruhe sprechen. Und bis zum Abend bleibt Anna-Lena auf sich allein gestellt.
Da begegnet sie ihrem Nachbarn, Herrn Pauli. 'Wie die Welt entstanden ist?' Herr Pauli wiegt nachdenklich seinen Kopf. Und weil das keine Frage ist, die man mit ein paar Sätzen beantworten kann, lädt er Anna-Lena ein, ihn zu einem Nachmittagskaffee zu begleiten. Es bleibt nicht nur bei einem Nachmittagsbesuch. Herr Pauli ist weit in der Welt herumgekommen und hat Anna-Lena viel zu erzählen. So alt wie die Menschheit sei ihre Frage, weiß er zu berichten. Und Anna-Lena erfährt, dass Wissenschaftler bis auf den heutigen Tag sich mit dieser Frage beschäftigen und immer noch neue Antworten finden. Aber auch die Eskimo in der Arktis haben ihre Vorstellungen von der Entstehung der Welt wie auch die Bakuba in Afrika oder die Maori in Neuseeland. Und auch jede Weltreligion – sei es Christentum, Islam, Hinduismus oder Buddhismus – hat ihre je eigene Antwort auf diese Frage entwickelt.
Kinder ab 8 Jahre erfahren in sieben Erzählungen von den Anfängen der Welt: Die erste Geschichte führt zu den Munda nach Indien. Sie berichtet von Gott Haram, dem es mithilfe des Regenwurms gelang, die Erde zu erschaffen. Weiter geht die Reise nach China. Mit Pan’ku, dem Riesen aus dem Ur-Ei, wird ein taoistischer Schöpfungsmythos erzählt. Von China geht es in den hohen Norden zu den Inuit nach Alaska. Hier waren es der Herr der Lüfte, die Herrin des Meeres und Rabe, der Urvater, die die Welt erschufen. Von fünf Sonnen am Anfang der Welt und einem Kaninchen im Mond wussten die Azteken im früheren Mexiko zu berichten. Bei den Bakuba in Afrika war es Gott Bumba, der unter heftigen Krämpfen Sonne, Mond und Sterne aus seinem Leib hervorbrachte. Eine sechste Schöpfungsgeschichte führt zu den Antipoden – zu den Maori nach Neuseeland - und erzählt von Rangi (Himmel) und Papa (Erde) und ihren sechs Söhnen.
Auch die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments – die Geschichte von der göttlichen Erschaffung der Welt in 6 Tagen – wird vorgestellt. Dabei erfahren die jungen Leser, dass Juden und Christen dieselbe Schöpfungsgeschichte haben. Sie steht am Anfang des Alten Testaments, der Bibel der Juden. Sie erfahren auch, dass die jüdische Religion sehr viel älter als die christliche Religion ist.
Sehr lebendig und sensibel führt Sylvia Schopf an Schöpfungsmythen unterschiedlicher Religionen heran, die - abgesehen von der biblischen Geschichte - in westlichen Leserkreisen relativ unbekannt sind, und vermittelt dabei zugleich Respekt vor anderen Weltsichten. „Vielleicht sind Gott, Allah und die anderen Weltenschöpfer so etwas Ähnliches wie der Urknall?! - Oder der Urknall ist auch nur eine andere Art, die Erschaffung der Welt zu erläutern", lässt die Autorin Herrn Pauli antworten, als Anna-Lena meint, die vielen Erklärungen zur Entstehung der Welt könnten doch nicht alle stimmen. "'Wer weiß. Beweisen kann man keine der Erklärungen und jede ist auf ihre Art einleuchtend.' Herr Pauli zuckt die Schultern."
Kirsten Reinholds Bilder, die die Schöpfungsmythen farbig illustrieren, beflügeln die Fantasie der Leser und laden zu längerem Betrachten ein. Aus religionsethnologischer Sicht ist das Buch besonders auch für den Einsatz im Schulunterricht zu empfehlen.
Sylvia Schopf (2004): Sieben Schöpfungsgeschichten aus aller Welt. Mit Illustrationen von Kirsten Reinhold. Düsseldorf: Patmos Verlag. ISBN: 3491797470, 96 Seiten, Preis: 14.90 Euro
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008