Von Christoph Antweiler
Ein Buchhinweis muss nicht fair sein. Eine Rezension muss einem Buch nicht unbedingt gerecht werden. Aber selbst in Zeiten, wo Wissenschaft zunehmend postakademisch wird, sollte eine Kurzbesprechung eines populärwissenschaftlichen Werks in irgendeiner Weise auf das Buch eingehen. Gerade, wenn es ein Verriss ist. Das Rezensionsexemplar von Herrn Schloemann ist sicherlich noch so neuwertig, dass er es zu Weihnachten verschenken kann ...
Johan Schloemann hat sich über die Bilder in diesem Buch geärgert. Er hat sich aber offensichtlich weder mit diesen Grafiken genauer befasst, noch scheint er außer dem Vorwort etwas vom Text gelesen zu haben. Er ist konsequent und behelligt uns in seinem Artikel dann auch nicht damit, das Ziel und den Aufbau dieses Atlas vorzustellen oder gar seine Besonderheiten zu erläutern. Hier hätte er z. B. den Versuch, Ethnologie und moderne Volkskunde zu verquicken, nennen können oder die ausgeprägt interdisziplinäre Anlage. Stattdessen vergeudet Schloemann den wenigen Platz mit seiner haarigen Alltagstheorie zu studentischem Lernen. Schloemann ist sich anscheinend gar nicht klar darüber, wie schwierig es ist, ein solches Buch zu schreiben. Einführungen und Übersichtswerke bringen einem Autor gerade in der deutschsprachigen Ethnologie weniger Reputation als Spezialstudien. Als Aufgabe sind sie aber oft viel anspruchsvoller! Hier muss systematisiert, reduziert und klar geschrieben werden. Da weiß man schon vorher, dass die Kollegen nur darauf warten ... Kein Wunder, dass es im deutschsprachigen Raum kaum eine echte Einführung, oder ein echtes systematisches Lehrbuch der Ethnologie gibt. Deshalb ist der Mut zu bewundern, den Dieter Haller hatte, ein solches Projekt überhaupt in Angriff zu nehmen.
Ich finde an Dieter Hallers Atlas vieles sehr gut und manches schlecht, aber dies hier ist ein Kommentar zu Schloemann und keine Rezension zu Haller. Deshalb folgen hier nur kurze exemplarische Anmerkungen, was Herr Schloemann hätte kritisieren können, wenn er schon nur auf Schlechtes fixiert ist. Ich sehe durchaus Mängel sowohl im Grundsätzlichen als auch in vielen Einzelheiten. Zunächst ist die angepeilte Leserschaft nicht klar. Sind es Studienanfänger, Fortgeschrittene oder eher Wissenschaftler anderer Fächer? Hallers Text schwankt immer wieder zwischen für Anfänger sehr gut verständlichen Passagen einerseits und spezialistischen Anmerkungen andererseits. So enthält etwa schon die erste Seite zum Kulturbegriff einige Bemerkungen, die für Novizen schlicht ungenießbar sind. Vieles ist arg ungleichgewichtig, und etliche Passagen in den Texten fallen reichlich tendenziös aus, statt den Stand der Forschung wiederzugeben. Die internationale Diskussion um Definition und Rechtsstatus indigener Völker kommt genauso wenig vor wie Ferntourismus; „Entwicklung“ und „Indigene“ kommen noch nicht mal im Register vor. Die Ausführungen zur Soziobiologie sind allenfalls eine Karikatur dieses Ansatzes. Die gesamte anwendungs- bzw. praxisorientierte Ethnologie wird in wenigen kurzen Abschnitten abgehandelt. Die Aktionsethnologie wird in zwei Sätzen erst einmal abgewatscht und später nur noch mal kurz angetippt. Das kann nicht einfach durch den begrenzten Umfang erklärt werden - in einem 300-Seiten-Werk mit z. B. knapp 30 Seiten allein zum Thema Religion. Unter den potenziellen LeserInnen würden sich vor allem viele Studierende für solche aktuellen Themen interessieren. Das „Literatur- und Quellenverzeichnis“ bringt ausschließlich Angaben zu Abbildungsquellen sowie im Text genannten Werken. Da oft ältere Werke oder ältere Auflagen von Lehrbüchern benutzt wurden, findet der Anfänger in diesem Buch kaum Hinweise auf neuere Basisliteratur. Fast alle wichtigen neueren englischsprachigen Einführungs- und Lehrbücher fehlen; allenfalls ziemlich alte Auflagen sind genannt. Auch die deutschsprachigen an den Unis viel verwendeten Werke, etwa von Kohl und Fischer & Beer, werden nicht angeführt. Die Grafiken von Bernd Rodekohr sind teilweise einleuchtend und aus sich heraus verständlich, einige sind echte Highlights. Viele der Bilder und Tabellen sind aber auch stark überladen. Oft finden sich schwammige Piktogramme im Hintergrund von Tabellen, die vom Inhalt ablenken. Sie erinnern an die Ästhetik mancher Websites. Das ist teils auch Geschmacksache, aber zu vielen Themen gibt es in englischen oder amerikanischen Lehrbüchern eindeutig bessere, weil klarere Grafiken. An solchen Fragen hätte Schloemann ansetzen können, wenn er schon den Text nicht liest.
Wie Schloemans Vorspann andeutet, ist er offensichtlich als Kind mit „Was ist was“- Büchern behelligt worden (die übrigens teilweise sehr gut sind). Er geht in seinem Verriss nur auf die Grafiken ein, womit er die Verquickung von Bild und Text – immerhin die Kernidee der dtv-Atlanten! – außen vor lässt. Die Bildtitel zu den beiden für ihn exemplarischen schlimmen Grafiken hat er in seiner Reproduktion mal eben abgeschnitten; auf den zugehörigen Text geht er gar nicht ein. Geschenkt! Aber wenn Schloemann schon nur auf die Grafiken schaut, sollte er sie vielleicht mal genauer ansehen. So bringt der von ihm als ähnlich missraten gescholtene „dtv-Atlas Philosophie“ ganz anders gestaltete Grafiken. Die angesichts des Themas ähnliche Herausforderung – vor allem die bildliche Darstellung abstrakter Ideen bzw. psychischer Inhalte – wird dort anders gelöst. Das Auffälligste an den Grafiken im Ethnologieatlas übersieht Schloemann ganz. Es gibt nur sehr wenige Karten, und die sind auch noch sehr klein. Eine detaillierte Karte der Sprachen der Welt sucht man vergebens. Die regionale Ethnologie fehlt völlig – und das in einem „Atlas“! Hier ist das „deterritorialisierte“ Kulturkonzept meines Erachtens deutlich überzogen worden. All das sieht Schloemann nicht, oder es interessiert ihn gar nicht.
Es wurde wohl deutlich, dass ich mich über diesen von Ärger und Ignoranz geleiteten Verriss geärgert habe. Haller hat ein wichtiges Buch gemacht, und es verdient eine anständige Kritik. Schloemanns Artikel kann weder als Rezension noch als Buchhinweis durchgehen. Ich möchte Ihnen, Herr Schloemann, aber dennoch ein dickes Kompliment machen. Die von Ihnen eingefügte Unterschrift zum ersten Bildbeispiel – mit ihrer genialen Reformulierung der Emic-Etic–Debatte ist ein echter Brüller!
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008