ETHNOLOGIE

Rezension von D. Hallers dtv-Atlas

Von Hans Voges

Mit dem dtv-Atlas Ethnologie ist ein Paket geschnürt worden, in dem alles drin ist, was eine(n) potenzielle(n) Leser(in) an diesem Fach / Wissensgebiet interessieren könnte. Es gibt eine Geschichte des Faches (ihrer bedeutenden Forscher, Forschungen und ihrer Theorien), es gibt einen Überblick über die aktuellen Forschungsansätze, über die Forschungsmethoden und die sachlichen Arbeitsfelder innerhalb der Disziplin, und es gibt einen Versuch, Aufgaben und Nutzen der Ethnologie zu benennen. Alle diese Themen, so groß ihre Vielfalt auch ist, kommen aus einer Hand, nämlich der des Autors Dieter Haller. Sie werden sachlich, übersichtlich, zumeist verständlich dargestellt und bilanzierend bewertet.

Und doch beschleicht den einschlägig Informierten ein leises Unbehagen angesichts dieses großen, unübersichtlichen Tummelplatzes zeitgenössischer ethnologischer Aktivitäten samt der darin eingezeichneten historischen und praktischen Spuren. Dieses ganze Füllhorn einer Disziplin sollte von einem einzigen Autor gemeistert werden? Für die solitäre Autorschaft, die mit souveränen Strichen ein ausgewachsenes Universitätsfach entwirft, ist denn doch ein Preis zu zahlen. Dieser Preis besteht freilich nicht so sehr in eklatanten Ungenauigkeiten und Fehlern. Es ist vielmehr die Wahl einer Darstellungsweise, die so allgemein und oberflächlich ist, dass sie die Problematik jedes einzelnen Erkenntnisgewinns, jeder Methode und jedes theoretischen Ansatzes zu vergessen scheint.

Die Erfahrungen und Erkenntnisse, die theoretischen Grundsatzformulierungen – die einen widerspenstigen Lernstoff ergeben – nehmen das Aussehen fertiger Produkte an, und das ganze Panorama des Schwankens, Zauderns und der Widersprüchlichkeiten, in denen die Erfahrung und Arbeit ethnologischen Fremdverstehens pulsiert, geht dabei verloren. Nicht ein Mangel an Selbstkritik ließe sich dieser Darstellungsmethode ankreiden, sondern dass sie den gewundenen, problematischen Weg jeder Erkenntnis zunichte macht.

Man könnte dagegen einwenden, fortgeschrittene Mitglieder des Faches seien ohnehin im Bilde und durch solche, durch die Gattung des Einführungstextes erzwungenen gedanklichen Abkürzungen nicht in die Irre zu führen. Man muss jedoch daran erinnern, dass dieser Band für ein Lesepublikum aus Studierenden, interessierten Laien und aufmerksamen Rezipienten von Nachrichten und Kommentaren konzipiert ist und dass mit solchen Vereinfachungen und Abkürzungen über den tatsächlich fragilen Status ethnologischer Aussagen zwangsläufig getäuscht wird. Ein Vorschlag zur Güte wäre, diesen Mangel durch die Präsentation von Fallbeispielen zu beheben – berühmten wie Potlatsch oder Kula und weniger berühmten, die es in der ethnologischen Literatur zur Genüge gibt. Anhand von Beispielen ließen sich die Stärken und Schwächen einzelner Theorien anschaulich und überzeugend auch für Laien demonstrieren. Eine Zusammenstellung solcher ethnologischer Fallbeispiele wäre auch schon deshalb faszinierend, weil sie sowohl die theoretischen Diskussionen leitmotivisch durchziehen als auch auf die Gedankenbildung der Theoretiker wie ein Magnetfeld wirken.

Gerade bei dem hohen fachinternen Differenzierungsgrad wäre es interessant gewesen, über regionale Forschungsgebiete und die sie eventuell gerade bewegenden Debatten zu berichten. Wenn seit dem Eintreffen der Postmoderne keine Diskussion mehr angezettelt worden ist, die die Disziplin im Ganzen aufgerüttelt hätte, so entstehen doch immer wieder auf Regionen begrenzte Auseinandersetzungen, deren Isolation vielleicht für den augenblicklichen Zustand typisch ist.

Es ist noch darauf hinzuweisen, dass bei Erscheinen dieses zum Gebrauch von Laien bestimmten Nachschlage- und Einführungswerks einige seiner kritischen Leser polemisch aneinander geraten sind; eine Polemik, die offensichtlich mit dem als problematisch empfundenen Verhältnis von Text und Bild zu tun hat, die nahezu in gleichen Anteilen im Buch vertreten sind.

Ein Rezensent in der Süddeutschen Zeitung – Johann Schloemann - hat sich daran gestört, dass in diesem Werk jeder (geistige) Inhalt in der Gestalt eines grafischen Schemas nicht nur verdoppelt, sondern auch noch stark vereinfacht werde. Ein paar Zitate sollen die starken Worte, die gebraucht werden, verdeutlichen: „Man muss kein platonischer Bilderhasser sein, um in der Art und Weise, wie hier Theorien und Methoden des Faches in Was-ist-was-Bildchen umgesetzt werden, eine groteske Verhöhnung der Studierfähigkeit der vorgestellten Zielgruppe zu sehen …“ (Süddeutsche Zeitung vom 21.11.05). Lesende und Lernende werden „für dumm verkauft “. Er warf dem Buch alles in allem „eine maßlose, bildfixierte Didaktisierung akademischer Inhalte“ vor. Abgesehen von dieser überbordenden Reaktion auf den Charakter der Illustrationen, die den Gebrauch pädagogischer Hilfsmittel pauschal zu verurteilen scheint, geht der Kritiker nicht näher auf die Qualität des enzyklopädisch nach Themen geordneten Textes ein.

Der Leserbrief eines Fachethnologen – Christoph Antweiler – tritt der polemischen Abwertung des Werkes entgegen und lenkt die Aufmerksamkeit auf eine nüchterne und faire Lektüre. Der Briefautor mahnt an, dass sich der Kritiker bei der Bebilderung aufhalte und nicht auf den Aufbau, die Zielsetzung und die Besonderheiten des Buches eingehe. Er selbst sah einiges kritisch - wichtige Themen würden nicht berücksichtigt (wie zum Beispiel Entwicklung, Rechtsstatus indigener Völker), die Zielgruppe dieser Einführung bliebe im Unklaren oder manche Abschnitte litten unter tendenziösen Vorbehalten. Dagegen lobt er den Mut des Autors, ein so umfassendes, in die Ethnologie einführendes Werk, das überdies die interdisziplinären Verzweigungen berücksichtige, zu verfassen. Was die grafischen Darstellungen geistiger Zusammenhänge betrifft, so hält er ihre Ausführung in sehr vielen Kapiteln des Textes für gelungen, ohne in der Kürze eines Leserbriefs dieses Urteil im Einzelnen begründen zu wollen.

Dieser sachlichen Kritik Antweilers, die dem Autor Dieter Haller zudem noch die Mängel einer nicht konsequent aktualisierten Bibliographie und den fehlenden Hinweis auf wichtige Einführungstexte ankreidet, kann man sich durchaus anschließen. Wenn er allerdings die Berücksichtigung von Karten (zum Beispiel regionale Verteilung von Sprachen) für sachlich angemessen hält – warum nicht auch von Fotos? -, ist doch wieder die Problematik der Illustration und ihre Bedeutung für eine einprägsame Lektüre durch die Hintertür zurückgekehrt. So ist schließlich die Entscheidung wesentlich, die bereits bei der Konzipierung dieses dtv-Atlas Ethnologie hätte gefällt werden müssen, ob man ein Werk dieser Gattung mit so vielen erläuternden schematischen Abbildungen, teils sinnvollen, teils überflüssigen Charakters hätte voll stopfen sollen. Ich finde nein.

Dieter Haller: dtv-Atlas Ethnologie. Mit 127 Abbildungsseiten in Farbe. Grafische Gestaltung der Abbildungen: Bernd Rodekohr. 320 Seiten, München: dtv, 2005 (ISBN 3-423-03259-6)


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008