DER PETERMANN

Ein neues Buch über die Geschichte der Ethnologie

Eine Rezension von Dieter Kramer

Endlich ein Buch, das einem Ethnologen (Volkskundler) wie mir eine ganze Menge der Geheimnisse der Ethnologen (Völkerkundler) enthüllt. Der Petermann (wie ich das Buch nannte, als ich während meiner Lektüre anderen vielleicht schon manchmal auf die Nerven ging, weil ich fortwährend aus diesem Buch zitierte) erklärt vieles, was sonst im Binnendiskurs der Ethnologen als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird. Endlich ein groß angelegter Überblick über die Theorien- und Personengeschichte der Beschäftigung mit den Fremden in der europäisch-atlantischen Denkwelt, der auf 1095 Seiten kaum einer Frage die Antwort schuldig bleibt!

Das Buch folgt der europäischen Geschichte und gliedert sich in acht Teile, die sich beschäftigen mit der Antike, frühen Entdeckungen und Reisen, Aufklärung, Fortschritt und Evolutionismus, deutscher Kulturmorphologie und angelsächsischer Theorien bis hin zur Postmoderne. Manches kann man nach der Lektüre auch als Nicht-Ethnologe wunderbar verstehen und erklären.

Kulturmorphologie und Topoi für Weltkriege
Im Zusammenhang mit dem Jubiläum des Museums der Weltkulturen in Frankfurt am Main wird immer wieder auf die Frankfurter Tradition der Ethnologie hingewiesen. Frobenius, Namensgeber des Frankfurter Instituts für Historische Ethnologie, wird ausführlich behandelt. Die Kulturmorphologie von Leo Frobenius überwindet das evolutionistische Schema durch die Vorstellung von Kulturkomplexen, die sich „weltanschaulich“ unterscheiden. Mit ihnen werden Kulturen zu Subjekten: Völker können untergehen, ihre Kultur aber kann weiterleben, sie entwickelt Eigenleben.

Frobenius, der „selbsternannte Spion im Auftrag des Kaisers“ (Petermann), hat seine Expeditionen auch als strategische Erkundung kolonialer Möglichkeiten eingesetzt. Er entwickelte Topoi für Weltkriege, aber nicht für Globalisierung oder internationale Solidarität. Frobenius fand seine spekulative Unterscheidung zwischen den Feldbau betreibenden Äthiopiern und den kriegerischen Hamiten in den europäischen Gegensätzen wieder. Das bewegte seinen Freund Kaiser Wilhelm dazu, im Exil die gesamteuropäische Vision „Völker Europas, verteidigt Eure heiligsten Güter“ (gegen die asiatische Barbarei, entwickelt anlässlich der europäischen Intervention in China 1900) umzukehren und Bündnisse mit den Asiaten gegen die hamitischen Westeuropäer (die Briten) vorzuschlagen. Wie andere Ethnologen pflegte Frobenius noch in Zeiten des verlorenen eigenen deutschen Kolonialreiches und des absehbaren Unterganges der anderen Kolonialreiche die „imaginären Kolonialimperien“ (Hans Voges) der konstruierten seelischen Verwandtschaften als Bündnispartner gegen die Konkurrenz im Kampf Deutschlands um Weltgeltung (er ist kein Nazi, aber „im gleichen Sumpf“ beheimatet, schreibt Petermann). Dabei hätte die Kulturmorphologie ja eigentlich mit der Überwindung eines unilinearen Evolutionismus auch die Anerkennung der gleichen Rechte anderer Kulturen und der wechselseitigen Anerkennung der Andersheit ermutigen können. Der Impuls der Kulturmorphologie für die „Negritude“ Senghors erinnert daran. Dass sie mit ihren essentialisierenden Unterscheidungen freilich auch dann immer noch Keime für „ethnische“ Kriege und Säuberungen legen kann, steht auf einem anderen Blatt. Und wer heute mit einem Subjektcharakter von Kultur argumentiert (wie Samuel Huntington), der muss sich fragen lassen, was er damit bezweckt.

Für Spengler sind diese Kulturen von „erhabener Zwecklosigkeit“, in sich selbst gefangen und von anderen durch eine undurchdringliche Scheidewand getrennt. Spengler und Frobenius sind in dieser Hinsicht derzeit nur historisch interessant, aber wer weiß, wann Derartiges wieder aus der Versenkung hervorgeholt wird.

Ethnologie und Kolonialismus
Wenn im Zusammenhang mit der Geschichte der Frankfurter Ethnologie behauptet wurde, vor 100 Jahren seien alle Ethnologen Kolonialisten gewesen, lässt sich auch darüber mit dem Petermann gut diskutieren. „Die Ethnologie, dieser Bastard der Aufklärung und des Kolonialismus“, steht immer im „Kontext imperialer Machtentfaltung und kolonialer Expansion.“ Vorgeworfen wird der Ethnologie gern, so Petermann, die „Ausklammerung der kolonialen Realität das heißt fremdbestimmter Macht- und Wirtschaftsstrukturen, ganz zu schweigen von den stattfindenden ethnischen Umstrukturierungen und Veränderungen zugunsten einer ethnographischen Realität, die als für sich bestehende Totalität konstruiert wird.“ Es gibt in der Geschichte der Ideen deutliche Anknüpfungsmöglichkeiten für verschiedene Varianten der kolonialen Unterdrückung. Der aufklärerische Vergleich mit der Individualentwicklung, der den „Naturvölkern“ den Kinderstatus zubilligt, rechtfertigt koloniale Bevormundung; christliche Degenerationstheorien sehen in den Fremden die Opfer einer Rückbildung und rechtfertigen damit ebenfalls die Vorherrschaft der weißen Christen. Die Prä-Adamiten-Diskussion ermöglichte es, die Linearität der biblischen Heilsgeschichte allein auf die privilegierten weißen Rassen anzuwenden. Die Polygenisten, die verschiedene Schöpfungen des Menschen annehmen, werden zu Verteidigern der Sklaverei, weil sie die Sklaven nicht zu den eigentlichen Menschen rechnen.

Aber es gibt auch, das lässt Petermann erkennen, eine Fülle von Ansätzen für andere Optionen. Schon Rousseau kann mit seiner Vorstellung vom „homme naturel“ die „Wilden“ und die Europäer gleichzeitig kritisieren, und Kolonialismus-Kritik findet sich bei den verschiedensten Autoren und Richtungen, in der Aufklärung etwa bei Diderot oder Georg Forster. Und die Vorstellungen Herders (andere Klassiker, Goethe zum Beispiel, tauchen bei Petermann nicht auf) vom Eigenrecht der verschiedenen Kulturen stehen in krassestem Gegensatz zum Kolonialismus.

Wie konnte es dennoch zu einer solchen Fokussierung auf die kolonialistische Ideologie des 19. Jahrhunderts kommen, die den Eindruck erwecken konnte, alle Ethnologen seien Kolonialisten? Die deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts ist, folgt man Petermann, nicht unschuldig daran: Deutsches idealistisches Systemdenken legt keinen großen Wert auf ethnographische Empirie. Kants Vorstellung von der klimatischen Determiniertheit und der Rasse ist Rechtfertigung der Sklaverei und Vorlage für die koloniale Ideologie des 19. Jahrhunderts. Und Hegel sieht Völker als Existenzen für sich (also viel eher als bei Herder sind sie bei ihm geschlossene Kugeln); seine Staatsvergottung ordnet ihnen den jeweiligen Staat zu. Er sieht in Europa die Weltgeschichte an ihrem Ende angekommen und konstruiert einen fundamentalen Unterschied zwischen Europa und dem Rest der Welt. Die individuellen Kulturen sind welthistorischen Zwecken untergeordnet – daraus wird leicht völkermörderische Gewalt als Erfüllungsgehilfe des Weltgeistes, gerechtfertigt durch die Schwäche der Opfer. Afrika, das Opfer, wird bei Hegel durch eine „unkritische Blütenlese afrikanischer Gräuel“ zur barbarischen, nicht entwicklungsfähigen Gegenwelt.

Die Ethnologen hätten auch auf ganz andere Traditionen zurückgreifen können, aber Bernhard Hagen, der Gründer des Frankfurter Museums (den Petermann allerdings nicht zitiert) zog es zum Beispiel vor, mit dem Blick der Plantagenbetreiber die fremden Gemeinschaften bezüglich ihrer Eignung für die Zwangsarbeit zu unterscheiden.

Wenn der britische Evolutionist Henry Sumner Maine (1822-1888) den britischen Kolonialismus als Hilfestellung für den Übergang „from status to contract“ betrachtet, so schimmert da schon etwas von moderner Zivilgesellschaft hindurch: Angesichts der „gemeinsamen Erfahrung von Kolonisierten und Kolonisatoren“ (Said) kann es als Alternative zum Kolonialismus keine Rückkehr zu den ohnehin nicht idyllischen vorkolonialen Zuständen geben, sondern nur im Kontext gemeinsamer Verantwortung entwickelte „zivile“ Gesellschaften, die sich in ihrer Besonderheit wechselseitig anerkennen. Nur so können auch die Probleme überwunden werden, die sich aus einem radikalen wertfreien Kulturrelativismus ergeben.

Öffentlichkeit und Ethnologie
Auffallend ist, dass bei Petermann mit Selbstverständlichkeit das ganze Personal der Geschichte der sozialen Theorien des 18. und 19. Jahrhunderts erscheint – von Adam Smith bis Comte, um nur zwei Namen zu nennen. Und umgekehrt wird deutlich, wie stark Ethnologen und ihre Vorläufer beteiligt sind an der allgemeinen Entwicklung der universalhistorischen und sozialen Theorien. Selbtreferentielle Nabelschau scheint erst ein Produkt des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu sein. Eindrucksvoll ist es auch zu sehen, wie die US-amerikanische Anthropologie in der öffentlichen Diskussion in der Mitte des 2o.Jahrhunderts eine unübersehbare Rolle spielte. Sie sticht deutlich ab von der Marginalität der deutschen Ethnologie von heute.

Es drängt sich die Frage auf: Was trägt die heutige Ethnologie zur allgemeinen Wissenschaftsdiskussion in den Kultur- und Sozialwissenschaften bei? Bei der Lektüre dieses Buches entsteht der Eindruck, als verenge sich das Spektrum der Themen, bei denen die Ethnologie präsent ist, wie in einem Trichter auf immer speziellere Fragen. Früher war ethnologisches beziehungsweise universalgeschichtliches Denken Schrittmacher der öffentlichen Diskussion, heute überlässt die Ethnologie den Soziobiologen und den Neurowissenschaften Felder, die sie eigentlich auch bestellen könnte. Vielleicht wäre es interessant, wenn die deutsche Ethnologie doch etwas mehr als einen „kulturwissenschaftlichen Fleckerlteppich“ zustande brächte. Und dabei fällt auf, dass bei Petermann z. B. die Entwicklungsethnologie oder die Theorie der interkulturellen Beziehungen weitgehend fehlt (abwesend ist übrigens auch die ganze ethnographische Arbeit der ehemaligen sozialistischen Staaten; auch die Volkskunde wird nur beiläufig erwähnt, und unerwähnt bleibt unter anderem auch die zeitgenössische indische, chinesische, afrikanische Ethnologie. Das kann ein Autor und ein Buch sicher nicht leisten, und so froh ich darüber bin, dass es den Petermann gibt, so sehr bin ich auch neugierig auf diese anderen Diskussionen.

Alles schon dagewesen
Angesichts der nahezu zyklischen Wiederkehr ähnlicher Fragen und Positionen wird bei der Lektüre des Petermann-Buches der Konstruktcharakter der „Weltbilder“ deutlich: Als neu entdeckte ewige Wahrheiten gepriesene Positionen werden von anderen ebenso überzeugend abgelehnt, und diese verschwinden ihrerseits wieder im Orkus des Vergessens. Für Gregory Bateson zum Beispiel, bedeutend in der ökologisch-humanistischen Bewegung, sind Kulturen weitgehend geschlossene, homogene Systeme wie bei Frobenius und anderen. Der für überwunden gehaltene Funktionalismus arbeitet sich an den Insuffizienzen der anderen Theorien ab und kehrt als ökologischer Funktionalismus wieder. Die Klimatheorie wird schon früh zurückgewiesen und doch immer wieder virulent. Kultur bedeutet Befreiung von natürlichen Begrenzungen, betont Friedrich Ratzel schon Ende des 19. Jahrhunderts und thematisiert damit eine possibilistische Gegenrede gegen geographischen Determinismus. Die Naturalisierung der Seele mithilfe der damaligen Neurowissenschaften stand schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf dem Programm (man erinnert sich an Georg Büchner); heute gibt es einen neuen Anlauf dieser Disziplin in ähnlicher oder gleicher Richtung, der Biologismen und soziale Determinismen fördert.

Der Geisteswissenschaftler ist Teil des Gegenstandes, den er untersucht – Ethnologie ist eine Akteurswissenschaft. Der Autor gibt zu, Geschichten zu erzählen, die sich unter der Hand verselbstständigen. Vielleicht sind die großen Linien nicht deutlich genug, aber sie sind erkennbar: Der Mensch, aufgefächert in der Vielfalt seiner Verwirklichungsmöglichkeiten, ist das große, immer neu paraphrasierte Thema der Ethnologie, darin eingeschlossen das der Religion, der Kunst, der sozialen Organisation, der Naturbeherrschung. Und zu den eindrucksvollsten Erfahrungen zählt es, wenn in der kaum überschaubaren Vielfalt der Interpretationen erkennbar wird: Die großen Themen, über die gestern und heute diskutiert wird - irgendwie erscheinen sie in der Theoriegeschichte immer wieder, aber jede Generation muss sich neu mit ihnen auseinander setzen.

Petermann, Werner: Die Geschichte der Ethnologie. Wuppertal: Edition Trickster im Peter Hammer Verlag 2004. 1095 Seiten, 59,90 Euro ISBN 3-87294-930-6


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008