Von Ulrike Krasberg
Die georgische Ethnologin Lia Melikishvili veröffentlichte 1999 in Tbilisi die Ergebnisse einer Untersuchung zum Umgang und den Beziehungen zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in der Region Djavakheti, an der Grenzregion zu Armenien und der Türkei, im Süden von Georgien gelegen. Die Untersuchung vor Ort fand in den Jahren 1995-97 statt. An der Feldforschung und Datenerhebung war eine Gruppe von EthnologInnen und PsychologInnen beteiligt. Finanziert wurde das Projekt vom John und Catherine McArthur Fund und durchgeführt vom Caucasian Institute for Peace, Democracy and Development, Georgien. Der folgende Beitrag ist eine kurze Zusammenfassung des Forschungsberichts, der die Region aus ökonomischer, verwaltungspolitischer und psychologischer Perspektive analysiert, vor allem aber die Schwierigkeiten des Zusammenlebens aus der Sicht der drei dort lebenden Bevölkerungsgruppen schildert.
Georgien ist eine polyethnische Gesellschaft, die über Jahrhunderte entstanden und gewachsen ist, durch die Ansiedlung verschiedenster ethnischer Gruppen aus den das heutige Georgien umgebenden Ländern. In der Forschungsregion Djavakheti sind Georgier (christlich- orthodoxen und islamischen Glaubens), Armenier und Dukhoborer (eine christliche Sekte aus Russland) beheimatet. Jede dieser Gruppen lebt für sich und pflegt einen aus ihren Traditionen gespeisten Lebensstil, der sich aus der ursprünglichen Nationalität, Religion, Sprache und dem spezifischen Umgang mit der natürlichen Umwelt zusammensetzt. Die Untersuchung wurde in den Dörfern durchgeführt die zum Verwaltungsbezirk Gorelovka im Distrikt Ninotsminda gehören.
Dukhoborer
Die Dukhoborer – Angehörige einer christlichen, ursprünglich russischen Sekte - leben seit etwa 1841 in dieser Region und gründeten den Ort Gorelovka. Ihr Name bedeutet „Kämpfer für Glauben und Wahrheit“. Die Sekte entstand in der Mitte des 17. Jahrhunderts in Russland, als Ideen der Reformation und des Protestantismus aus Europa ins russisch-orthodoxe Christentum gelangten. Sie passte ihre Lebensform ihrem Glauben an, der die spirituelle Seite des Christentums betont. Sie lebten in Russland in kleinen Gemeinschaften nach den Idealen von Brüderlichkeit und Gleichheit (auch im ökonomischen Sinn) und bemühten sich um spirituelle Vervollkommnung. Da sie weder die Autorität der Kirche, noch die des Staates anerkannten, vertrieb Zar Nikolaus I die Mitglieder der Sekte per Dekret von 1839 in die Randgebiete Russlands nach „Transkaukasien“. Sie kamen aus den Ebenen Zentralrusslands und hatten große Mühen ihre Wirtschafts- und Lebensweise dem rauen Bergklima Djavakhetis anzupassen. Dank der festen Strukturen ihrer religiösen Gemeinschaft (gegenseitige Hilfeleistung in einem sozialen Netz gegenseitiger Verantwortung), die sich auch unter den neuen Bedingungen bewährten, gelang es ihnen eine wirtschaftlich und sozial gut funktionierende Gemeinschaft aufzubauen. Sie sind heute die Bevölkerungsgruppe in Djavakheti, die als eingesessene bezeichnet werden kann.
Muslimische Georgier aus Adjarien
Die nächste Gruppe, die – zeitlich sehr viel später - in diese Region kam, waren muslimische georgische Familien aus Adjarien, die ihr Land dort durch ausgedehnte Erosionen und Erdrutsche verloren hatten. Sie wurden ab den 1989-Jahren in diese Region umgesiedelt. Da sie das Bergklima und die besondere Art des Landbaus in Bergregionen aus ihrer Heimat gewohnt waren, fanden sie sich in Djavakheti schnell zurecht. Die Gruppe bestand aus jungen Familien, die alle mit einander verwandt waren. Als sie ankamen zogen mehrere Kleinfamilien in jeweils ein leer stehendes Haus, in der Hoffnung später weitere Häuser bauen, aber auch um sich gegenseitig schützen zu können.
[f:Armenier)
In der Grenzregion Djavakheti lebte immer schon eine zahlenmäßig starke armenische Bevölkerung und nach dem Völkermord an Armeniern durch die Türkei Anfang des 20. Jahrhunderts kamen viele armenische Flüchtlinge aus der Türkei dazu. Heute kommen auch aus dem Kernland Armeniens Siedler nach Djavakheti, die die Region historisch als „ihre“ definieren. Praktisch unterstützt wurde dieses ideologisch-nationale Besitzstreben zur Zeit der Untersuchung in den 90er-Jahren durch die den Fakt, dass die Infrastruktur dieser Region auf Armenien ausgerichtet war. So lag das nächste Krankenhaus (gebaut von italienischen Hilforganisationen) in Armenien, in der etwa 10 km entfernt liegenden Kleinstadt Gukasyanin. Die einzige gut ausgebaute Straße verbindet die georgische Kleinstadt Akhalkalaki, westlich von Gorelevka gelegen, mit Armenien. Telefonleitungen von Djavakheti gingen durch die armenische Hauptstadt Eriwan. Da georgische Fernsehsender in der Region aus technischen Gründen nicht zu empfangen waren, bekam die Bevölkerung von Djavakheti nur armenische Fernsehprogramme zu sehen.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion
Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Gründung der Republik Georgien 1991 änderte sich das Selbstverständnis der drei Bevölkerungsgruppen (Dukhoborer, Armenier und Georgier) in Djavakheti. Waren sie bis dahin alle Bewohner eines in sich geschlossenen mächtigen Staates, so ging es jetzt darum, in einer politisch und wirtschaftlich unsicheren Situation die eigenen (wirtschaftlichen) Interessen gegen die der anderen Gruppen zu definieren und durchzusetzen. Die Interessen der drei Gruppen formulierten sich jeweils durch ihren tradierten Lebensstil und ihre Historie. Jede Gruppe war leicht in der Lage die Region als ihr ureigenes Vaterland zu definieren, denn die Kaukasusregion zwischen Schwarzem und Kaspischen Meer war im Laufe der Geschichte von wechselnden Völkern besiedelt und von wechselnden Herrschern regiert worden, so dass die Frage, wer die ursprünglichen historischen Rechte auf das Land hat, kaum zu entscheiden ist. Und auch die Dukhoboren reklamierten Djavakheti als ihre Heimat mit Hinweis auf bestimmte heilige Orte und die Gräber ihrer Vorfahren, die diese Region als „ihre“ auswiesen.
Die eigentlichen Schwierigkeiten aber entstanden durch die wirtschaftliche Umstrukturierung nach der Auflösung der Kolchosen. In den Dörfern, die zur Gemeinde Gorelovka gehören, bekam jede Familie 1,25 Hektar Ackerland aus dem ehemaligen Kolchosenbesitz zur eigenen Nutzung. Anders allerdings in Gorelovka selbst (der ursprünglichen Siedlung der russischen Dukhoboren). Dort wurde beschlossen, das Land nicht an einzelne Familien zu geben, sondern geschlossen einer neu gegründeten Gesellschaft zu übereignen, der „Gesellschaft russischer Dukhoboren in Georgien“. Diese Gesellschaft diente in erster Linie dazu, das Gemeinschaftseigentum an Land für die Dukhoboren zu sichern.
Armenische Emigranten, die ins Land wollten mussten sich schriftlich verpflichten, dass sie kein Land erwerben wollten, sondern beabsichtigen, sich von Lohnarbeit - in welcher Form auch immer – zu ernähren. Eine Möglichkeit zur Lohnarbeit war, sich als Landarbeiter auf Gemeindeland in den Dörfern um Gorelovka herum zu verdingen: Nachdem jede Familie ihre 1,25 Hektar Ackerland bekommen hatte, wurde das übrig gebliebene Land – das offiziell dem georgischen Staat gehörte - von Landarbeitern gegen Lohn bearbeitet. Allerdings waren die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen schlecht. Da Georgien in den ersten Jahren als unabhängiger Nationalstaat eine Inflation seiner Währung erlebte, das staatliche Eigentum nicht gut verwaltet und Maschinen und Arbeitsmaterial nicht angemessen gewartet wurden, war es den armenischen (und georgischen) Landarbeitern kaum möglich von ihrer Lohnarbeit zu leben. Den Armeniern gelang es nach und nach eine Art „Schattenwirtschaft“ aufzubauen, durch kleine Läden, private Geschäfte usw.
Die Georgier betrieben - ähnlich den Armeniern - private Geschäfte, waren allerdings der Meinung, dass sie als Georgier im georgischen Staat Anrecht auf Unterstützung hätten und schrieben Petitionen an den Gemeindevorsitzenden, ihnen zusätzlich zu ihren 1,25 Hektar auch Land aus Staatsbesitz zu überlassen, um einen rentablen Betrieb aufzubauen. Mit Hinweis auf die Gesetzeslage wurden sie aber abgewiesen. Als Lohnarbeiter in der Landwirtschaft in den staatseigenen Betrieben standen sie in Konkurrenz mit den Armeniern. Wurden diese eingestellt oder für bestimmte Arbeiten angeheuert, fühlten sie sich im eigenen Land diskriminiert. Um überleben zu können, wurden sowohl von Georgiern als auch von Armeniern immer wieder Gesetze umgangen, und einigen gelang es, kleine private Betriebe auf staatseigenem Land zu etablieren.
Im Gegensatz zu den staatseigenen Betrieben, die in marodem Zustand waren und kaum Ertrag vorweisen konnten, arbeitete die Gemeinschaft der Dukhoborer mit guten Resultaten. Die tradierten Arbeitszusammenhänge sicherten den einzelnen Familien nach wie vor eine ausreichende Lebensgrundlage. Allerdings gehört zum Selbstverständnis der Sekte, dass niemand Reichtümer erwirtschaften und keiner mehr haben soll als der andere. Diese effiziente und selbstgenügsame Lebensweise wurde in den 90er-Jahren jedoch nicht mehr uneingeschränkt von allen geteilt. Etliche Dukhobarer konnten sich mittlerweile auch ein Leben auf sich selbst gestellt vorstellen und immer mehr verließen die Gemeinschaft. Ihre leerstehenden Häuser aber waren für Armenier, die in den 90er-Jahren aus Armenien nachrückten, attraktiv. Für sie war es unverständlich, dass sie in diesen Häusern nicht unterkommen und keine Lohnarbeit bei den Dukhoboren machen konnten. Für sie war das Gemeinschaftseigentum der Sekte gleichbedeutend mit einer staatlichen Kolchose. Wurde ihre Bitte um Lohnarbeit abgelehnt, fühlten sie sich diskriminiert.
Der Schrumpfungsprozess innerhalb der Dukhoborer-Gemeinschaft und das immer weitere Nachrücken von Armeniern aus dem Kernland Armeniens schafften Fakten in dem Sinne, dass Djavakheti mehr und mehr zu einem de facto armenischen Territorium wurde. Eine einseitige Auslegung historischer Fakten, die belegen sollten, dass diese Region eigentlich ur-armenisches Gebiet ist, sollten dazu beitragen irgendwann diese Region Armenien anzugliedern. Oder als Alternative, die Region in eine separate politische Einheit, abgelöst von Georgien, zu verwandeln.
Alle drei Bevölkerungsgruppen versuchen auf ihre Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Jede Gruppe lebt für sich, hat aus kulturellen und sprachlichen Gründen wenig Kontakt zu den anderen. Der Überlebenskampf führt immer wieder zu rivalisierenden Situationen. Da der georgische Staat nicht in der Lage ist Rechtssicherheit zu schaffen und auch infrastrukturell für die Bevölkerung nicht sorgen kann, befindet sich die Region in einem dauerhaften Krisenzustand, der leicht in offene Gewalt umschlagen kann.
Weiterführende Literatur
Melikishvili, Lia (1999): Latent Conflict in Polyethnic Society. Caucasian Institute for Peace, Democracy and Development. Tbilisi: Tbilisi University Press
Zur Autorin
Dr. Ulrike Krasberg, Ethnologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Museum der Weltkulturen. Privatdozentin am Institut für Vergleichende Kulturforschung, Universität Marburg. Feldforschung in Griechenland und Marokko.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008