Georgien, als eine Teilrepublik der Sowjetunion, lange hinter dem "Eisernen Vorhang" gelegen, war für den europäischen Westen 70 Jahre lang sozusagen nicht existent. Oder - in der Sprache des Kolonialismus - ein "Weißer Fleck" auf westeuropäischen Landkarten. Auch als Georgien 1991 als Nationalstaat selbständig wurde und die Weltöffentlichkeit im Zusammenhang mit Staats- und Wirtschaftskrisen von Georgien hörte, schien das Land eher ein Exot zu sein, zwischen Orient und Okzident und noch hinter der Türkei gelegen, der "Balkon am Hause Europa". Und die wollen zu Europa gehören? fragte sich mancher. Nach den kriegerischen Auseinandersetzungen im August 2008 wurde durch die geo-politische Situation aber deutlich, dass mit Georgien gerechnet werden muss.
Georgien selbst hofft durch "Europa" auf wirtschaftlichen Aufschwung und allmählichen Wohlstand. Dieser würde auch die vielen ethnisch-nationalen Kleinkrämereien im Staat mehr in den Hintergrund rücken lassen. Denn wie wichtig wäre in einem wirtschaftlich aufblühenden Georgien dann noch die Argumentation, dass die Region, in der man lebt, vor vielen 100 Jahren einmal Stammgebiet der eigenen Ethnie war und nicht die des Nachbarn, der heute auch hier seinen Acker bearbeitet?
Das Schwerpunktthema [f:Georgien) zeigt einige Aspekte des Landes und seiner Kultur, die in Westeuropa immer noch weitgehend unbekannt sind. Stéphane Voell gibt in seinem Beitrag einen kurzen Abriss der Geschichte Georgiens, vom "Goldenen Zeitalter" im 11. Jahrhundert bis zu den Schwierigkeiten, heute ein funktionierendes Parlament und demokratische Spielregeln zu errichten. Natia Jalabadze berichtet über ihre Forschungen zu nationalen Minderheiten, ein Thema, über das auch Lia Melikishvili in ihrem Buch zu "Konflikten in der polyethnischen Gesellschaft Georgiens" schreibt und das Ulrike Krasberg für diesen Schwerpunkt zusammengefasst hat. Godula Kosack und Elke Kamm schreiben über ihre Begegnungen mit Einheimischen in verschiedenen Regionen Georgiens. Sie erlebten überaus vielfältige lokale Kulturen und Traditionen, die durch die Jahrzehnte sowjetischer Ideologie und Herrschaft fast in Vergessenheit geraten sind, gleichwohl aber eine wichtige Rolle in der heutigen Herausbildung nationaler Identität spielen. Verlinkt ist dieser Schwerpunkt mit zwei thematischen Beiträgen am Beispiel Georgiens. Der eine "Die Schule der Straße in Georgien. Gewalt und Ehre zwischen den Zeiten" von Jan Koehler erschien im Schwerpunktthema 3|2005 "Ethnologische Kinder- und Jugendforschung", der andere "Das georgische Bankett. Eine kulturelle Reserve gegen die Globalisierung", verfasst von Florian Mühlfried erschien im Schwerpunktthema 5|2005 "Lokales in der globalisierten Welt".
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008