Von Elke Kamm
Eine Sage weist Georgien als das schönste Land auf Erden aus und das kam so: Als Gott die Erde verteilte und alle Völker dafür zusammen kamen, feierten die Georgier gerade mal wieder ein Fest. Sie tranken ihren selbst gemachten Wein und vergaßen die Verabredung mit Gott. Erst am nächsten Tag erinnerten sie sich an den verpassten Termin und es wurde ihnen klar, dass sie jetzt kein eigenes Land besaßen. Da gingen sie zu Gott und baten ihn, er möge ihnen doch noch ein Stück Land geben. Gott ließ sich überreden und sagte: „Nun gut, ich gebe euch das Land, das ich für mich selbst behalten wollte. Es ist der schönste Fleck auf der Erde!“ So kam das georgische Volk zu seinem Land, dass auf Georgisch Sakartwelo genannt wird.
Eines Tages, im Juni 2003, ich war bereits seit drei Monaten als deutsche Studentin an der Universität in Tbilisi für georgische Sprache und Geschichte eingeschrieben, lud mich meine georgische Freundin Natia zu ihrer Tante nach Pasanauri ein. Pasanauri liegt an der Heerstraße, die über den Kaukasus Richtung Russland führt. Die Straße ist stets belebt. Touristen lassen sich zum nahe gelegenen Kazbek – mit seinen 5047 Metern der höchste Berg Georgiens – fahren, um dort zu wandern. Andere nutzten die Straße als Verbindung ins angrenzende Russland. Natia und ich fuhren vom Busbahnhof Tbilisi mit der maschrutka (VW-Bus) auf der holprigen Straße nach Pasanauri. Die Fahrt dauerte vier Stunden.
Wir wurden schon erwartet, als wir in Pasanauri ankamen: Im Haus von Natias Tante war der Tisch so reich gedeckt, dass ich meine Kalorienrechnungen vergessen konnte (ich reise schon seit Jahren regelmäßig nach Georgien und der Brauch, seine Gäste königlich zu bewirten hat nie nachgelassen). Der Tisch war nicht nur in seiner Länge mit georgischen Spezialitäten gedeckt, Teller und Schüsseln stapelten sich auch in die Höhe: Auf drei Schichten über einander gab es chatschapuri (Käsefladen), chinkali (gefüllte Fleischtaschen), in Walnusssoße eingelegtes Hühnchen, frische Tomaten, Gurken, Salat, frisches Obst aus dem Garten und vieles, vieles mehr. Auch nach drei Stunden intensiver Nahrungs- und Weinaufnahme war keine Veränderung auf dem Tisch zu erkennen. Wohl aber in den zufriedenen Gesichtern der Menschen, die rund um den Tisch saßen. Zu meinem Leidwesen müssen Gäste immer besonders viel essen, da sie sonst die Köchin in Missgunst bringen, die glauben könnte, dem Gast hätte es nicht geschmeckt. Es ist aber nicht möglich oder ich habe es zumindest noch nie erlebt, dass nach dem Essen Schüsseln und Teller leer sind.
Zu so einem georgischen Gastmahl ( supra genannt) gehören auch Trinksprüche, die regional variieren. Es wird dazu eigens eine Person ( tamada ) bestimmt, die den Toast spricht und dabei ein Glas Wein dazu trinkt. Der erste Toast wird auf den Frieden getrunken, der zweite auf die Gastfamilie, der dritte gebührt dann dem Gast und seiner Familie. Erst wenn der tamada den Trinkspruch beendet hat, darf getrunken werden. Das kann zuweilen etwas länger dauern, da auch Gedichte oder Lieder in einen Toast eingebunden werden.
Jedenfalls werden Gäste in Georgien rundherum versorgt und das bedeutet auch, den Schutz der Gastgeber zu genießen. Falls der Gast in Not gerät, wird die Gastfamilie alles für ihn tun, um ihm aus einer misslichen Lage zu helfen.
Schon bei unserer Ankunft in Pasanauri sind mir weiße und braune Hüte aufgefallen, die auf Stöcke gesetzt, die Vorbeifahrenden ermutigen, hier anzuhalten und einzukaufen – oder sie zumindest einmal aufzusetzen. Ich konnte dem nicht widerstehen und ging mit Natia über den Dorfplatz zur Straße. Ein Mann saß neben den Hüten und erklärte mir, dass diese Hüte von ihm selbst aus Ziegen- und Schaffell angefertigt wurden. Sie werden von Männern bei traditionellen georgischen Tänzen getragen.
Auf der anderen Straßenseite saß eine alte Frau und strickte Socken und Handschuhe. Ich fragte sie, ob sie diese auch an die vorbeifahrenden Touristen verkaufen würde, und sie meinte, ja, es wäre sogar schon einmal ein vietnamesisches Fernsehteam hier gewesen, die einen Film über sie gedreht hätten. Sie würde schon viele Jahre ihre selbst gestrickten Socken und Handschuhe hier verkaufen. Eigentlich komme sie aus einem Dorf ganz in der Nähe. Sie sei vor über 50 Jahren hierher gekommen, da ihr Ehemann aus diesem Dorf stamme. Ihre Familie hatte ihr damals den Bräutigam ausgesucht. Als der Tag gekommen war, an dem die Hochzeit gefeiert werden sollte, stand sie vor der Haustür ihrer Eltern und wartete auf den Mann, den sie heiraten sollte, den sie jedoch noch nie gesehen hatte. Er kam auf einem Pferd angeprescht – im Schlepptau seine Freunde, die ihm beistehen sollten, falls sich ihnen jemand feindlich nähern sollte. Sie – die Braut – stand im Türrahmen und weinte, nicht nur, weil sie diesen ihr noch unbekannten Mann nun heiraten sollte, sondern auch, weil mit der Hochzeit der Zeitpunkt kommt, an dem in Georgien die Frau das Haus ihrer Familie verlässt, um im Haus der Familie ihres Mannes zu leben. Das ist für die Frau oft eine schwierige Situation, da sie als Fremde mit ihr fremden Menschen in einem fremden Haus ein neues Leben beginnt. Über die Jahre hinweg muss sie sich erst einen Status erwerben, und sich nach und nach als Schwiegertochter, Ehefrau, Mutter und beweisen.
Weinend stand sie – die Braut - vor der Tür und wurde von ihrem zukünftigen Ehemann auf sein Pferd gesetzt. Dieser ritt im Gefolge seiner Freunde mit ihr nach Pasanauri, wo das mehrtägige Hochzeitsfest gefeiert wurde. Jetzt, nach über 50 Jahren der gemeinsamen Zeit, sagt sie - und strahlt mich dabei an – kann sie sagen, sie habe einen guten Mann bekommen, denn sie verbrachte und verbringt eine glückliche Zeit mit ihm, ihren gemeinsamen Kindern und Enkelkindern.
Wenig später – auf dem Weg zurück zu Natias Verwandtschaft, treffen wir einen alten Mann, der mich fragt, woher ich komme. Ich gebe ihm Antwort und als er die Handschuhe sieht, die ich bei der alten Frau gekauft hatte, sagt er, dass er der Ehemann der Frau ist, die diese Handschuhe gestrickt hat. Ich frage ihn, ob er mir die Geschichte seiner Hochzeit erzählen möchte. Er freut sich und erzählt mir, dass er seine Frau am Tag der Hochzeit mit dem Pferd und einem Gefolge in ihrem Heimatdorf abgeholt hätte. Er war sehr aufgeregt, da er sie vorher noch nie gesehen hatte. Als er sein Pferd vor ihrem Elternhaus anhielt, sah er sie weinend an der Tür stehen. Da freute er sich, meinte er doch, dass sie bei seinem Anblick voller Freude und Glück Tränen vergossen hätte.
Zur Autorin
Elke Kamm, M. A., Ethnologin. Magisterarbeit zum Thema „Die Ehre der Frau – Annäherung an ein Geschlechterverhältnis in Georgien und der Türkei“. Seit 2001 jährliche Reisen nach Georgien. 2003: Studium an der Staatlichen Universität Tbilisi (TSU)
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008