Von Roland Seib
In den ersten sieben Monaten des Jahres 2004 verzeichnete die Kriminalitätsstatistik des süd-pazifischen Inselstaates Papua-Neuguinea 324 Morde und 563 schwerwiegende Sexualdelikte. Davon entfielen 85 Morde und 129 Vergewaltigungen auf die Hauptstadt Port Moresby. Im ganzen Vorjahr waren landesweit 592 Morde von den Behörden verzeichnet worden. Die Hälfte aller in Port Moresby aufgenommenen Straftaten entfiel auf die Kategorien „Bewaffne-ter Raubüberfall“, „Einbruch“ und „Autodiebstahl“. Nach der weltweiten Umfrage einer angesehenen Londoner Rating-Agentur zur Sicherheitslage in 130 Ländern kam die Stadt im Jahr 2002 auf den letzten Platz, noch nach Lagos und Karatschi. In Relation zur jeweiligen Bevölkerungszahl betrug die Kriminalitätsrate in PapuaNeuguinea in den 1990er-Jahren das zehnfache Australiens und sechsfache Fidschis. Jährlich kamen mehr Polizisten in Ausübung ihres Dienstes ums Leben als in Australien, Neuseeland und Fidschi zusammengenommen.
Oppositionsführer Peter O´Neill erklärte die Kriminalität im Land zum „öffentlichen Feind Nr. 1“, während die Geschäftswelt sie als größtes Hindernis einer wirtschaftlichen Gesundung ansieht. Frauenorganisationen demonstrieren in Städten wie Port Moresby und Goroka für die Wiederherstellung von Recht und Ordnung, während in einigen Hochlandprovinzen kirchliche Vereinigungen gegen die allgegenwärtige Unsicherheit und ausufernde Gewalt ethnischer Gruppen auf die Straße gehen. Es steht außer Frage, dass das fast alltägliche Gefühl von Angst und Unsicherheit, das fehlende Vertrauen in die Gewährleistung der eigenen Unversehrtheit für viele Bürger zu einem prägenden Merkmal einer erheblich eingeschränkten Lebensqualität geworden ist. Mehr noch hat sich die Anwendung von Gewalt seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1975 im öffentlichen Raum zunehmend als normales Verhaltensmuster zur Lösung von Problemen und Konflikten etabliert.
Erklärungen zu geben über die Phänomene der Gewalt und unzureichenden öffentlichen Sicherheit erweist sich als diffiziles Unterfangen angesichts eines kulturell und linguistisch hochgradig heterogenen Landes, in dem die Vorstellungen über abweichendes Verhalten von Clan zu Clan, Region zu Region und vor allem zwischen Ethnien und modernem Zentralstaat erheblich divergieren können. So stellen besonders im Hochland traditionell anerkannte Konfliktregelungen wie gewalttätige inter-ethnische Auseinandersetzungen, pay-back-Tötungen, sexuelle Übergriffe, Hexerei und andere Formen der Revanche nach staatlichem Recht schwere Straftaten dar. Andererseits sind auf dem Dorf als schwerwiegend angesehene Vergehen gegen soziale Normen wie Ehebruch oder das Verlassen des Partners strafrechtlich nicht erfasst. Auch werden vor allem Frauen in der auf Wiederherstellung einer Balance und Stabilität zielenden lokalen Sanktionierung aus rechtsstaatlicher Sicht diskriminiert, da die Angehö-rigen des Opfers statt das Opfer selbst durch materielle Kompensation zufrieden gestellt werden. Insbesondere im Hochland fehlen Respekt und Toleranz im Repertoire des auf Hierarchie, Autorität, Disziplin, Unterordnung und Bestrafung setzenden kommunalen Werte- und Kontrollkanons.
Die notorisch unzuverlässige und kaum im Detail differenzierende Kriminalitätsstatistik erlaubt zudem nur einen beschränkten Blick auf die Realität. Ein Großteil der angezeigten Straftaten entfällt auf urbane Zentren und Kleinstädte und hier mit 50% vor allem auf die Hauptstadt. Viele ländliche Regionen entziehen sich dagegen einer polizeilichen Kontrolle und staatlichen Autorität. In ihnen soll eine auf tradierten Vorstellungen und Mechanismen basierende vorstaatliche Dorfgerichtsbarkeit soziales Fehlverhalten ahnden. Für Gewaltdelikte sind dagegen generell die Polizei- und Justizbehörden zuständig, die aber wegen unzureichender Präsenz oder mangelnder Durchsetzbarkeit dem rechtsstaatlichen Anspruch auf Verfolgung und Bestrafung kaum gerecht werden. Enttäuschung und Abkehr sind dann auch häufig die Reaktionen auf die staatliche Untätigkeit und Unfähigkeit, die durch Übergriffe, wahllose Gewalt und Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitsbehörden noch verstärkt werden.
Erfasste zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit die Präsenz der Behörden gerade 10% der Landfläche und 40% der Bevölkerung, dürfte sich dieses Verhältnis seit den 1980er-Jahren eher noch verringert haben. Während sich damals die Stärke der Royal Papua New Guinea Constabulary bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 2,5 Millionen auf 4.100 Polizisten belief, kommen heute 5.000 Uniformierte auf 5,6 Millionen Menschen. Pro Schicht sind damit gerade 700 Beamte landesweit im Einsatz. Die Mehrheit der Polizisten dient der Aufrechterhaltung der Ordnung in den Städten, in denen mit 17% nur eine Minderheit der Bevölkerung lebt. Hinzu kommt die Notwendigkeit einer dauerhaften Polizeipräsenz in abgelegenen kon-fliktreichen Bergbaugebieten, in denen die Produktion gewährleistet werden muss, da die Mineneinkünfte neben den Entwicklungstransfers die wichtigste kontinuierliche Einnahmequelle des Zentralstaates darstellen. Es geht aber nicht nur um Unterausstattung, individuellen Schlendrian oder fehlende Moral und Disziplin, sondern gerade auch um eine jahrzehntelange politische Vernachlässigung der Sicherheitsbehörden, die mit dem Abzug der australischen Kolonialherren einsetzte.
Die Zunahme der Kriminalität steht vor allem in Zusammenhang mit dem im Land beobachtbaren schnellen kulturellen und gesellschaftlichen Wandel sowie den Fehlentwicklungen der letzten 30 Jahre. Waren bis zur Unabhängigkeit die sozialen Grundlagen der autonomen, durch Egalität geprägten Agrargesellschaften noch weitgehend intakt, haben sich danach moderne Einflussfaktoren in den Vordergrund geschoben, die geprägt sind von staatlich-institutionellem Verfall, wirtschaftlicher Marginalisierung, hohem Bevölkerungswachstum und erheblicher sozialer Schichtung und Ungleichheit.
Die Vernachlässigung ländlicher Regionen sowie Bildung und Massenmedien haben zur rapiden Urbanisierung beigetragen, die die Armutssiedlungen in und um die Städte hat anschwellen lassen. Eine Belagerungsmentalität, gekennzeichnet durch hohe Mauern, Stacheldraht und bewachte Wohnanlagen, hat längst von den Städten Besitz ergriffen. Die private Sicherheitsindustrie des Landes mit allein 5.000 Beschäftigten in der Hauptstadt dürfte die blühendste Branche des Landes darstellen.
Die Kriminalität in Papua Neuguinea ist männlich dominiert und wird zumeist in Gruppen begangen. Jugendliche im Alter von 17 bis 25 Jahren stellen den Personenkreis dar, der am häufigsten mit dem Strafgesetz in Konflikt gerät. Bereits in den 1960er-Jahren waren aufkommende Jugendbanden mit dem Pidgin-Wort „raskol“ etikettiert worden, die dann später den Begriff selbst adaptierten, um auf ihr Berüchtigtsein zu verweisen. Viele Heranwachsende sehen sich einer feindseligen und von Ungerechtigkeit geprägten urbanen Umgebung ausgesetzt, von der sie angezogen und gleichzeitig zurückgewiesen werden. Illegale Aktivitäten erhöhen dann das Selbstwertgefühl und steigern das soziale Prestige. Sie weisen zudem die höchsten Profite bei geringstem Risiko der Sanktionierung auf. Hinzu kommt, dass Verurteilungen und Gefängnisaufenthalte nicht mit einem sozialen Stigma behaftet sind. Das Bandenwesen und generell die Kriminalität sind aber auch Ausdruck der hauptsächlich männlich dominierten traditionellen wie modernen Lebenswelten, in denen Frauen nur eine untergeord-nete soziale Stellung zugestanden wird. Hinzu kommt ein Überlebensdruck angesichts fehlender Subsistenz sichernder Möglichkeiten wie Gärten und der schwindenden, weil überlasteten Leistungsfähigkeit verwandtschaftlicher Netzwerke (wantok-System).
Neben der einheimischen Kriminalität sind auch zunehmend Entwicklungen zu beobachten, die das Ergebnis der wirtschaftlichen Einbindung in den Weltmarkt sind und die sich langfristig als noch beunruhigender als das einheimische Raskol-Wesen erweisen könnten. Aufgrund eines desinteressierten Laisser-faire-Verhaltens oder verbreiteter Korruption der Behörden wird heute im Land mit weit mehr als 10.000 illegal Zugewanderten gerechnet. Ging es bisher vor allem um Personen aus Südostasien, die die Holzindustrie kontrollieren und die für die schnelle Verbreitung strafrechtlich relevanter Praktiken wie die Korruption verantwortlich gemacht werden, geht die Regierung davon aus, dass heute bereits festlandchinesische Syndikate unbehindert in der Hauptstadt operieren. Dem organisierten Verbrechen werden Menschen-, Drogen- und Pornographiehandel sowie Prostitution und Glücksspiel zugerechnet, zudem eine hohe Gewaltbereitschaft, die auch Todesdrohungen gegen Politiker und Beamte mit einschließt.
Das 2004 umgesetzte „Enhanced Co-operation Program“ zwischen Australien und Papua Neuguinea, Ergebnis einer hinsichtlich der Strukturen letztlich erfolglos verlaufenen australischen Entwicklungshilfe im Wert von bisher mehr als 15 Milliarden australischen Dollars und der subtilen Angst Canberras vor dem staatlichen Kollaps des Nachbarlandes, trug kaum dazu bei, das Klima öffentlicher Unsicherheit zu verbessern. Mehr nachhaltige Wirkung verspricht der langfristige Einsatz von knapp 70 Spezialisten vor allem im Rechtswesen, der helfen dürfte, der bis zur Lähmung reichenden Überlastung des Justizsystems zu begegnen und diesem Pfeiler der Gewaltenteilung wieder mehr Anerkennung und Legitimation zu verleihen. Damit ist auch die Intensivierung des Kampfs gegen Korruption und „Weiße-Kragen“-Kriminalität beabsichtigt, eine Maßnahme, die auf mehr Gleichheit vor dem Gesetz und Rechtssicherheit zielt und die in der Bevölkerung breite Anerkennung finden dürfte.
Der auf die öffentliche Sicherheit fokussierte Neuaufbau einer effektiven, Recht und Gesetz verpflichteten Polizeitruppe kann neben einer guten Regierungsführung nur ein Baustein zur Verbesserung der Lage sein. Auch führen allseits vorgebrachte Forderungen nach drakonischer Vergeltung mittels der (rechtlich bereits verankerten aber nicht ausgeführten) Todesstrafe in die Irre. Zu allererst muss es Papua-Neuguinea gelingen, aus eigener Kraft eine wirtschaftliche und soziale Konsolidierung zu erreichen, die vor allem die Heranwachsenden ökonomisch einbindet und ihnen damit eine sinnvolle Perspektive eröffnet. Erforderlich sind verantwortungsvolle und integere Führer, effizientere öffentliche Institutionen, gute politische Konzepte und eine Kooperation mit der Bevölkerung, um die öffentliche Sicherheit gewährleisten. Nur so wäre Vertrauen in das politische und staatliche System sowie die Bereitschaft der Menschen zur aktiven Mitgestaltung der Zukunft zu erzielen, was schon ein großer Schritt hin auf eine friedvollere und gerechtere Gesellschaft darstellen würde.
Gekürzte Fassung des gleichnamigen Artikels in: Böge, Volker; Jochen Lohmann; Roland Seib; Marion Struck-Garbe (Hg.) (2005): Konflikte und Krisen in Ozeanien. Pazifische Inseln zwischen häuslicher Gewalt und innergesellschaftlichen Kriegen. Neuendettelsau: Pazifik-Netzwerk e.V. S. 91–96
Weiterführende Literatur
Clifford, William; Louise Morauta; Barry Stuart (Hg.) (1984): Law and Order in Papua New Guinea. 2 Bd., Port Moresby
Australian Institute of International Affairs (Hg.) (1996): Papua New Guinea. Security and Defence in the nineties and beyond 2000. Sydney
Government of Papua New Guinea/Institute of National Affairs (2004): Report of the Royal PNG Constabulary Administrative Review Committee to the Minister of Internal Security Hon. Bire Kimisopa. Port Moresby
Zum Autor
Dr. Roland Seib, Politikwissenschaftler, Darmstadt, an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer mit Fragen der Staats- und Verwaltungsmodernisierung in Entwicklungsländern befasst. Regionaler Schwerpunkt: Südpazifik.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008