Von Ekkehard Schröder
Der Obermedizinalrat Dr. med. Dr. phil. Erich Drobec wurde am 25.02.1919 in Wien geboren und starb hochbetagt, zurückgezogen im Jahre 2004 in seiner Heimatstadt. Er promovierte in Medizin 1942, in Ethnologie 1950, schrieb in den 1950er-Jahren zahlreiche Pionierschriften zur Ethnomedizin und bekleidete später ein Primariat(Stelle eines Chefarztes). Nach dem Medizinstudium studierte er bei den aus der Mission kommenden Wilhelm Koppers und Martin Gusinde Ethnologie und veröffentlichte in den 1950er-Jahren eine Reihe akribischer Studien zur Medizin bei verschiedensten von Ärzten und Ethnologen beschriebenen Völkern. Er stellte verwundert fest, dass der Bereich der Medizin kaum je als solcher wahrgenommen, geschweige denn für sich gesondert beschrieben wurde. Vielleicht hatte er als Arzt einen spezifisch geschulten Blick dafür. Dieser verleitete ihn aber nicht dazu, nun mit der Brille des Mediziners alles irgend wie dem eigenen Weltbild Entsprechende bei anderen Ethnien zu suchen, zu erfassen und zuzuordnen. Er fragte sich vielmehr, wie es kommt, dass Mediziner dazu neigen, alles sehr rasch unter Medizin zu subsumieren, was irgendwie mit ihren Kriterien zu beschreiben ist, und warum sie entsprechend rasch dann be- und abwertende Kriterien anlegen. Auf gleiche Weise hinterfragte er auch die Arbeit der Ethnologen: Wie ist es zu erklären, dass unverkennbar medizinische Bereiche nicht als solche beschrieben oder wahrgenommen, sondern fast ausschließlich in den Bereich von Religion und anderen Erklärungszusammenhängen verlegt werden. Mit dieser Fragestellung erreichte er weder bei den Medizinern noch bei den Ethnologen ein größeres Publikum. Trotzdem sind seine Arbeiten brillant zu lesen und bis heute sehr anregend, da sie den Kern vieler heutiger Diskurse benannt haben. So kann er zu Recht als einer der wichtigen Väter der Ethnomedizin gelten.
Warum war vor 50 Jahren die Betrachtung eines der wichtigsten Handlungsbereiche des menschlichen Tuns, nämlich die des Alltags in kranken und gesunden Tagen, Diagnose und Therapie von kranken Zuständen und die Wiederherstellung der Gesundheit so wenig interessant? Drobec war der Ansicht, dass der eher organzentrierte Blick des rein naturwissenschaftlich geschulten Arztes oder auch die Ausrichtung auf eine reine religionswissenschaftliche Interpretation seitens der Ethnologie das Verstehen von Krankheit und Heilung behindert habe. Auch in der berühmten Zeitschrift Anthropos , in der Drobec 1955 seinen Hauptartikel veröffentlichte, erschien dieser in einer Nebenrubrik, bei den Analecta und Additamenta, ohne besondere Hervorhebung durch eine deutlichere Überschrift oder ähnliches.
Drobec sah zwischen der "primitiven" Medizin und der unsrigen keine wesentlichen, sondern nur graduelle Unterschiede und wies darauf hin, dass im Heilglauben vieler Volksmedizinen wirkliche Kenntnisse vorhanden seien, die manchmal vielleicht "abergläubisch" verschleiert seien. Er betonte den zielbewusst angewandten, zweckmäßigen Gebrauch von Heilmitteln bei den „Naturvölkern“, wie es früher hieß. Ihm war es wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Praktiken erst durch spätere Entwicklungen besondere oder magische Bedeutungen erhalten hatten. Er zählt zahlreiche bedeutende Ethnologen und andere Forscher auf, die sogenannten magischen Krankheitsursachen eine überragende Bedeutung verliehen hätten und versucht dies als ein Konstrukt zu hinterfragen. Zitat: "Man hat bei manchen Feldforschern geradezu den Eindruck, dass Animismus und Zauberei in die Primitiven hineingefragt wurden." Drobec darf dies aufgrund seines gründlichen Studiums der Quellen sagen. Er stellt die Medizin als eine der ältesten geistigen Betätigungsformen dar, die die Empirie als ihre Grundlage hat. Damit gibt er für Ethnologen und Mediziner den Gegenstand frei, ihn neu zu betrachten und aus den jeweiligen Eigentümlichkeiten fachspezifischer Sichtweisen herauszuholen. So wird die Ethnomedizin für Drobec notwendig auch ein interdisziplinäres Anliegen.
Interessant und bis heute gültig sind seine Kritiken an Rivers, Sigerist und anderen, die immer wieder als Väter der Ethnomedizin gesehen wurden. Dabei bleibt er jedoch nicht - wie manche neuere Autoren - bei einer bloßen Kritik stehen. So sieht er zum Beispiel das damals bekannte Sammelwerk von Oscar von Hovorka und Kronfeld zur vergleichenden Volksmedizin (1908/09) mit seinem "rigiden evolutionistischen Ansatz" nicht nur kritisch, sondern entdeckt darin auch Gedanken, die tatsächlich die Diskussion weiterführten – er weist darauf hin, dass "der sonst so evolutionistisch eingestellte Hovorka" wiederholte Male vor der Überschätzung des Zaubers warnt. Wir glauben, dass ein gründliches Studium der Aufsätze von Drobec auch heute noch vielen medizinethnologischen Magisterarbeiten reichlich Material liefern könnte, das Drobec bereits für sie vorsortiert hat.
Ein Anliegen Drobecs war, der Psyche im Krankheitsgeschehen mehr Geltung zu verschaffen. Er zitiert hier die zu seiner Zeit entstehende psychosomatische Medizin, die "Ganzheitsmedizin, die wieder den Anschluss an die individuelle Persönlichkeit und deren Behandlung suche" und quittiert dabei, dass die eingeborenen Medizinmänner in großem Umfang durch psychologische Effekte bessere Heilwirkungen erzielen würden als Kolonialärzte und manche Verfahren der europäischen Medizin. Gerade bei seiner Aufforderung, die Affekte und das Psychische mehr in den ethnologischen Diskurs einzubeziehen, stieß er vor allem auf Widerstand. Spätere und berühmtere Ethnologen wie Devereux, die sich in den Bereich der Medizin hineingewagt haben (Psychoanalyse), hatten und haben ihre Mühe, Sympathisanten zu finden, den Bereich des Affektiven, des Psychischen in die ethnologischen Diskurse mit einzubeziehen und dabei sich selbst als Handelnde zu hinterfragen.
Drobec hat sich damals in der Auseinandersetzung zwischen einem historischen und einem eher funktionalen Standpunkt befunden und kann keineswegs einfach der Wiener Kulturhistorischen Schule, in der er Ethnologie studierte, zugeordnet werden. Beim Studium der Auseinandersetzung mit der Übernahme fremder Methoden der Krankenbehandlung weist er unter Vorwegnahme des Themas „Transfer“ darauf hin, dass eher durch Misstrauen gegenüber fremden Therapien etwas Neues gefunden werden könne, was gegen den Gedanken der Diffusion von Kulturgütern sprach. Als ein angemessenes Verfahren das Material von Heilritualen, Beschwörungen etc. zu untersuchen schlägt er vor, diese als „rationale Therapien“ zu interpretieren. Dabei redet er keineswegs einer rationalistischen Vereinfachung und Reduktion das Wort, sondern plädiert dafür, zu überprüfen, ob mit Erklärungsmodellen aus der Psychologie plausiblere Interpretationen zu erhalten sind. Mehr nicht. Er kommt sogar zu der Empfehlung, dass nur medizinisch und ethnologisch gleichermaßen ausgebildete Wissenschaftler Ethnomedizin betreiben sollten. Diese Diskussion, die auch heute noch geführt wird, ist also bereits hier zu finden. Kritisch sieht er auch den "ethnologisch arbeitenden Laien", wobei er vor allem zu eilfertig forschende und interpretierende Ärzte meint. Inwieweit ein von medizinischem Wissen unbeleckter Ethnologe ebenfalls als ethnologischer Laie in Sachen Ethnomedizin zu betrachten ist, mag dabei offen geblieben sein. Drobec, in beiden Fächern ausgewiesen, hatte es damals schwierig, von beiden gehört zu werden.
Manche Debatten um Ethnomedizin versus Medizinethnologie erscheinen uns nicht unbedingt weiterführend zu sein. Es ist nicht zu übersehen, dass bis weit in die 90er-Jahre hinein der Gebrauch des Wortes Ethnomedizin für einen ethnologischen Sachverhalt unumstritten war. Medizinethnologie als Begriff setzt sich erst neuerdings im Zuge einer angestrebten Professionalisierung durch. Die berühmten beiden ersten Einführungen ins Fach von Beatrix Pfleiderer, Wolfgang Bichmann und später Katarina Greifeld von 1985 und 1995 tragen den Untertitel "Einführung in die Ethnomedizin", wobei sich der Haupttitel von "Krankheit und Kultur" in "Ritual und Heilung" verändert hat (Berlin: Reimer). Damit wurde lediglich belegt, dass der verhandelte Gegenstand ein primär ethnologischer und im weiteren Sinne auch ein anthropologischer ist.
Die vielen Studenten der Ethnologie und der Medizin, die in den späteren 1970er- und 1980er-Jahren die damaligen ethnomedizinischen Einführungen in ASA-Kursen (Arbeits- und Studienaufenthalte der Kübelstiftung Bensheim) hörten und durch Lehraufträge und an Workshops oder gesundheitspolitischen Aktivitäten wie der emanzipatorischen Tradition der Gesundheitstage teilnahmen, haben die hartnäckige Rezeptionsgeschichte des Begriffes Ethnomedizin geschrieben, dies insbesondere dank der damals wiederholt aufgelegten oder anderweitig übernommenen "Materialien zur Ethnomedizin" (Ludwig B. und Pfleiderer-Becker B. 1978), mit dem bis heute gültigen Handapparat, der nur fortgeschrieben zu werden braucht. Die Zeitschrift curare hat nach 50 Jahren den Überblick von Erich Drobec "Zur Geschichte der Ethnomedizin" wieder veröffentlicht, damit dieser bedeutende medizinethnologische Ahne in die heutigen Diskurse einbezogen wird, da er zu vielen aktuellen Fragen durchaus etwas zu sagen hat. Ethnomedizin im Rahmen eines "interdisziplinären Arbeitens zu sehen, um eine Integration zu einem ethnologischen Ergebnis zu erhalten" (Prinz 1984) ist das definierte Ziel der heutigen Wiener Ethnomedizin, das sich unter diesem Verständnis durchaus mit dem "interdisziplinären Arbeitsfeld Ethnomedizin" deckt, wie es die Arbeitgemeinschaft Ethnomedizin, Herausgeber der curare , seit ihrer Gründung 1970 verfolgt.
Gekürzte Fassung des Editorials "Erich Drobecs Text nach 50 Jahren" zum Reprint von "Drobec, Erich (1955): Zur Geschichte der Ethnomedizin." (in: Anthropos 50, 4/6: 950-957) in curare 28,1, (2005) 3-10 von Ekkehard Schröder und Armin Prinz
Greifeld, Katarina (Hg) (2003): Einführung in die Medizinethnologie. Ritual und Heilung. Dritte, grundlegend überarbeitete und erweiterte Auflage von „Krankheit und Kultur“, Hrsg. Pfleiderer Beatrix und Bichmann Wolfgang 1985. Berlin: Reimers
Hauschild, Thomas (1976/77): Zur Ideengeschichte der Ethnomedizin. Ethnomedizin. Zeitschrift für interdisziplinäre Forschung IV: 357-368, Reprint in curare 28,1( 2005) 15-23
Kroeger, Axel (1982): Kranksein in fremden Kulturen: Aufgabe und Dilemma der ethnologischen und sozialmedizinischen Forschung. curare 5,3: 167-176, Reprint curare 25, 1+2 (2002) 165-172
Ludwig, Bruni und Beatrix Pfleiderer-Becker (1978): Materialien zur Ethnomedizin. (Spektrum der Dritten Welt 15). Bensheim: Kübel-Stiftung (ASA-Programm)
Lux, Thomas (2004): Viele Namen für dieselbe Sache? Ethnomedizin, Medizinethnologie und Medical Anthropology. curare 27,3: 197-200
Prinz, Armin (1984): Die Ethnomedizin. Definitionen und Abgrenzung eines interdisziplinären Konzeptes. Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien (MAGW) 114: 37-50 (Reprint in curare 15,2(1992) 147-160)
Schröder, Ekkehard (1978): Ethnomedicine and Medical Anthropology. A Survey of Developments in Germany. Reviews in Anthropology 5,4 (Fall): 473-485
Zum Begriff Ethnomedizin: siehe www.agem-ethnomedizin.de unter Aktuelles: Was ist Ethnomedizin? Die "Definitionen und Hinweise aus dem deutschen Sprachraum 1969-2000".
Ekkehard Schröder studierte Medizin, Ethnologie und Philosophie in Kiel, Heidelberg und Mainz, Facharzt für Nervenheilkunde, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Seit Gründung der Arbeitsgemeinschaft Ethnomedizin (1970) für diese aktiv. Seit 1998 in freier Arztpraxis als Nervenarzt und Psychotherapeut, zuletzt seit 2003 in Potsdam.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008