Von Carsten Kloepfer
„Durch die Betrachtung all der Faktoren, die durch diese Krankheit im persönlichen, familiären, gemeindenahen und nationalen Umfeld beeinträchtigt werden, wird deutlich: die physischen Beeinträchtigungen sind minimal im Gegensatz zu den emotionalen, den psychosozialen, den ökonomischen Problemen, die durch diese Krankheit verursacht werden. Die physischen Beeinträchtigungen zeigen sich in der Regel erst im Endstadium der Krankheit, bis dahin aber werden die Menschen mit Stress, Ärger, Depression, sozialen Problemen, Verlust der Arbeit, ökonomischen Problemen, Diskriminierung, Stigma und so weiter konfrontiert. Mit diesen Problemen wird nicht nur das Individuum, sondern die ganze Umgebung konfrontiert: Familie, Kinder, Freunde, Gemeinde etc. Dies zeigt, dass AIDS nicht nur ein gesundheitliches, sondern vor allem ein psychosoziales Problem darstellt, und dass es Einfluss auf jeden hat.“
Lawrence Maunde, Leiter von Sangha Metta (etwa: Mitfühlende buddhistische Gemeinschaft)
Thailand weist ein faszinierendes Nebeneinander alter Traditionen und Rollenbilder, buddhistischer und animistischer Vorstellungswelten und eine rapide sich verändernde „moderne“ Gesellschaft auf. Die Integration „moderner westlicher“ Werte bewirkt rasante Veränderungen und lässt eine Gesellschaft entstehen, die durch die Ambivalenz der stolzen Aufrechterhaltung thailändisch-buddhistischer Werthaltungen einerseits und den Verlockungen der genussorientierten kapitalistisch „modernen“ Einflüssen andererseits geprägt ist.
Diese Ambivalenz kennzeichnet besonders die HIV/AIDS-Problematik, und das Verständnis der psychosozialen Folgen dieser „Zerrissenheit“ für die thailändische Gesellschaft ist für die effektive Präventionsarbeit besonders wichtig. So wie westliche Einflüsse in der thailändischen Gesellschaft kulturspezifisch angepasst werden, muss auch AIDS – das in Thailand als ein westlicher „Einfluss“ wahrgenommen wird – auf kulturspezifische Weise bekämpft werden.
AIDS in Thailand
Dieses wunderschöne Land, welches in Tourismusprospekten als das „Land des Lächelns“ angepriesen wird und aus europäischer Sicht häufig mit (Kinder-) Prostitution assoziiert wird, hat ein großes HIV/AIDS-Problem. Anand Pancharachun, ehemaliger Ministerpräsident und heutiger HIV/AIDS-Aktivist, begründet die starke Verbreitung des Viruses mit „soziokulturellen Praktiken, deren Existenz kein Land gerne eingesteht“ (UNDP 2004:63). So ist es beispielsweise immer noch Sitte, dass ungefähr die Hälfte der (verheirateten) thailändischen Männer regelmäßig kommerziellen Sex sucht.
Die von der Regierung Anfang der 80er-Jahre aggressiv betriebene und erstaunlich erfolgreiche Anti-AIDS-Kampagne hat ihre Wirkung mittlerweile verloren. Die Menschen haben sich an die Kampagnen gewöhnt, und die Regierung war froh, die riesigen Mahntafeln abbauen zu können – immer nur an AIDS erinnert zu werden war auch nicht gut für das Tourismusgeschäft. Heute warnen Beobachter, dass das Ausmaß der HIV/AIDS-Verbreitung bald noch erschreckendere Ausmaße annehmen könnte als in Afrika.
Die Präventionskampagnen waren bislang ausschließlich auf das kommerzielle Sex-Gewerbe ausgerichtet. Das hat dazu beigetragen, dass auch bei zunehmender sexueller Freiheit die Kondombenutzung im privaten Bereich nicht besonders verbreitet ist, da viele Thailänder die Gefahr der Ansteckung auf Bordelle reduzieren. Da ein Kondom als „schmutzig“ und „mit Prostitution befleckt“ gilt, wird sein Gebrauch in Bezug auf die Ehefrau als unwürdig angesehen und bleibt Prostituierten bei der Ausführung ihrer Arbeit vorbehalten. Dies hat dazu geführt, dass die Hälfte der Neuinfizierten Frauen und Kinder sind. Ehemänner übertragen den Virus, den sie sich bei Prostituierten geholt haben, auf ihre Frauen. Die derzeitige Lage an der Präventionsfront ist geprägt durch ein „Ausruhen“ auf alten Erfolgen und alten Strategien, die neuen Zielgruppen werden nicht erreicht.
Die Herausforderung der Zukunft ist die Ersetzung der nicht mehr zeitgemäßen staatlichen Präventionsprogramme durch spezifische, kulturell angepasste Maßnahmen. Hier engagieren sich vor allem Mönche und Nonnen und wirken mit dem Handwerkszeug des Buddhismus in Kooperation mit der Bevölkerung und „ihrer“ Gemeinden der Verbreitung von HIV/AIDS und der Diskriminierung infizierter Menschen entgegen.
Das moderne Thailand
Die thailändische Gesellschaft befindet sich in einem rapiden Modernisierungsprozess. Der Zusammenbruch alter Wertesysteme und Familienstrukturen, die rasante Zunahme von Promiskuität und Prostitution gekennzeichnet ist. Durch die Migration der mittleren Generation in die Städte einerseits und durch die hohe Sterberate von HIV/AIDS-Kranken andererseits kämpfen die Menschen in den Dörfern mit einem Mangel an Arbeitskräften und Einkommen. Mit einer zunehmenden Anzahl von Waisenkindern und zunehmend weniger Pflegekräften für alte oder kranke Menschen werden Großfamilien, das „Sicherheitsnetz“ der Thailänder, nachhaltig destabilisiert.
Während im alten Thailand durch gesellschaftliche Regularien die Promiskuität weitestgehend unter Kontrolle gehalten wurde, ist die zunehmend sexuelle Freizügigkeit auf die „Modernisierung“ gesellschaftlicher Wertesysteme, Urbanisierung und auf die Liberalisierung von Homosexuellen und dem veränderten sozialen Status von Frauen zurückzuführen. Frauen sind in der patriarchalisch geprägten thailändischen Gesellschaft häufig benachteiligt, aber sie haben sich ihre Nischen geschaffen. In einigen Bereichen sind sie sehr emanzipiert, in anderen weniger – es ist schwierig, dies mit westlich orientierten Maßstäben zu bewerten. Männer neigen zum häufigen Alkoholkonsum, und so müssen die Frauen sich nicht nur um ihre Kinder kümmern, sondern auch um das Einkommen der Familie - dadurch werden viele zur Emanzipation „gezwungen“. Aber auch im Bereich der Sexualität werden Frauen, besonders aus der Mittelschicht, wesentlich selbstbewusster und praktizieren im Zuge einer sexuellen Gleichberechtigung zunehmend promiskuitive Sexualität.
Buddhismus und AIDS-Prävention
Der Buddhismus ist eine stark synkretistische Religion, sehr flexibel und tolerant und bildet in Thailand mit dem Animismus die vorherrschende religiöse Kraft. Im buddhistischen Glauben spielt die Wiedergeburt eine besonders wichtige Rolle und damit das angesammelte Karma, das die Form der Wiedergeburt bestimmt. Mit der Geburt fängt der Körper an zu altern, bekommt Krankheiten und stirbt irgendwann - ein Kreislauf, dem keiner entrinnen kann. Krankheit ist somit einfach nur ein Bestandteil des normalen Lebens, und ihre Akzeptanz verringert Schmerz und Leiden.
Dass das Karma eines Menschen der entscheidende Faktor für seine Infizierung mit HIV und somit „eigene Schuld“ sei, ist in Thailand noch eine recht verbreitete Überzeugung. Dagegen stellt der Buddhismus das zentrale Konzept des metta , des Mitgefühls (Liebe, Güte und Empathie gehören zu den spirituellen Tugenden der Buddhisten).
Sexualität wird im Buddhismus als einer von vielen Wegen zur Erlangung von Vergnügen angesehen. Da aber die Sexualität auch als eine Form der „Anhaftung“ gesehen wird (die es zu überwinden gilt), sollten Gläubige lernen, dieses Verlangen zu kontrollieren. Somit wird Risikoverhalten im Sinne der Ansteckung mit HIV nicht verboten, aber die Mäßigung und die Selbstverantwortung betont.
Es gibt eine Reihe grundlegender Weltsichten des Buddhismus, deren positive Sichtweise eine konstruktive Herangehensweise an die HIV/AIDS-Problematik erlauben: der Leidensaspekt, die Flexibilität und Toleranz, die positive Sichtweise, die Bedeutung der sozialpsychologischen Betrachtung, das Konzept des Mitgefühls, die Sicht des Menschen an sich und nicht als Symptomträger und die universelle Spiritualität als verbindendes Element. Auch gilt im Buddhismus Unwissenheit als die Wurzel allen Übels in der Welt. Die Bekämpfung der psychosozialen Folgen von HIV/AIDS passt gut in diese Vorstellungswelt des Buddhismus: Stigma, Diskriminierung und Assoziation von HIV/AIDS mit „Schuld“ werden bekämpft, damit anfängliche Intoleranz, adäquatem Wissen, Akzeptanz und Integrationswillen weicht. Betrachtet man aus buddhistischer Sicht das Leiden, das durch HIV/AIDS verursacht wird, treten die physischen Auswirkungen schnell in den Hintergrund, und es wird deutlich, dass das größere Leiden auf der psychosozialen und mentalen Ebene stattfindet. Die physischen Symptome und die immunologische Ebene sind direkt vom mentalen Zustand des infizierten Menschen abhängig.
Die Behandlung durch Meditation hilft die Krankheit zu akzeptieren und ihren Verlauf zu verzögern, wohingegen die Nicht-Akzeptanz zu Angst, Stress und Ärger führt. Meditation ist der Versuch, das Leben und sich selber zu verstehen – dadurch bietet sie eine gute Möglichkeit, sich auf alles, was mit einer HIV-Infektion zusammenhängt, vorzubereiten und die Themen Tod, Altern und Krankheit nicht zum Tabu werden zu lassen.
HIV/AIDS wird in Thailand als eine „moderne“ westliche Krankheit wahrgenommen, gegen die die traditionell geprägte thailändische Gesellschaft machtlos sei. Aber es gibt viele Konzepte der traditionellen thailändischen Gesellschaft, die den westlichen gar nicht so unähnlich sind, die sich sehr gut für den Kampf gegen HIV/AIDS eignen. Methoden, die bereits seit Jahrtausenden Bestandteil der thailändischen Kultur sind, können hervorragend in der Prävention und im Umgang mit der Krankheit eingesetzt werden, und so können westliche Trainings mit ähnlichen Methoden ihren Platz im buddhistischen Kulturkreis finden.
Mönche nutzen ihren Tempel als Basis, um das Bewusstsein über HIV/AIDS zu steigern und Betroffenen zu helfen. Die Lehre Buddhas ist die ideologische Grundlage und die Gemeinde die Zielgruppe. Die stetige Anwesenheit der Mönche in der Gemeinde, ihre Rolle als spirituelle Führer, ihre Lehrer- und Vorbildfunktion, ihre Ausbildung in der Bekämpfung von HIV/AIDS und ihr breit gefächertes (buddhistisches) Wissen ermöglichen ihnen eine effektive und ganzheitliche Form der HIV/AIDS-Bekämpfung. Ihre Arbeit umfasst Aufklärung, Prävention, Beratung, ökonomische und ideologische Unterstützung, Sterbebegleitung und die Integration infizierter Menschen.
In Zukunft muss die buddhistische Herangehensweise und deren Stärken in der AIDS-Prävention noch mehr beachtet, gefördert und erforscht werden. Von entscheidender Bedeutung für das Gelingen solcher Strategien sind: Prävention statt Nachsorge, Verstehen statt Ausgrenzen, Handeln statt Reden und die Zusammenarbeit aller relevanten Institutionen. Der „modernen“ Verknüpfung von Geld und Glück und der Kommodifizierung von Sexualität, kann der Buddhismus eine Rückbesinnung auf das selbst, die Nachhaltigkeit und die Spiritualität entgegensetzen. Der Buddhismus kann dabei helfen, diese verlorene Selbstbeschränkung wieder zu erlernen und sich seiner selbst und damit den wesentlichen Dingen wieder bewusster zu werden.
Dieser Beitrag ist die gekürzte Version eines Artikels, der in: Hannes Stubbe, Chirly Dos Santos-Stubbe (Hg.): Kölner Beiträge zur Ethnospsychologie und Transkulturellen Psychologie, S. 73-96. Göttingen: V&R Unipress erschienen ist.
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Cand. Dr. Carsten Klöpfer, Psychologe, Universität Köln. Dreijähriger Aufenthalt in Asien, in Nepal und Kambodscha für die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit und ein Jahr in Thailand für die Heinrich-Böll-Stiftung. Zurzeit Arbeit an der Promotion zum Thema „Präventionsstrategien gegen die Psychosozialen Folgen von HIV/AIDS – ein Vergleich zwischen Südostasien und Europa am Beispiel Thailands und Luxemburgs“.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008