Von Anja Weber
Tarabuco liegt auf 3.284 Metern in den Hochtälern der Anden Boliviens (Department Chuquisaca). Der Ort befindet sich 63 Kilometer südöstlich der „weißen Stadt“ Sucre, die mit ihren im Kolonialstil errichteten weißen Häusern zum Weltkulturerbe der UNESCO zählt. Als die Spanier im 16. Jahrhundert in dieser Region eintrafen, fanden sie unterschiedliche ethnische Gruppen vor. Die quechuasprachigen Bewohner der Region um Tarabuco gehören der Kultur der Yampara an. Daneben war die Gegend zu damaligen Zeiten auch von Mitimaes bewohnt. Die Mitimaes waren von den Inka eingesetzte Krieger, die zur Sicherung der Grenze ihres Territoriums in Randgebieten angesiedelt wurden. Diese stammten aus Arequipa, Cuzco, der Region des Titikakasees, dem heutigen Ecuador und anderen Gebieten Südamerikas.
Die Gründungsurkunde von San Pedro de Montalván de Tarabuco datiert vom 29. Juni 1570. Der Spanier Don Francisco de Toledo ließ den Ort auf einer bereits existierenden Ansiedlung der Yampara errichten. Die sich aus dieser und in der nachfolgenden Zeit herausbildende typisch regionale Bekleidung und Textilform Tarabucos spielt eine große Rolle in der kulturellen Repräsentation seiner heutigen Bewohner. Die das Erscheinungsbild der Kultur prägende Kleidung ist eine Kombination von aus Spanien stammenden Stilrichtungen, die ihnen ab 1782 offiziell zu tragen erlaubt war, und einem je nach Gruppe variierenden traditionellen eigenen Stil. Auffällige Kopfbedeckungen wie zum Beispiel die aus Leder gefertigten monteras , spanischen Helmen nachgebildete Hüte, und farbenfrohe oder mit ikonographischen Elementen reichhaltig verzierte Kleidung machen heute den touristisch wirksamen „visuellen Effekt“ der Tarabuqueños aus.
Dazu gehört auch der Karneval, ein wichtiges Fest der Einwohner von Tarabuco. Mit ihm wird die gewonnene Schlacht gegen die Spanier vom 12. März 1816 gefeiert, die unweit des Ortes stattfand. Sein traditioneller Tanz, der Pujllay, ist ein wichtiges touristisches Aushängeschild für die gesamte Region Chuquisaca, die schon seit 30 Jahren touristisch bekannt ist.
Die Kleinstadt Tarabuco mit ihren 2442 Einwohnern wird vor allem sonntags von Touristen besucht. Sie nutzen die mittlerweile geteerte Straße zwischen Sucre und Tarabuco für eine bequeme eineinhalb Stunden dauernde Reise. Der traditionelle Markt Tarabucos, auf dem früher bargeldloser direkter Tauschhandel, auch Trueque genannt, betrieben wurde, ist der Hauptanziehungspunkt des Ethnotourismus. Die Einheimischen in ihrer farbenfrohen Kleidung locken die Touristen vor allem mit dem Verkauf ihrer Textilien. Aber auch viele Bewohner der umliegenden Gemeinden Tarabucos kommen jeden Sonntag, um auf dem Markt einzukaufen, sich zu treffen und neuesten Tratsch auszutauschen.
Zum ersten Mal kam ich für eine studentische Feldforschung Anfang August 2005 nach Tarabuco. Ich wollte untersuchen, wie sich der Tourismus darstellt und durchgeführt wird, wie er in das Leben der Menschen vor Ort eingreift und welche Kenntnisse, Vorstellungen und Erwartungshaltungen diese gegenüber dem Tourismus haben. Ich fragte mich: Gibt es einen nachhaltigen kommunalen Tourismus (community-based tourism) in Tarabuco?
An diesem sonnigen Donnerstag war der Ort um die Mittagszeit ruhig, fast leer. Neugierig unternahm ich meinen ersten Erkundungsspaziergang durch die Straßen, als zwei kleine Mädchen auf mich zukamen. „Fotografiere mich!“, wurde ich aufgefordert. Und danach: „... und gib mir Geld dafür.“ Damit war ich schon mittendrin in meiner Forschungsthematik, schneller als ich dachte, aber nicht unbedingt so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Ich war ja schließlich keine Touristin, sondern Ethnologin! Aber ich entsprach dem Touristenbild dieser Mädchen, und hier begann schon meine sich durch die folgenden Monate ziehende Auseinandersetzung mit einem Touristenbild, das immer wieder für Probleme sorgte im Kontakt zwischen Einheimischen und Touristen. Es gab auch durchaus Touristen, die eine solche Situation als unangenehm empfanden.
Um sich ein Bild über die Situation und die Auswirkungen des heutigen Tourismus machen zu können, lohnt es sich, die unterschiedlichen Gruppen von Akteuren mit ihren jeweiligen Vorstellungen und Erwartungen sowie deren Interaktionen anzuschauen.
Der für den Tourismus zuständige Regierungsbereich Sucre wirbt – auch international – für sich und die ganze Region um Besucher. Dabei werden schon seit vielen Jahren Bilder und Fotografien Tarabucos verwendet. Die Bilder zeigen Menschen in ihrer traditionellen Kleidung, meist musizierend oder tanzend. Aber Tarabuco lehnt in letzter Zeit jede Form gemeinsamer Projekte im touristischen Bereich ab. Es gab in der Vergangenheit immer wieder Konflikte in der Kooperation zwischen Sucre und Tarabuco, und trotz der Bemühungen von Seiten der Regierung in Sucre die Zusammenarbeit zu intensivieren, hält sich Tarabuco nach wie vor aus allen Kooperationen heraus.
Die Reisebüros, die alle in Sucre ansässig sind, arbeiten eigenständig und ohne weitere Kooperation mit Tarabuco. Touren werden gewöhnlich nur sonntags angeboten, um den traditionellen Markt zu besuchen. Touristische Informationen über Tarabuco sind meist sehr oberflächlich und gehen über die Aussage, dass es sich um einen Marktbesuch mit traditionellem Kunsthandwerk und Textilien handelt, meistens nicht hinaus. Eine Tour, die zwischen 25,– und 35,– US-Dollar in einer Gruppe kostet oder als Einzeltarif zwischen 55,- und 65,- US-Dollar zu haben ist, beinhaltet den privaten Transport, einen Reiseführer und das Mittagessen, zumeist in einem der beiden Restaurants, deren Besitzern Einwohner von Sucre sind. Zum Vergleich: die Hin- und Rückfahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln kostet etwa 2,- US-Dollar, ein Mittagessen in einem der anderen Restaurants zwischen 1,- und 1,50 US-Dollar. Trotz dieses enormen Preisgefälles reist ungefähr die Hälfte der Touristen in Tarabuco mit einer geführten Tour an.
Es ist klar, nicht die Menschen in Tarabuco ziehen Gewinn aus dem Tourismus in ihrem Ort, sondern private ortsfremde Tourismusanbieter. Weiterhin fordern die Reiseunternehmen von Tarabuco, die Grundbedingungen für den Tourismus zu verbessern, anderenfalls – so wird unterschwellig gedroht – könne man ja auch auf andere Orte traditionellen Charakters in der Region Chuquisaca ausweichen.
Die Mehrzahl der Touristen reist nach Tarabuco, um das Leben der Tarabuqueños, ihre Kultur und Traditionen sowie den (Textil-)Markt kennen zu lernen. Der Aufenthalt beträgt – trotz der vorhandenen Unterkünfte – meist nur einige Stunden. Andere interessante Stätten Tarabucos, wie zum Beispiel die alte Eisenbahnstation oder der kleine Berg mit einer schönen Sicht auf Tarabuco und die Umgebung, werden aus Unkenntnis nicht besucht. Zudem kaufen viele Touristen nichts auf dem Markt ein, da die „andinen“ Produkte hier teurer sind als andernorts in Bolivien. Dass die traditionellen Textilien Tarabucos in aufwendiger Handarbeit hergestellt werden und damit ein höherer Preis gerechtfertigt ist, wissen die individuell reisenden Touristen meist nicht, weil ihnen die Qualität der Erzeugnisse nicht erklärt wird.
In Tarabuco gibt es das Amt eines Kultur-(und Tourismus-)beauftragten. Aber das Amt arbeitet nicht zur Zufriedenheit der Bevölkerung. Beschwerden gibt es über die seit einiger Zeit geschlossene Touristeninformation und über die sonntägliche Lärm- und Verkehrsbelästigung, verursacht von den bis in das Zentrum der Kleinstadt vordringenden Transportern, sodass ein gemütliches Frühstück oder Mittagessen der Touristen sowie ungestörte Verkaufsabschlüsse nicht möglich sind. Auch mangelnde Hygienekontrolle sowie allgemein fehlendes Know-how des Amtsträgers in der Tourismusförderung wird beklagt.
Die Begegnung zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Touristen findet auf unterschiedlichen Ebenen statt, bleibt generell jedoch eher oberflächlich. Da es aufseiten der lokalen Akteure oft keinerlei touristisches Wissen gibt, und auch viele Touristen mit wenig Vorkenntnissen nach Tarabuco reisen, kommt es auf beiden Seiten zu Unzufriedenheit und Unsicherheit. Beim Kauf und Verkauf von Produkten des Kunsthandwerkes fühlen sich viele Touristen bedrängt. Ob beim Schlendern über den Markt, beim Frühstück oder Mittagessen, überall werden sie nachdrücklich zum Kauf aufgefordert, es wird an ihnen herumgezupft, sie werden flehentlich gebeten zu kaufen, und fast ununterbrochen wird auf sie eingeredet. Die Verkäufer sind auf ihre Verdienste angewiesen, vor allem diejenigen, die sonntags mehrere Stunden von den umliegenden Dörfern nach Tarabuco wandern. Viele unter ihnen brauchen den Verdienst aus dem Textilhandel, um Lebensmittel für die kommende Woche einzukaufen. Und gerade sie sind diejenigen, denen das Wissen über die Touristen, deren Erwartungshaltung und Wünsche, fehlt. Der vorherrschende Verkaufsdruck und das daraus resultierende teilweise aggressive Verkaufsgebaren stößt bei den Touristen auf Widerwillen und ruft Abwehrverhalten hervor.
Die Region Chuquisaca zählt zu den ärmsten Boliviens. Die Bewohner Tarabucos leben hauptsächlich von der Landwirtschaft, der Tourismus stellt einen wichtigen zusätzlichen Einkommensfaktor dar. Kommunalen Tourismus als Einkommen schaffende Maßnahme anzusehen, gehört zu einem weltweit steigenden Trend und wird von internationalen Organisationen intensiv gefördert.
Der Tourismus in Tarabuco hat sich jedoch lange vor diesem Trend entwickelt, er existiert bereits seit 30 Jahren. Allerdings ist es kein Tourismus, der eigenständig aus den Gemeinden heraus entwickelt wurde und selbst verwaltet wird. Die wirtschaftlichen Akteure aus Sucre bestimmen hier das touristische Geschehen, die Bevölkerung Tarabucos selbst besitzt wenig Einflussmöglichkeiten. Auf der anderen Seite sind es jedoch gerade die Reisebüros aus Sucre, die für den Ort Tarabuco als touristische Destination werben. Ohne diese Werbung wäre Tarabuco „lediglich“ ein Ort wie viele andere in der Region Chuquisaca auch. Den hauptsächlichen finanziellen Profit erzielen Anbieter ohne erkennbare nähere Beziehung zur Bevölkerung Tarabucos. Die einheimischen Unternehmer sind wirtschaftlich weitgehend auf sich allein gestellt. Diese Form von Tourismus schafft ein Abhängigkeitsverhältnis der Tarabuqueños gegenüber Tourismusanbietern in Sucre. Vor allem die Zielgruppen dieses Ethnotourismus, das heißt diejenigen, die in ihrer traditionellen Bekleidung das Interesse der Touristen wecken, besitzen oft keinerlei Kenntnis über Funktionsweisen und Bedingungen von Tourismus. Durch die falschen Vorstellungen und Erwartungen entsteht ein gespanntes Verhältnis zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Touristen, was die Sozialverträglichkeit dieser Form des Ethnotourismus infrage stellt.
Kann ein gut geplanter kommunaler Tourismus, wie er im Rahmen eines Projektes zur Entwicklungszusammenarbeit durchgeführt werden könnte, eine Lösung für die Probleme sein? Ansätze zur Überwindung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen den Bewohnern Tarabucos und den Tourismusanbietern in Sucre würden in einem ersten Schritt jedoch zu weiteren Spannungen führen, da die Komplexität der sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen all den beteiligten Akteuren groß ist.
Cereceda, Verónica / Dávalos, Jhonny / Mejía, Jaime (1998):Una Diferencia, un Sentido: Los Diseños de los Textiles Tarabuco y Jalq'a. 2. Ed., Antrópologos del Surandino (ASUR), Sucre.
Ugate, Viviana (1996): Tarabuco, un Destino Turístico. In: Borda Dalgadillo, Roxana u.a. (Hg.): Oferta Ecoturística de Bolivia. Talleres Artes Gráficas Sagitario S.A., La Paz; S. 115-118.
Vedia Vela, Julián (Hg.): Primera Sección Municipal Tarabuco. In: ¿A dónde vas Chuquisaca ... ? PRDTA, Imprenta Editorial“Tupac Katarí“, Sucre.
Anja Weber ist Studentin der Ethnologie, Altamerikanistik und Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie absolvierte mehrere Aufenthalte in Südamerika und ist aktives Mitglied bei GATE e.V. - "Gemeinsamer Arbeitskreis Tourismus und Ethnologie e.V.".
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008