Von Henry Kammler
In den Souvenirläden sieht man sie. Verkaufsstände am Straßenrand bieten sie an, auch kleine Kinder mit Bauchläden, illegale Händler legen sie auf den Granitplatten der Gehwege in den mexikanischen Metropolen aus. In den Häusern der Mexikaner hängen sie gleich neben dem kleinen obligatorischen Marienaltar oder an der Wand mit den verblassenden Fotographien der zahlreichen lieben Verwandtschaft. Kaum ein amerikanischer Tourist, der sie nicht im Gepäck als leicht transportables Souvenir aus einem doch irgendwie immer noch wilden Land in seine sichere Heimat mit sich führt. Vom Lesezeichen übers Postkartenformat bis zur Größe von Wandteppichen sind diese amates zu haben: grellbunte Malereien auf braunem oder weißem Rindenpapier — bizarre Blumenornamente und einer lebendigen Fantasiewelt entspringende Vogelwesen oder aber niedliche Szenen einer arbeitsamen Dorfbevölkerung: Mensch und Tier bei Aussaat und Ernte. Und immer häufiger endlose Repliken des kreisrunden aztekischen Kalendersteins, den manche immer noch „Sonnenstein“ nennen, der in tonnenschwerer Gelassenheit mit seinen zweieinhalb Meter Durchmesser im Nationalen Anthropologischen Museum ruht. Zum Nationalsymbol gleich neben dem eine Schlange im Schnabel haltenden Adler auf dem Kaktus aufgestiegen, verkörpert der Monolith auch ungebrochene Kontinuität zu den imperialen Traditionen eines uralten Mexiko.
„Uralt“ ist dann auch die Antwort, die der neugierige Tourist auf die Frage nach dem Alter dieser Rindenmaltradition vom indianischen Händler erhält. Schließlich sei das ja auch das Papier, das schon die Azteken verwendeten, um ihre Kodizes zu schreiben. Ein Blick ins Wörterbuch klärt uns auf: Das Wort amate leitet sich - wie so vieles, was heutige Mexikaner in den Mund nehmen - tatsächlich aus dem Aztekischen ab, "âmâtl" bedeutet da nichts anderes als „Papier“. Nimmt der Reisende sich Zeit, wird er vom Händler auch erfahren, dass dieser selbst, seine Familie, ja fast sein ganzes Dorf unten im Bundesstaat Guerrero, amates bemalen — manche haben gar die Landwirtschaft aufgegeben, um sich ganz dieser Einkommensquelle zu widmen. Und hocherfreut nimmt der Reisende zur Kenntnis, dass ihre Muttersprache immer noch Nahuatl — gewissermaßen modernes Aztekisch — ist. "Da schließt sich der Kreis also", denkt sich der Tourist, "heutige Azteken halten unverdrossen an ihren prähispanischen 'Wurzeln' fest! Wunderbar, diese unterbrechungsfreie Verbindung mit der Welt der UrahnInnen."
Will der neugierige Reisende der Herkunft der amates nachspüren, sollte er sich in einen Bus Richtung Acapulco setzen. Da, wo es ihm auf der Strecke am heißesten und unwirtlichsten erscheint, sollte er aussteigen — er wird sich ziemlich sicher in der Nähe des Nahua-Dorfes Xalitla befinden. Es zählt zu den pueblos amateros , also jenen, in denen die amates bemalt werden. Viele sind es ohnehin nicht, die anderen heißen Ameyaltepec, San Juan Tetelcingo, San Agustín Oapan und Maxela. Tatsächlich finden sich in jedem der gastfreundlichen Haushalte Volkskünstler. Männer und Frauen, Jung und Alt tragen zum Familieneinkommen auf diese Art bei. Bemalt werden nicht nur amate-Bögen, sondern auch Keramik und geschnitzte Holzfiguren. Zwar ist überall das Papier präsent, es scheint aber aus dem Nichts zu kommen. Die vage Angabe, es bestehe aus Baumrinde, lässt ahnen, dass die Einheimischen in Bezug auf den genauen Herstellungsvorgang genauso im Dunkeln tappen, wie der dem Bus entstiegene Fremde.
Vielleicht erspäht der aber gerade einen Händler mit dicken Ballen des amate-Papiers auf dem Rücken, der, von Haus zu Haus gehend, seine Ware feilbietet. Wo denn das Papier nun herkomme, mag er den Händler fragen. Der wird lächelnd sagen, das wisse doch jeder: aus San Pablito Pahuatlán im Staate Puebla, anderthalb Tagesreisen nördlich von hier, dem einzigen Ort in Mexiko, wo man aus den Rinden verschiedener Maulbeerbaumarten Papier herzustellen verstehe. Dort werde Ñähñu (Otomí) gesprochen, und das Papiermachen hätten schon die Urgroßeltern und deren Urgroßeltern praktiziert. Das Papier nämlich brauche man für magische Scherenschnitte, ohne die die zahlreichen Jahreskreis-Zeremonien nicht denkbar wären.
Also jene Otomí, auf die die noblen Azteken als primitive Wilde herabgeschaut hatten, sind die Einzigen, die die Hochkulturtradition der Papierherstellung erhalten haben. Wenn auch nicht, um darauf zu schreiben. Wie kommt denn dann das Papier zu den Nahuas in Guerrero? „Gringos“, wird der Mann aus San Pablito sagen, „irgendwelche verrückten gringos haben sie auf die Idee gebracht, unser Papier zu bemalen. Aber wir haben ja auch was davon.“ Er stapft zur nächsten Pforte weiter und setzt einen Stapel Papierbögen ab, die für gutes Geld den Besitzer wechseln. Die Maler stöhnen über steigende Preise, aber der natürliche Nachwuchs setzt der grenzenlosen Produktionssteigerung Grenzen.
„Mein Vater Pablo und mein Onkel Pedro waren zusammen mit Cristino Flores die Ersten, die auf amate gemalt haben“, erinnert sich der Künstler Nicolás de Jesús aus Ameyaltepec, dessen Druckgrafiken auf amate-Papier zurzeit in Paris in zwei Ausstellungen zu sehen sind. „Felipe Ehrenberg sah 1961 ihre bemalten Keramiken und schlug ihnen vor, doch andere Medien für ihre beeindruckenden Designs auszuprobieren.“
Zu jener Zeit hatten junge Männer aus den Dörfern begonnen, in die großen Städte zu gehen, um die Keramiken — Krüge, Schüsseln und Tonfiguren — aus ihrer Region an Touristen zu verkaufen. Archäologisch nachweisbar, reicht diese Keramikproduktion mit unverkennbaren Stilmerkmalen in eine Zeit lange vor der spanischen Eroberung zurück. Der deutsch-jüdische Maler Ehrenberg arbeitete im Kunstgewerbeladen seines Freundes Max Kerlow, der die jungen Nahuas einlud, Holzfiguren zu bemalen, später Leder, bis er schließlich amate-Papier anbrachte, was die Künstler sofort mit großer Begeisterung annahmen. Statt nur einfach die Blumen- und Vogeldekors der Keramik aufs Papier zu übertragen, begannen sie, das Medium zu erkunden: Häufig wurde eine Grundlinie eingefügt, immer prächtiger dekorierte Rahmen umgaben die Darstellungen und — in der Keramiktradition vollkommen undenkbar — erstmals tauchten menschliche Gesichter in den Malereien auf. Sehr schnell entwickelte sich daraus eine eigene Gattung, die so genannten historias (Geschichten), nämlich Szenen des ländlichen Lebens in den Gemeinden am Río Balsas in Guerrero. Bereits 1963 zeigte eine Galerie in Mexiko-Stadt die Arbeiten von fünf amate-Malern. Viele Männer, die zuvor die von den Frauen geformten Keramiken bemalt hatten, wichen nun auf das neue Medium aus, das sich auch viel besser zum Verkauf eignete: Es war leichter und ging nicht so schnell kaputt. Kunsthändler und -sammler aus den Städten und den USA gewannen bald Interesse an dieser neuen Volkskunst. Gleichzeitig setzten sie die Maler, von denen sie kauften, auch anderen Einflüssen aus, sodass eine kleine Gruppe von Künstlern sehr individuelle Stile zu entwickeln begann, während eine immer mehr auf Quantität bedachte amate-Produktion sich in den Dörfern breit machte.
Hatte amate die Chance bedeutet, neue Ausdrucksformen zu entwickeln, so hieß dies auch, dass nun diese auf die Keramik rückübertragen wurden. Man bemalte sie nun oft nicht mehr in den traditionellen Mineralienfarben, sondern grell und bunt wie die amates. Die alten Blumen-Vogel-Motive behielt man unter dem Namen pajaritos (Vögelchen) bei, während daneben nun auch historias auf Krügen und Schalen zu finden waren. Da ein kapriziöser Markt wie der des Souvenirhandels nach immer Neuem verlangt und sich gleichzeitig der Konkurrenzdruck zwischen den Produzenten/Händlern erhöht, sucht sich die Volkskunst des Río-Balsas-Tales weitere Medien. Inzwischen wird alles bemalt, was den Nahuas verkäuflich erscheint: geschnitzte Holzfische, Aschenbecher, Kaffeetassen und alle Arten von Tonfiguren aus industrieller Produktion. Trittbrettfahrer aus der Stadt verdienen sich eine goldene Nase, indem sie besonders gelungene amates als Postkarten herausbringen oder auf T-Shirts drucken. Andere stellen Siebdrucke originaler Strichzeichnungen auf amate her, die sie dann in den Dörfern an Familien verkaufen, deren Kinder für ein Almosen diese Umrisse kolorieren, sodass sie wie handgemalt aussehen. Da die karge Erde Guerreros schon lange nicht mehr alle ihre Bewohner ernähren kann, sind viele gezwungen, ihr Auskommen im Kunstgewerbe zu suchen. In allen Touristenhochburgen haben die Nahuas nun ihre Stützpunkte aufgebaut, ihr Handelsnetz überzieht das ganze Land und reicht bis in die USA.
Ihre nichtindianischen Landsleute lieben die amates ebenso wie die Touristen, und als das korrupte Präsidialregime unter Salinas de Gotari 1990 die Nahuas des oberen Balsas-Tales zwangsumsiedeln wollte, um das Tal unter den Fluten eines riesigen Staudammes verschwinden zu lassen, konnten diese auf die Unterstützung der Mexikaner zählen, die ihre amateros nicht einem Ethnozid zum Opfer fallen sehen wollten. Die Volksbewegung des Consejo de los Pueblos Nahuas del Alto Balsas (CPNAB) erreichte 1993 mit entschlossenem Widerstand die Aufgabe der Baupläne der Regierung. Ein kleiner Vorgeschmack auf das, was Mexiko mit dem indianischen Aufstand der EZLN in Chiapas 1994 erst noch bevorstand und dem Land einen in sieben Jahrzehnten beispiellosen politischen Wandel bescherte.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008