Von Ute Weber
Das Verstehen von Menschen unterschiedlicher kultureller Prägungen ist generell eine menschliche Fähigkeit, es ist aber auch Teil der Wissenschaft Ethnologie. EthnologInnen im Feld sind bestrebt, Aussagen und Handlungen nachzuvollziehen und zu begreifen. Anschließend am Schreibtisch werden die gewonnenen Erkenntnisse dann wissenschaftlich bearbeitet, und die empirischen Daten können dazu beitragen, ethnologische Theorien weiterzuentwickeln. Im Tourismus wird zwar selten nach ethnologischem Wissen oder Kulturtheorien im Zusammenhang mit Urlaubsländern gesucht, aber auch hier ist es notwendig, Aussagen und Handlungen von Menschen am Urlaubsort zu interpretieren, um entsprechend darauf reagieren zu können. Trotz aller Globalisierungstendenzen sind die Menschen in ihrem kulturell geprägten Denken und Handeln verschieden, bedienen sich jeweils eigener Symbole und Rituale und haben unterschiedliche Wertvorstellungen. Zu den kulturellen Eigenheiten der Interaktionspartner kommen im Tourismus noch die besonderen Anforderungen des Dienstleitungsgewerbes hinzu. Einheimische Dienstleistende müssen die Fähigkeit entwickeln, die ausländische Kundschaft zu verstehen und entsprechend zu (be)handeln. Wie entwickeln einheimische Angestellte im Dienstleitungssektor „Tourismus“ dieses spezielle Wissen und die Fähigkeiten im Umgang mit Kulturfremden? Immerhin sind dies Fähigkeiten, welche Manager großer Firmen in speziellen Seminaren zu interkultureller Kommunikation erlernen.
Während meiner Feldforschung im Jahr 2004 in dem südvietnamesischen Badeort Nha Trang lernte ich drei junge einheimische Männer kennen, die bereits seit mehreren Jahren im Tourismus tätig waren und sich stetig hochgearbeitet hatten. Diese drei Männer, zu denen ich sowohl freundschaftliche als auch forschungsbezogene Kontakte unterhielt, erzählten mir nach und nach in Gesprächen und Interviews aus ihrem Leben. Auf eine dieser Biografien, die Einblicke in die Entwicklung von Fähigkeiten in der interkulturellen Kommunikation gibt, möchte ich in diesem Artikel näher eingehen. Entgegen vielen Stimmen, die sich aufgrund der oft negativen Auswirkungen kritisch gegen den Tourismus erheben, zeigt die folgende Biografie eines jungen Mannes namens Minh die gelungene persönliche und wirtschaftliche Integration im Bereich Tourismus.
Die Bekanntschaft von Minh und seinen Freunden machte ich über meine Mitarbeit in einer Tauchschule. Während einer zweistündigen, ereignislosen Arbeitsschicht in den Verkaufsräumen der Tauchschule erzählte mir der heute 25-jährige Minh von seiner Kindheit in einem abgelegenen Dorf Zentralvietnams. Dort wuchs er bis zum Alter von zwölf Jahren als ältester Sohn eines Reisbauern auf. Die Lebensumstände in dem Dorf, welches über eine achtstündige Fluss-Bootsfahrt mit der nächsten Stadt verbunden war, bedeuteten vor allem Armut und körperlich anstrengende Arbeit auf den Feldern. Minh erinnerte sich aber auch gerne an diese Zeit, beispielsweise an Ausflüge mit seinem Vater in die nahen Wälder. Als die Familie nach Nha Trang, die Heimatstadt des Vaters, umsiedelte, bedeutete das für Minh auch das Ende seiner Schulzeit. Er hatte die Grundschule nur für wenige Jahre besucht und arbeitete fortan als ungelernter Arbeiter in verschiedenen Handwerksberufen. Minhs Vater und dessen drei Brüder verdienten ihren Lebensunterhalt als Rikscha-Fahrer, worin Minh aber keine Perspektive für sich sah. Als ein Onkel von ihm anfing, Liegestühle am Strand zu vermieten, stellte er Minh als Hilfskraft an, wodurch dieser zum ersten Mal – Mitte der Neunzigerjahre – Kontakt mit Ausländern bekam. Zu dieser Zeit bereiteten Ausländer Minh noch Angst, da er kaum Englisch sprach und fürchtete, ihnen durch Fehler in seinen Umgangsformen zu nahe zu treten.
Durch die Arbeit mit Touristen, vor allem Rucksackreisenden, erwarb Minh zwangsläufig Englischkenntnisse, hatte jedoch – seiner Aussage nach – nur ein rein wirtschaftliches Interesse an den Gesprächen. Aber dann lernte er am Strand seine nordamerikanische Freundin Susan kennen, mit der er zum Zeitpunkt meiner Forschung seit drei Jahren zusammenlebte. Von ihr lernte er nicht nur mehr Englisch, sondern Susan, die für eine der Tauchschulen Nha Trangs arbeitete, verhalf Minh auch zu einem Job. Dieser Job beinhaltete auch die Ausbildung zum Tauchgangsleiter. Zu Beginn seiner Ausbildung fürchtete Minh sich vor dem Gerätetauchen, sah aber in dem Tauchschein eine Zukunftsmöglichkeit für sich. Er überwandt seine Ängste und erlangte den Tauchschein und arbeitete danach eineinhalb Jahre für den französischen Besitzer der Tauchschule. Aber dann wechselte er aufgrund persönlicher Differenzen mit seinem Chef zur Konkurrenz und arbeitet dort seitdem als Tauchgangsbegleiter. Minh erzählte mir, dass er in den letzten Jahren sehr viel von den Europäern, mit denen er zu tun hatte, gelernt habe, sowohl was Sprachkenntnisse anbelange als auch über Business, Kommunikationsformen und – wie er sagte – „über die Welt“.
Minh scheint nach wie vor nicht sonderlich interessiert an Touristen zu sein. Meist begnügt er sich mit Smalltalk, wenn sie auf ihn zukommen. Seine Freizeit verbringt er zwar hauptsächlich in den Bars des Touristenviertels, bleibt aber dort im Kreis seiner Freunde. Auf meine Frage hin, weshalb er sich nach Feierabend im Touristenviertel aufhalte, erklärte mir Minh, dass die Bars ihm gefielen, da im Unterschied zu den vietnamesischen Kneipen der Stadt die Musik leiser und besser wäre, keine Schlägereien stattfinden würden und seine Freunde und Kollegen sich dort aufhielten. Im Übrigen wäre ja nichts dabei, schließlich esse er auch ausländische Gerichte. An seinen wenigen freien Tagen besucht Minh regelmäßig seine Familie, die er als Ältester von zwölf Geschwistern finanziell unterstützt und zu der er ein gutes Verhältnis hat.
Unter den vietnamesischen Tauchgangsbegleitern Nha Trangs ist Minh einer der besten, da er sehr gute Tauchfertigkeiten entwickelt hat, die Unterwasserwelt gut kennt und auf die Bedürfnisse der Touristen einzugehen weiß. Jedoch fühlt er sich in dem Job nicht mehr wohl und betrachtet ihn lediglich als notwendige Einnahmequelle. Die Gründe hierfür sieht er in der Leitung der Tauchschule und in den sozialen Strukturen unter den Kollegen. Es hätten sich verschiedene Grüppchen gebildet, die ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen versuchten. Die Leitung teilen sich mehrere Engländern und eine Japanerin, die in ihrer Personalpolitik die Vietnamesen bezüglich der Arbeitsleistung und -menge im Vergleich mit den Tauchlehrern und Tauchgangsbegleitern, die während der Saison aushelfen, benachteiligen und sie häufig mehrere Wochen am Stück ohne freien Tag arbeiten lassen.
Im Interview sprach Minh von seiner Zukunft, in der er bald kündigen und selbst Bootstouren anbieten möchte. Er hat mit zwei Freunden, die bei derselben Tauchschule angestellt sind, diesen Plan gefasst und auch konkrete Ideen zu seiner Umsetzung entwickelt. Bootsausflüge für ausländische Touristen werden bereits von mehreren Anbietern betrieben, beinhalten aber entweder Tauchen und Schnorcheln oder hohen Alkoholkonsum und laute Musik. Die Idee Minhs und seiner Freunde besteht nun darin, gemütliche Ausflüge auf einem speziell gestalteten Boot tagsüber und abends durchzuführen. Da Nha Trang bekannt ist für seine vorgelagerte malerische Hon-Mun-Insellandschaft, ist die Besichtigung mit Ausflugsbooten nahe liegend. Bei diesen Ausflügen sollen Tauchen und hoher Alkoholkonsum keine Rolle spielen.
Der Plan, alternative Bootstouren anzubieten, ist nicht nur ein Schritt in die Selbstständigkeit, sondern kann als Reaktion auf die Bedürfnisse der Touristen in Nha Trang angesehen werden. Während viele Touristen Gefallen an den „Sauf-Bootstouren“ finden beziehungsweise Tauchen gehen, bleibt eine Gruppe von Besuchern übrig, die sich für keine der Alternativen interessiert. Das Wahrnehmen dieser Gruppe zeigt bereits, wie meine Informanten die Bedürfnisse von Touristen erfassen, deuten und sich ihrer schließlich auf einer ökonomischen Ebene bedienen.
Um Bedürfnisse der Touristen erkennen zu können, ist es nicht nur notwendig, ihre Sprache zu sprechen, sondern die kulturellen Symbole und Denkweisen der Sprecher richtig deuten zu können. Durch die intensive Zusammenarbeit mit AusländerInnen wurden meine Informanten zu Kulturvermittlern. Sie sind in der Lage, mit Menschen verschiedener Herkunft auf eine Art und Weise zu kommunizieren, die relativ frei von Missverständnissen ist. Die beiden Realitäten der vietnamesischen und der touristischen Gesellschaft vor Ort zu verstehen und zu leben, bringt nicht nur einen ökonomischen Vorteil mit sich, sondern kann – idealistisch ausgedrückt – tatsächlich ein bisschen mehr Verständnis und Toleranz seitens der Touristen für ihr Reiseland wecken.
Ute Weber ist Studentin am Institut für Ethnologie der FU Berlin. Dreimonatige Feldforschung im Rahmen des Hauptstudiums im Sommer 2004 zum Thema Tourismus in Vietnam. Mitglied des Gemeinsamen Arbeitskreises Tourismus und Ethnologie - GATE e. V.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008