ZWISCHEN DEN FRONTEN

Dokumentarfilm zwischen Film-Kunst, Ethnologie und Alltagswirklichkeit

Von Sacha Knoche

Kunst und Alltag

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Kamerakinder: Aneignung der Technik und mit der Kamera anders sehen lernen. Foto: S. Knoche

Wer die Ausstellung „Spinnwebzeit. Die Ebay-Vernetzung“ im Museum für Moderne Kunst (MMK) in Frankfurt am Main bis zum 29. Januar 2006 besucht, wird Kunstwerke der Museumssammlung neben versteigerten Alltagsgegenständen des Internet-Auktionshauses Ebay vorfinden. So mancher Gegenstand überlässt es dem Besucher, ihn als Kunst-Werk oder einfach als ein „Stück Alltag“ einzuordnen. Möglich bleibt auch die Deutung, dieses Exemplar als ein Kunst-Stück der Alltagswirklichkeit zu betrachten, also ein Gegenstand, der als Kunst und dokumentierte Alltagspraxis zugleich erscheint.

Um ein solches Sowohl-als-auch geht es mir bei der filmischen Darstellung und der filmenden Praxis innerhalb der Ethnologie, der Anthropologie und der Kulturwissenschaften: um das Aufheben der Grenze von Kunst-Werk und Film-Dokument einer Alltagswirklichkeit. Vergeblich sind die Bemühungen, die eine klare Trennung von Kunst und Nicht-Kunst, von fiktionalem und dokumentarischem Film treffen wollen. Wünschenswert wäre nicht nur eine Einsicht in die Tatsache, dass jeder dokumentarische Film auch ein fiktionaler, ein gestalteter und gemachter Film ist, sondern auch die Erkenntnis, dass die Lebenswelt selbst gestaltet ist und ein Kunstwerk sein kann. Das würde sich bereichernd auf die filmende Ethnologie und die Ethnologie im Film auswirken.

Michel Foucault fragte vor über zwanzig Jahren, ob nicht das „Leben eines jeden ein Kunstwerk werden“ könne. Marcel Duchamp bewies die Museumstauglichkeit seiner Ready-Mades und die Filmavantgarde der 1920er Jahre zeigte virtuos politische, soziologische und ethnologische Themen und Problemstellungen auf, ohne die Frage nach dokumentarisch oder fiktional zu vertiefen. Warum auch? Um den scheinbaren Graben zwischen fiktionalem und nicht-fiktionalem Film zu überwinden, lohnt der Blick zurück zu den Anfängen des Films, als es nur die Kinematografie gab.

Die Filmkunst ist eine unerschöpfliche Quelle, die filmische Technik, audiovisuelle Expression und Kino, mitsamt seinen Vorläufern, Weiterentwicklungen und Verkümmerungen beinhaltet. Kinematografie bezeichnet ein gestaltbares und gestaltendes Verfahren zur Aufnahme und Wiedergabe von gefundenen / hergestellten / imaginierten Wirklichkeitsausschnitten in bewegten Bildern und bewegenden Tönen. Sie ist eine Geschichtenerzählmaschinerie, und sie stellt einen beachtlichen Anteil medienkultureller Entwicklungsprozesse. Eine kinematografische Anthropologie hält eine Reihe von audio-visuellen, narrativen und technischen Entwurfs-, Beschreibungs- und Bebilderungsvorgängen bereit. Nach meinem Verständnis umfasst der Begriff der Kinematografie alle den Film und das Filmische betreffende Fragen und Konzepte sowie die dazugehörigen medialen Komponenten und er verweist auf die Gestaltung der Lebenswelt selbst.

Filmische Fiktion und reales Geschehen

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Tonmeister Alastair Owen bei der Arbeit. Foto: J. Wehrmann

Dokumentarfilmpraxis ist von inszenatorischen Momenten gekennzeichnet und in allen Produktionsphasen treffen die Gestaltungsabsichten auf die Möglichkeiten und den Bedarf der Gestaltung von Alltags- und Filmwirklichkeit. Die Inszenierungspraxis und das Gestaltungstableau werden von zwei Techniken oder auch Haltungen dokumentarfilmischen Arbeitens getragen: die gezielt entwerfende, gestaltende und die ungerichtete, gelassene Position. Es sind durchaus Fragen nach dem Design, die an den Dokumentarfilm herangetragen werden. Konzeptionen, die Forschungsdesign und wissenschaftliches Erkenntnisinteresse beinhalten sowie filmästhetische Entwürfe, die stilistische Mittel und filmische Oberflächenbeschaffenheit fokussieren. Bei dieser wissenschaftlichen und filmästhetischen Gestaltung wird man auf reichlich Konfliktpotenzial stoßen.

Meine Dokumentarfilmpraxis ist durch die Zusammenarbeit mit dem Filmemacher und Absolventen der Deutschen Film- und Fernsehakademie (DFFB), Jakob Wehrmann, geprägt. Diese Kooperation hat sich als sehr fruchtbar und konstruktiv erwiesen. Die Methoden der Annäherung an die Alltagswirklichkeit und die Umsetzung der Filmwirklichkeit unterscheiden sich oft, sie sind aber nicht nur auf die unterschiedliche Ausbildung, sondern auch auf die jeweilige Persönlichkeit zurückzuführen. Der Titel des 2003 entstandenen Dokumentarfilms von Sacha Knoche und Jakob Wehrmann „Zwischen den Fronten“ mag charakteristisch sein für dokumentarfilmisches Schaffen zwischen Kinematografie und Anthropologie.

Bereits in den Filmkonzepten zeigt sich das mächtige Fiktionalisierungspotenzial des Filmemachers. In den ersten Treatments für den Dokumentarfilm „Zwischen den Fronten“ finden sich erdachte Personen mit ausgedachten Dialogen. Die Idee ist, sich bereits im Vorfeld so weit wie vorstellbar in mögliche Situationen und Personen hineinzubegeben. Für die meisten Ethnologen dürfte diese Fiktionalisierungstechnik undenkbar, für einen Dokumentarfilm kann diese Technik ein wichtiger Teil des Entstehungsprozesses sein. Hat man sich dem Wirklichkeitsraum des Alltags der Protagonisten und des Ortes soweit angenähert, wird den realen Figuren schließlich viel Raum zur Selbstdarstellung während der Dreharbeiten angeboten oder Szenen werden zusammen erarbeitet. Immer wieder zeigen sich die unterschiedlichen Haltungen des Anthropologen und des Filmemachers, offenbaren sich die diversen Gestaltungsstrategien von Filmkunst und Wissenschaft.

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Traktor fahren. Aus dem Film "Zwischen den Fronten": Lehrer Savogal, Ruth Gomez und John Wiliam. Foto: J. Wehrmann

Wir befinden uns in Pueblo Sanchez, jener kleinen Siedlung in Kolumbien, in der „Zwischen den Fronten“ entstand. An einem der letzten Drehtage fehlte eine Einstellung, in der die beiden Protagonisten, der 15-jährige John Wiliam Beltram und die 7-jährige Ruth Gomez die Haupt- und Durchgangsstrasse betreten. Wir baten einen Campesino, der zufällig in der Dorfkneipe saß, mit seinem Pferd von links die Strasse herunter zu reiten. John Wiliam sollte mit Ruth aus der Einfahrt ihrer Schule kommen und von rechts wollten wir auf ein Fahrzeug warten. Die Kamera war positioniert und per Funkmikrofon verständigten sich Kameramann Wehrmann und Tonmeister Alastair Owen, während ich dem Reiter ein Zeichen zum Losreiten gab. Man kann sich leicht vorstellen, dass Vorbereitung und Choreografie dieser nicht einmal 1-minütigen Szene mehrere Stunden dauerte. Der Filmemacher entwirft und gestaltet hier filmisch, der Anthropologe hätte vermutlich gelassen einen halben Tag damit verbracht, den Vorgang geschehen-zu-lassen – bis sich die Wege der Teilnehmer kreuzen oder er hätte auf die Wirksamkeit einer Einstellung verzichtet. Wenn John Wiliam und Ruth gebeten werden, uns ihre Umgebung zu zeigen und uns über das Schul- und Internatsgelände und durch die schuleigenen Pflanzungen zu führen, liegt die Gestaltungsführung klar bei den Protagonisten. Dann liegt es am Filmteam den Kindern mit der Kameratechnik folgen zu können, auch dorthin, wo wir auf Grund der Körpergröße nicht so leicht hingelangen. Dokumentarfilmarbeit ist auch ein sportliches Ereignis, das Kondition und Beweglichkeit erfordert. Doch es sind die Methoden und Techniken der ethnologischen Feldforschung, die hier Eingang in die Dokumentarfilmpraxis von Film- und Kunsthochschulen finden. Dazu zählen die teilnehmende Beobachtung, aber auch Mental Maps und bestimmte Formen der Interviewführung, die von Filmemachern dankbar aufgegriffen werden.

Um Gestaltungsfragen kommen auch filmende Ethnologen nicht umhin. Dazu zählt die Akzeptierung oder Ablehnung von bestimmten Stilen und gewissen Formen der Visualisierung: Welche Film-Bilder lasse ich von der Konzept- bis zu Schnittphase überhaupt zu? Die Veränderbarkeit der Lebenswelt birgt kreative Möglichkeiten und zugleich die Gefahr Bedeutungszusammenhänge zu zersetzen, oder sogar zu zerstören und entgegen ihren ursprünglichen Intensionen in ein befremdendes, verfälschendes Gefüge zu setzen. Die Übersetzungsleistungen von Alltagswirklichkeit zu Filmwirklichkeit sind transparent zu gestalten. Lasse ich in der Drehphase das Leben in der Alltagswirklichkeit mit Zurückhaltung geschehen oder schreite ich ein und übernehme eine führende Gestaltung? Und, in welchem Maße geschieht dies? Die Sichtbarkeit der Veränderungen muss weit gehend gewährleistet bleiben.

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Strasse in Pueblo. Die Straßenszene wird gestaltet: Jakob Wehrmann an der Kamera. Foto: S. Knoche

Die Interaktion der Teilnehmer im Filmprozess ist von emotionalen Strömungen durchsetzt. In der Fülle der Aktionen und Ereignisse sind sie selten überschaubar und kaum beobachtbar, besonders bei Produktionen, die einer zeitlichen Begrenztheit ausgesetzt sind. Machtfragen und – teilweise unbewusste – Ängste, Wünsche, Hoffnungen und Vorstellungen treffen aufeinander. Wie kann der Filmemacher zu einer Reflektionsebene kommen, die ihn selbst mit einschließt? Wie lautet der Dialogmodus von filmendem und gefilmtem Akteur? Gerade Film ist immer ein Ergebnis von Teamarbeit. Erfolg oder Misserfolg sind abhängig von den Beziehungen innerhalb des Teams und zwischen Team und Protagonisten. Wenn ökonomische und kommerzielle Faktoren bei einer Filmproduktion hinzukommen, verschärfen sich die Bedingungen. Bis zu welchem Grad erlauben Filmemacher den Protagonisten, aber auch den Institutionen, Sendern und Geldgebern, den Film zu formen und möglicherweise entgegen den eigenen Entwürfen zu verändern?

Ein Filmprozess ist dynamischen Veränderungen unterworfen und gerade Dokumentarfilme sind unerwarteten und unberechenbaren Einflüssen ausgesetzt. Einer der beiden Hauptprotagonisten unseres neuen Filmprojektes in Kolumbien, Euser Rondón, wurde im Herbst letzten Jahres erschossen. Neben der Bestürzung über seinen plötzlichen Tod und die Tragik, die hinter seinem Verlust steckt, mussten wir die Erfahrung machen, dass die Haltbarkeit von Dokumentarfilmkonzepten sehr gering ist. Entwürfe haben nur solange Bestand bis sie von der Alltagswirklichkeit eingeholt und überarbeitet werden. Dann wird die Gestaltung von anderen übernommen. Die Befähigung zur Gestaltung und Darstellung von Alltagswirklichkeit weicht der Fähigkeit den Zufall oder das Schicksal als gegeben anzunehmen – gelassen hinzunehmen, und zugleich wieder die Initiative zu ergreifen, entwerfend und gestaltend tätig zu werden. Alltagswirklichkeit und Filmwirklichkeit bedingen sich, fließen ineinander und beeinflussen sich gegenseitig. Diese Beeinflussung kann sich spontan und kurzfristig, aber auch nachhaltig auf die Teilnehmer eines Filmprojektes auswirken. Filme schaffen und verändern Weltbilder. Das gelingt ihnen in jedem Moment, in dem sie entworfen, gemacht und rezipiert werden.

Autorenschaft am Film-Werk

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Kinder beim Mittagessen schauen in die Kamera. Foto: S. Knoche

In diesem kreativen Spannungsfeld geht es auch um den eigenen Entwurf und Erhalt: der filmische Entwurf ist immer auch ein Selbstentwurf. Das filmische Essay kann zur Identitätsschaffung beitragen und der Identitätssicherung, dem Selbsterhalt dienen. Die filmischen Grafien werden Teil von Biografien aller Beteiligten. Die Autorenschaft am Film-Werk ist geteilt. Sie entwickelt sich zwischen Filmemacher, Protagonist und Rezipient. Gerade beim ethnologisch-dokumentarischen Film entstehen während einer langen Beobachtungs- und Drehzeit zwischen dem Filmteam und den Protagonisten vertraute Beziehungen mit Rückwirkungen in die eigene Lebenswelt. Konfrontationen und Konflikte sind dabei nicht auszuschließen. Dokumentarfilme sind zeit- und aufmerksamkeitsintensive Zusammenkünfte von Menschen, die viel von ihren Teilnehmern fordern, viel von ihnen selbst, ihrer Persönlichkeit und ihrer Individualität.

Ethnografisch-dokumentarische Filme sind geprägt von einem Wechselspiel der Selbst- und Fremdbeschreibungen. Entscheidend ist, dass dies auch reflektiert wird. Die Reflexivität ist ein wichtiges Thema im Bereich des Dokumentarfilms, wird aber nur selten professionell bearbeitet. Jay Ruby hat sich zu Reflexivität und Film wiederholt geäußert. Für ihn bedeutet reflexiv sein: „... dass Anthropologen ihre Methoden und sich selbst als Instrumente der Datenerhebung systematisch und rigoros offen legen und dass sie bedenken, wie das Medium, durch das sie ihr Werk vermitteln, Leser bzw. Zuschauer prädisponiert, die Bedeutung des Werkes in bestimmter Weise zu konstruieren.“

Und so schauen wir uns Filme an, prädisponiert durch den Filmemacher, verführt, befähigt und beeinflusst durch eine Reihe von Faktoren und Voraussetzungen, aber letztlich mit der Deutungsmacht ausgestattet, den Film zwischen Kunst-Werk und Dokument einer präsentierten Lebenswelt und Alltagswirklichkeit nach unserem Verständnis und in unserem Sinn entstehen zu lassen. Das Fiktionalisierungspotenzial der Rezipienten unternimmt den letzten Gestaltungsakt eines Filmdokuments.

Weiterführende Literatur

Ballhaus, Edmund und Beate Engelbrecht (Hrsg.) (1995): Der ethnographische Film: eine Einführung in Methoden und Praxis. Berlin
Diederichs, Helmut H. (Hrsg.) (2004): Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Méliès bis Arnheim. Frankfurt/M
Heintz, Bettina und Jörg Huber (Hrsg.) (2001): Mit dem Auge denken – Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten. Zürich
Hockings, Paul (Hrsg.)(2003/1974): Principles of Visual Anthropology. Berlin
Hohenberger, Eva (1988): Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm. Ethnographischer Film. Jean Rouch. Hildesheim
Kiener, Wilma (1999): Die Kunst des Erzählens: Narrativität in dokumentarischen und ethnographischen Filmen. Konstanz
Monaco, James (2000/1977: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der neuen Medien. Hamburg
Pauleit, Winfried (2004): Filmstandbilder. Passagen zwischen Kunst und Kino. Frankfurt/M
Ruby, Jay (2000): Picturing Culture. Explorations of Film and Anthropology. Chicago
Schmid, Wilhelm (1998): Philosophie der Lebenskunst – Eine Grundlegung. Frankfurt/M
Zielinski, Siegfried (1989): Audiovisionen. Kino und Fernsehen als Zwischenspiele in der Geschichte. Hamburg

Zum Autor

Sacha Knoche, MA, Studium der Kultur- und Sozialanthropologie, Europäischen und Historischen Ethnologie und Psychoanalyse in Frankfurt am Main und in Barcelona. Derzeit Arbeit an einer Dissertation zur „Kinematografischen Anthropologie“. Verschiedene Dokumentarfilmprojekte seit 1999.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008