TRANSKULTURELLE BILDER

Von der Kolonialfotografie zu "dritten Bildern"

Von Frank Heidemann

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Bei den Batak, Nord-Sumatra, um 1904. (Ausschnitt) Foto: nicht dokumentiert. Sammlung Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main

Das Wissen über Menschen anderer Kulturen wird zunehmend medial vermittelt. Fotografische Abbildungen oder Filme dienen oft als Substitut für direkte, unmittelbare Kontakte. Bilder kursieren in steigender Quantität und wachsender Geschwindigkeit und erzeugen schnell und nachhaltig Botschaften über andere. Dabei treten sie oft gemeinsam mit Texten auf, wobei das eine Medium meist das andere illustriert. Texte und visuelle Medien vermitteln, sie übersetzen. Doch Bilder unterscheiden sich von den Wortdokumenten, weil sie nicht nach lexikalischen, sondern nach indexikalischen Prinzipien funktionieren. Das Abendland kennt eine lange Tradition von Textauslegungen, wir wissen, dass sich die Botschaft des einzelnen Wortes erst im Zusammenhang mit dem Satz und dieser erst im Gesamtzusammenhang entfaltet. Nicht nur Philosophen und Literaturwissenschaftler, sondern auch Theologen und Richter sind mit einer höchst differenzierten Textauslegung befasst, deren Komplexität die Möglichkeit einer adäquaten, transkulturellen Übersetzung oft infrage stellt. Verglichen mit den Texten, befinden sich Bilder scheinbar im Zustand anhaltender methodischer Unschuld. Wir kennen die Tücken der Texte und die Bedeutung der Bilder, doch der Umgang mit visuellen Medien kann in einer selbstreflexiven Welt bestenfalls als naiv bezeichnet werden.

Dieses Defizit zeigt in Verbindung mit der wachsenden Bedeutung von Bildern, ihrer schnellen Verbreitung und vielseitigen Verwendung und der mangelnden Reflexion über dieses Medium, ein grandioses Missverhältnis an, das sich paradoxerweise selbst hervorbringt. Denn wenn wir mehr über Bilder wissen würden, würden sie uns weniger authentisch erscheinen. Ich glaube jedoch nicht, dass eine größere Bildmedienkompetenz die Mächtigkeit ihres Forschungsgegenstandes zerstören würde. Das Bild würde entlarvt, entzaubert und dekonstruiert und würde so den Ort freimachen, an dem eine neue schillernde Bildwissenschaft und Bildkunst entstehen könnten. Bisher scheint die Beschäftigung mit dem Bildmedium jedoch den Schwerpunkt auf künstlerischen oder ikonographischen Bereichen zu legen.

Zu den Ethnologen, die sich weit gefasst mit Fotografie und Film beschäftigt haben, zählt Christopher Pinney. In seinem 1997 erschienenen Werk "Camera Indica", einer Analyse indischer Fotografie, beschreibt er eine Erfahrung, die Ethnologen in anderen Kontinenten gleichermaßen gemacht haben. Nach einer Feldforschung schickte er Fotografien nach Indien, doch diese riefen bei den Dargestellten nicht die erwartete Reaktion hervor. Sie beschwerten sich über den Bildausschnitt, der nur den halben Körper erfasste, und über Schatten, der Gesichter zu dunkel erscheinen ließ. Pinney traf eine sorgfältige Auswahl an Bildern, die typisch für Situationen oder für Individuen waren, doch die Adressaten bevorzugten offensichtlich situationsunabhängige Idealbilder, keine Schnappschüsse, sondern arrangierte, symmetrische Ganzkörperaufnahmen, wie er schreibt, "mit passiven, ausdruckslosen Gesichtszügen" (=passive, expressionless faces) (1997:9). Doch Pinney hatte die Vorstellungen, die seine Informanten mit der Fotografie verbinden, falsch eingeschätzt. Fotografien sind in Indien ontologisch anders eingebunden. Um zwei Enden eines Kontinuums zu benennen, könnte man die einen Bilder als Modelle von Etwas (Schnappschüsse) und die anderen als Modelle für etwas (Idealbilder) bezeichnen. Pinneys Anekdote verdeutlicht jedoch mehr als unterschiedliche Vorstellungen von Fotografie. Sie zeigt, wie Abbildungen als verweisende Artefakte im transkulturellen Prozess auf weitreichende Bezüge aufmerksam machen, denn der Umgang mit Bildern erhellt Zusammenhänge in den jeweiligen sozialen Bezügen und deren sinnstiftende Prozesse.

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Bei den Batak, Nord-Sumatra, um 1904. Foto: nicht dokumentiert. Sammlung Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main

Pinney hat sich zudem mit der Kolonialfotografie beschäftigt. Bekanntlich fiel die Geburtsstunde der Fotografie in die Zeit des Kolonialismus. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelang es, die bekannte Technik der Projektion von Lichtstrahlen auf eine Ebene mit deren Fixierung zu verbinden. Der Prozess der kolonialen Durchdringung der bis dahin kaum bekannten Welt erfolgte zeitgleich mit der Etablierung der fotografischen Praxis. Fotografie wurde Teil des Entdeckungsprozesses und verlieh der flüchtigen Begegnung mit den Fremden etwas Dauerhaftes oder Dingliches. Obwohl die Fotografie mit künstlerischer Intention und zum Zweck der Dokumentation verwendet wurde, setzte sich die Idee einer objektiven Repräsentation durch. Fotografien dienten als Beleg und Beweis für die authentische Begegnung der frühen Fotografen, Händler und Reisenden und wurden auch zu Forschungszwecken, u. a. für anthropometrische Messungen, verwendet. In der frühen Ethnologie verband sich ein Hang zum Sammeln von Artefakten mit dem Objektcharakter der Fotografien.

Die Kolonialfotografie hat sich als Genre erst postkolonial etabliert, und heute lesen wir viele der Bilder anders: Der Band zur Ausstellung „Der geraubte Schatten“ zeigt die Ohnmacht und zum Teil auch die Angst der Abgelichteten, auf deren Körper die schweren Kameras wie Gewehre gerichtet wurden. Wir interpretieren die Bilder weder aus der Sicht der Fotografen noch aus der der Abgebildeten, sondern aus einer dritten Perspektive. Eine solche Perspektive interpretiert die im Entstehungsprozess vermuteten Intentionen.

Wenn neben der Perspektive des Fotografen, des Abgebildeten und des intendierten Betrachters eine zusätzliche hinzukommt, dann möchte ich diese Fotografien „dritte Bilder“ nennen. Dies trifft aus heutiger Sicht für die kolonialen Bilder ebenso zu wie für die Folterbilder aus einem irakischen Gefängnis. Dritte Bilder entstehen (fototechnisch oder diskursiv) oft in dritten Räumen, jenen Orten, an denen mehrere Kulturen aufeinander treffen, ohne dass der Raum einer einzelnen Kultur zugerechnet werden kann. Dritte Bilder enthalten die zusätzliche Dimension eines externen Kommentars. Aus der Sicht der Fotografen kann diese Dimension als Bereicherung oder, wie im Fall von Abu Ghraib, durchaus als ungewollte Folge angesehen werden.

Als dritte Bilder würde ich auch die Aufnahmen bezeichnen, die David MacDougall in seinem Dokumentarfilm „Photowallahs“ zeigt. Einem westlichen Publikum wird im Film vorgeführt, wie indische Fotografen ihre Kunden für das gewünschte Bild zurechtrücken, in Pose setzen oder auch mit Kostümen ausstatten. Da sich jedoch die Fotografen selbst erklären, werden die semantischen Felder der Bilder verbalisiert, und der Zuschauer erfährt etwas über die Idee der Bilder. Fotografien sind hier stets normativ, sie zeigen eine ideale Sicht oder einen wünschenswerten Zustand. Bilder werden wie Soziogramme gelesen. Der soziale Umgang mit Fotografien kennt nicht die Privatsphäre, die wir den Bildern zuschreiben. Aufnahmen werden für eine Öffentlichkeit gemacht, und ein gutes Bild kann auch außerhalb seines Kontextes gelesen werden. Ein Besucher kann sich ohne Nachfrage Fotoalben ansehen, und viele Bilder kursieren auch außerhalb des familiären Kreises. So wie die indische Filmindustrie einen eigenen Umgang mit dem Medium Film entwickelt hat, so ist auch die Fotografie, die Zirkulation von Bildern und ihre Exegese, spezifisch für den Subkontinent. Ein gutes Bild legt nichts offen, es verrät nichts, sondern es erhöht den Dargestellten und rückt ihn in ein gutes Licht. So wird die Macht der Bilder gezügelt.

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Berhard Hagen während der ersten Expedition des Völkermuseums bei den Orang Kubu auf Sumatra. 1905. (Ausschnitt) Foto: nicht dokumentiert. Sammlung Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main

Den typischen eingefangenen Schnappschüssen, die die Informanten von Christopher Pinney nicht wertschätzten, stehen andere Bilder aus indischen Metropolen gegenüber, die wie ein Schnappschuss wirken, doch keiner sind. Die moderne Laienfotografie orientiert sich an einer dynamischen Bildgestaltung, zeigt Handlungskontexte oder vieldeutige Interaktionen, die kleine Geschichten erzählen. Solche Bilder werden auch mit digitaler Technik aufgenommen und finden Verbreitung als E-Mail-Attachment. Sie oszillieren zwischen den USA, England und Indien und bilden jene dritten Räume ab, von denen in den Literaturwissenschaften gesprochen wird. Nach meiner Einschätzung zeichneten sich in diesem Genre zwei Tendenzen ab: zunächst eine Annäherung an die Symbol- und Zeichensysteme des Westens und später ein eigener Stil, der auch in Kino-Filmen wie „Monsoon Wedding“ oder „Kick it like Beckham“ zum Tragen kommt. Bilddiskurse sind so mobil wie digitale Bilder selbst und erinnern daran, dass die dritten Räume, die sie füllen, keinesfalls territorial zu denken sind.

Durch die doppelte Qualität des Bildes – es ist anwesend und verweist auf etwas Abwesendes – erinnert es an unsere Konstruktion von Fremdheit. Das Fremde ist eine Idee von uns und in uns, die jedoch auf etwas Abwesendes verweist. Bilder von Fremden, so scheint es mir, verdoppeln diese Eigenschaft, da wir in den Bildern nicht nur einen indexikalischen Verweis sehen, sondern zugleich ein „drittes Bild“ schaffen, das dem Fremden und unserer Imagination gleichermaßen geschuldet ist.

Doch was sind Bilder? Jeder Versuch einer Definition mit Anspruch auf Vollständigkeit und Konsensfähigkeit innerhalb dieses Raumes wäre bereits im Vorfeld zum Scheitern verurteilt. Die Bilder, von denen ich spreche, existieren in nahezu zweidimensionaler Form und können auf einer Vielzahl von Techniken beruhen. Sie können gezeichnet, gemalt oder gedruckt sein, auf Fotografie oder Röntgentechnik beruhen, sie können als private Bilder in singulärer Form in Fotoalben existieren, hohe Auflagen in Tageszeitungen erfahren oder im Internet für jeden Nutzer abrufbar sein. Wichtig ist mir hier zunächst, dass diese Bilder mit einer Oberflächenähnlichkeit oder symbolisch auf etwas verweisen. Ein Bild verfügt – ähnlich wie ein Symbol – über die doppelte Qualität, dass es zunächst ein Ding ist und zugleich stets für etwas anderes steht. Ein rotes Quadrat, das in einem Bilderrahmen in einem Museum hängt, ist für mich erst dann ein Bild, wenn ich vermute, dass es eine Aussage vermittelt oder eine Bedeutung hat, auch wenn ich sie zunächst nicht verstehen kann. Erst im kulturellen Kontext werden Dinge zu Bildern.

Weiterführende Literatur

Clifford, James (1997): Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century. Cambridge, Ms.: Harvard University Press
Pinney, Christopher (1997): Camera Indica. The Social Life of Indian Photographs. Chicago: Chicago University Press
Theye, Thomas (1985)(Hrsg.): Wir und die Wilden. Hamburg: Rowohlt

Zum Autor

Frank Heidemann ist Professor für Ethnologie und lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit den Schwerpunkten "Visuelle Anthropologie" und "Politische Anthropologie". Langjährige Feldforschungen in Indien.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008