Von Urte Undine Frömming
Seit dem Jahr 2003 erleben wir in der deutschen Fernsehlandschaft neue, dokumentarisch ausgerichtete Mehrteiler, "Erlebnisdokumentation" oder "Reality-TV" genannt, wie zum Beispiel die Serie Sternflüstern: Das Sibirien-Abenteuer (ZDF 2004). Zwei deutsche Familien werden in der sibirischen Kälte am Baikalsee ausgesetzt. Jede Familie bekommt ein landestypisches Haus, eine Kuh, drei Hühner, ein Schaf sowie eine Axt. Sie müssen Feuerholz hacken und sich in ihrem sibirischen Dorf eine Arbeit suchen. In Traumfischer (ZDF 2005) leben zwei deutsche Familien für drei Monate, von der Kamera begleitet, in einem Dorf auf der Südseeinsel Tonga.
Oberstes Gebot bei diesen "Experimenten" ist es, so zu leben wie die Einheimischen. Zivilisationsgüter wie Handy, Laptop, Fernseher usw. sind verboten. Going native nennen das EthnologInnen: am Leben der anderen teilnehmen, schließlich so werden und leben wie die Anderen.
Bei beiden Serien geht es um die Fragen: Wie lebt es sich woanders? und Wie lebt es sich ohne unsere "modernen Errungenschaften"? Ethnographische Feldfilmexperimente sind offensichtlich in Mode gekommen. Allerdings werden dabei viele Regeln der Ethnologie und methodisches Handwerk der ethnographischen Filmpraxis ignoriert. Spätestens seit David und Judith MacDougall gelten zwei ethische Richtlinien im ethnographischen Film: einerseits durch Filminhalt und Filmstil das kulturelle Selbstverständnis der Gefilmten nicht zu verletzen und andererseits Gefilmte selbst sprechen zu lassen und einen Dialog zwischen Filmemachern, Gefilmten und Zuschauern herzustellen. Die visuelle Anthropologie stellt darüber hinaus die Forderung an FilmemacherInnen, sie sollen sich selbst in den Film einbringen und keine Pseudo-Objektivität vorgaukeln. Dazu gehört auch, dass, wie im Filmstil des Direct Cinéma, auf Interviews und Off-Kommentar verzichtet wird, denn die Bilder sollen für sich selbst sprechen. Bei Sternflüstern und Traumfischern haben wir es mit einer radikalen Verabschiedung des Direct Cinéma zu tun. Ähnlichkeiten ergeben sich vielmehr zu der Praxis des Cinéma Vérité (der Film "Chronique d’un été" von Jean Rouch und Edgar Morin gilt hier als Paradebeispiel). Im Cinéma Vérité agieren die FilmemacherInnen als Provokateure. Den Protagonisten werden Fragen gestellt und somit bewusst in das Geschehen eingegriffen. Dieses Verhalten der FilmemacherInnen finden wir in Sternflüstern und Traumfischer in den Interviewszenen mit den Protagonisten wieder; Interviews mit den Einheimischen sind allerdings Mangelware.
In der Serie Traumfischer ist man durchaus bemüht, Aspekte der Kultur der Bewohner Tongas einem Millionenpublikum in Deutschland zu vermitteln. Auf der ZDF-Homepage der Traumfischer gibt es allerlei kulturelle Hinweise über Tonga. Es werden sogar Mythen und Bräuche geschildert. Alles in allem aber werden unser hiesiger Südseemythos und Utopien einer tropischen Inselwelt genährt. Denn Anliegen war es ja nicht, einen ethnographischen Film über Tonga oder Sibirien zu produzieren, sondern die deutschen Familien beim Fangen ihrer Südsee- oder Sibirienträume zu begleiten. Dennoch, was ankommt, sind Botschaften über die Länder, von denen die Träume handeln, und diese werden gerne für bare Münze genommen. Einer ZDF-Medienumfrage zufolge bewertete ein Großteil der Zuschauer das Sibirien-Experiment Sternflüstern als gelungene "deutsch-russische Völkerverständigung". Auch Spendengelder sollen reichlich geflossen sein.
Aus ethnologischer Perspektive stören vor allem die klischeehaften und einseitig exotistischen Darstellungen der fremden Kulturen. Ein – notwendigerweise komplexes – Bild der gezeigten Gesellschaften wird nicht geliefert. Dass es auch wohlhabende Familien auf Tonga oder am Baikal gibt, wird ausgeklammert. Die deutschen Familien leben in Tonga ganz „primitiv“. Sie bekommen daher Läuse, haben mit Kakerlaken und Ratten und – durch das tropische Klima – schlimm entzündeten Moskito-Stichen zu kämpfen. Im Mittelpunkt der Dokumentation stehen die deutschen Familien und ihr subjektives Empfinden des fremden Klimas und der fremden Kultur.
Wladimir Kaminer (Autor der "Russendisko"), der vom ZDF als Beobachter engagiert wurde und selbst aus Sibirien stammt, beschreibt, wie seine Mutter die Sendung Sternflüstern im deutschen Fernsehen mitverfolgt, als sie gerade zu Besuch ist: "Was für ein Horror!" schüttelte sie den Kopf. "Furchtbar! Wieso lassen sich die Menschen nur auf so etwas ein!" In ihrem Dorf im Baikal sind die meisten Häuser immerhin aus Stein, die Bewohner haben sich Heizkessel installiert und eine Elektroleitung von der naheliegenden Eisenbahnlinie angezapft. "Natürlich werden sie überleben," meinte sie, "aber zu welchem Preis? Wenn die Kälte kommt, dann werden sie 24 Stunden heizen müssen und ständig Holz hacken, das brennt doch weg wie Papier! Und dazu sollen sie auch noch arbeiten gehen? Unmöglich!"
Den klassischen Dokumentarfilm und ethnographischen Film verbannten TV-Sender oftmals mit dem Argument vom Sendeplatz, das deutsche Fernsehpublikum verlange nach Anknüpfungspunkten zum eigenen Leben, nach Identifikation mit den Protagonisten des Films. Sprich: Es müssen schon Deutsche im Film vorkommen, wenn es um fremde Länder geht.
Und genau in dies Konzept passte die Idee der Erlebnisdoku. Nun konnten fremde Länder und andere Kulturen über den Bildschirm flimmern. "Über Leben an extremen Orten wollten wir erzählen, auch über den Kältepol im magischen Sibirien – aber nicht wieder als Reporter: Nein, zwei deutsche Familien sollten nach Sibirien gehen, und wir wollten ihre Annäherung an diese fremde Welt, ihre Abenteuer und ihre neuen Freundschaften dokumentarisch mit der Kamera begleiten und für die Zuschauer miterlebbar machen", schreibt die Redakteurin Dr. Susanne Becker über ihre Filmidee Sternflüstern (ZDF-Homepage). Das, was offensichtlich interessiert, sind die eigenen Landsleute und ihre Läuterungsprozesse durch die Fremde. Die andere Kultur wird mehr oder weniger zur Erlebnis- und Abenteuerkulisse für Zivilisationsüberdrüssige. Gleichwohl scheint auch der Kontakt mit den Anderen zu interessieren, auch wenn diese nur spärlich zu Wort kommen. So sind auf der ZDF-Homepage immerhin einige Sätze der Tonganer über Eindrücke vom Zusammenleben mit den deutschen Familien zu finden.
Den deutschen Familien in Sibirien bzw. auf Tonga hat die Flucht aus der Moderne auf Zeit ein neues Bewusstsein für "moderne Errungenschaften" geschenkt, vor allem aber ein Überdenken des Überflusses ermöglicht. "Ich bin auch mit der Intention auf die Insel gegangen, etwas vom Südseeleben für meinen Alltag hier abzugucken. Weil ich denke, dass die Lebensweise hier nicht immer die beste ist. Momentan mache ich beispielsweise den Einkauf ganz anders: Das letzte Mal habe ich insgesamt nur 16 Euro ausgegeben. Es gab Milch, Brot, Butter und Früchte – die anderen Sachen brauche ich nicht. Meine Familie hat zwar gelacht, aber sie fanden das auch in Ordnung." (Gabriele Kinder in einem ZDF-Interview nach ihrer Rückkehr). Uwe Armbruster sagt zu seinem Tonga-Aufenthalt auf die Frage "Denken sie, dass Sie sich durch die drei Monate auf der Insel Ha’ano verändert haben?": "Ja, da bin ich sicher. Ich war zwar schon immer jemand, der Dinge recht gelassen sieht, aber auf Tonga habe ich noch mehr innere Ruhe bekommen. Ich merke das beim Autofahren: Wenn jemand dicht auffährt, ärgert mich das nicht mehr so. Auch Freunde und Bekannte sagen mir, dass ich innerlich gefestigt wirke."
Von der Tonganerin Leionia erfährt man weniger Konkretes: "Wir haben so viel füreinander getan, das macht mich glücklich", antwortet Leionia auf die Frage nach ihren Gefühlen. "Das, was Familie Kinder uns während ihres Aufenthaltes gibt, ist sehr wertvoll." Und über den Abschied sagt sie: "Es ist ein großer Verlust, dass die Familie uns verlässt. Egal, was wir hatten, wie groß oder wie klein, wir haben alles geteilt".
Es kann zweifellos viel kritisiert werden über die exotistische Machart der Erlebnisdokumentation. Der eingefleischte Dokumentarfilmer lehnt die Erlebnisdokumentation sicherlich konsequent mit der Begründung ab, dass dort ja schließlich nicht das „echte Leben“, sondern künstlich nachgestelltes Leben gezeigt wird. Die gut gesinnte Ethnologin und ethnographische Filmemacherin entdeckt jedoch überrascht, dass einige Forderungen der ethnologischen Methodenpraxis im Reality-TV durchaus umgesetzt werden. Zum Beispiel die teilnehmende Beobachtung: Die deutschen Familien nehmen aktiv am Leben in ihren jeweiligen exotischen Orten teil; sie arbeiten in der Fischfabrik, die Kinder besuchen den Schulunterricht.
Die ZDF-Redakteurin Susanne Becker bezeichnet ihre Erlebnisdokumentation dann auch als eine neue Form des dokumentarischen Erzählens, die aber "streng nach den Regeln der Dokumentation" gedreht sei. Weder spiele die subjektive Sicht der Autoren eine zentrale Rolle, noch würde mit Skript gearbeitet. Autoren und Redaktion suchen den Drehort und wählen die Protagonisten aus. Die Geschichten der Erlebnisdokumentation werden dann "vom Leben selbst geschrieben".
Dieses Vorgehen verabschiedet den Glauben an die Möglichkeit der objektiven Darstellung fremder Kulturen, der immer noch viele, nicht ethnologisch ausgebildete Dokumentarfilmer anhängen. Gleichzeitig, und hier wird es spannend, wird auch die subjektive Sicht der Autoren oder Filmemacher verabschiedet. Der extra gecastete Durchschnittsbürger als eine vierte Größe (neben Einheimischen, Filmemacher und Zuschauer) ergänzt die Rolle des Ethnologen/Filmemachers. Dadurch, dass dieser sich mit dem ausgesuchten Durchschnittsmenschen – und ehemaligem Zuschauer – eine Art "naives Alter Ego" zugelegt hat, wird seine Subjektivität im Prozess des Filmens durchbrochen. Aus den Interviews und Tagebuchaufzeichnungen der Traumfischer, und Sibirienprotagonisten schimmern vor dem Auge der Ethnologin Malinowskis Tagebuchnotizen durch. Aber Malinowski hat nicht nur über Privates geschrieben – über seine Malariaprophylaxe, Heimweh und seine Abneigung den Eingeborenen gegenüber –, er hat die Kulturen, in denen er lebte, als solche auch erforscht.
So richtig anfreunden kann sich die Ethnologin mit der Erlebnisdokumentation dann, wenn sie das Spektakel zum Gegenstand einer ethnologischen Studie in der eigenen Gesellschaft macht und es als Aufführung des modernen Traums vom Paradies definiert. Neuartig sind derartige Experimente vielleicht insofern, als dass dabei die Frage gestellt wird: "Erfüllt sich der Traum?" (ZDF-Homepage Traumfischer ). Dabei bringt beides Einschaltquoten: das Paradiesbild der türkisfarbenen Südsee mit traumhaften Stränden und Kokosnüssen – und die Kehrseite des Paradieses, die ja genauso zum Mythos gehört: Ungeziefer, Tropenkrankheit, Gefahren des Dschungels. Im Sibirienpendant sind das: malerische Schlittenhundfahrten durchs ewige Eis, im Gegensatz zum ewigen Frieren und Hungern. Der Aussteiger- und Paradiestraum wird auf die Probe gestellt.
Erlebnisdokumentationen geben interessante Einblicke in die westliche Moderne und eignen sich als empirisches Datenmaterial für eine Ethnologie der europäischen Moderne. Die "vormoderne Kulisse" verstellt allerdings den Blick auf die Vielfalt anderer moderner Lebensformen. Ein echter Dialog der unterschiedlichen Kulturen findet nicht statt. Vielmehr ist die Erlebnisdokumentation ein postkolonialistisches Dokument für eine neue Form der Aneignung fremder Kulturen. Der Mensch der westlichen Moderne sucht keine Gewürze oder anderen exotischen Waren mehr – die hat er ja schon. Was er mitnimmt, sind Werte, Lebenseinstellungen und Verhaltensweisen, die ein glücklichereres und entspannteres Leben in der eigenen Gesellschaft erwarten lassen. Das ist viel, wenn man bedenkt, dass die ersten europäischen Tropenreisenden das Bestreben hatten, "die Wilden" zu zivilisieren. Die extrem gewählten Drehorte der Dokumentation muten allerdings wie der Versuch an, die westlichen modernen Errungenschaften zu bestätigen. ZDF-online bringt das Resümee der Traumfischerin Gabriela Kinder: "Wir wären gerne länger geblieben, aber dorthin auszuwandern stand und steht nicht zur Debatte. Ich würde viele Dinge, die ich sehr schätze, vermissen, zum Beispiel klassische Musik, Konzerte, Theater, Museen und auch Kneipen. Deswegen würde es uns auch eher nach Italien ziehen, falls wir einmal aus Deutschland weggehen sollten."
Vielleicht sehen wir ja in Kürze eine Erlebnisdokumentation, die eine Gegeneinladung der gehobeneren Schicht aus dem Baikal nach Deutschland thematisiert – und zwar in ein abgelegenes bayrisches Dorf. Man müsste den Insulanern dann natürlich auch nur eine Kuh, eine Axt und ein Schaf geben. Sicher wären sie froh, wieder in "ihre moderne Welt" zurückzukehren. Aber auch sie würden bestimmt ein Stück vom gefangenem Traum und irgendein Flüstern der Sterne mitnehmen.
Dr. Urte Undine Frömming ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin. Feldforschungen in Südostasien, Tanzania und Island. Forschungsschwerpunkte: Visuelle Anthropologie, Medienethnologie, Kulturelle Bedeutung von Naturkatastrophen.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008