Von Volker Beer
Zu den schönsten Objekten der Ethnographika-Sammlung der museumspädagogischen Abteilung des Museums der Weltkulturen in Frankfurt am Main gehören einige Trommeln der Asmat, einer Ethnie aus dem indonesischen Teil Neuguineas. Neben geometrisch-abstrakten Motiven sind mehrere dieser Trommeln mit beeindruckend kunstvollen Schnitzereien versehen, die jeweils einige menschliche Figuren darstellen, deren Glieder in seltsam steifen Winkeln angeordnet und wie filigranes Astwerk miteinander verwoben sind. Obwohl die Außenkontakte der Asmat in früheren Jahrhunderten relativ beschränkt waren und bis in jüngere Zeit hinein eine extrem restriktive Einreisepolitik der indonesischen Regierung stattgefunden hat, gibt es mittlerweile genügend ethnologische Arbeiten, um diese Trommeln in ihrer Bedeutung für die kulturelle Welt der Asmat einordnen zu können.
Einstmals – vor sehr langer Zeit – ging Fumeripits, der "Windmann", in den Wald und baute ein Festhaus. Dort aber war niemand außer ihm. Um nicht so allein zu sein, fällte er Bäume und schnitzte aus dem Holz Figuren, eine jede mit Kopf, Körper, Armen und Beinen, manche männlich, manche weiblich. Er stellte die Figuren in sein Festhaus, aber dennoch war er dort allein. Die Figuren bewegten sich nicht. Da fällte er noch einen Baum, höhlte ein Stück des Stammes aus und schnitzte daraus eine Trommel. Die eine Öffnung des Trommelkörpers bedeckte er mit Echsenhaut, vermischte Kalk mit seinem eigenen Blut, klebte die Haut damit am Rand des Instrumentes fest und spannte sie mit einem Rotanring. Dann fing er an zu trommeln. Und mit den Trommelschlägen begannen die Holzfiguren sich zu bewegen, zuerst etwas linkisch, aber allmählich lösten sich ihre steifen Gelenke, und sie tanzten und sangen wie Menschen. Dies waren die ersten Asmat.
Später traf Fumeripits auf ein Krokodil, das ihn verschlingen wollte. Er aber tötete das Ungeheuer, zerschnitt es in viele Stücke und warf diese hoch zum Himmel. Sie fielen jedoch wieder auf die Erde zurück und verwandelten sich in andere Menschen. Das sind die Nachbarn der Asmat.
So gibt Klaus Helfrich eine Mythe wieder, die bei den Asmat über die Erschaffung der Menschen erzählt wurde. Während der Kosmos an sich bereits in mythischer Zeit als gegeben erscheint, konzentrieren sich die Mythen hier vorrangig auf die Erschaffung der Menschen und ihre kulturellen Errungenschaften. Diese Mythe behandelt Themen, die einerseits für die Kosmologie und Kultur der Asmat zentral sind und die andererseits im konkreten Objekt der Trommel verkörpert werden: Es geht um Ursprung und Beschaffenheit des Menschen bzw. der Asmat und um die Schnitzkunst. Außerdem tauchen in der Mythe einzelne technische Details der Trommelherstellung auf.
Die Mythe nennt das Holz gefällter Bäume als das Material, aus dem die ersten Asmat erschaffen wurden. Die enge Analogie zwischen Mensch und Baum kann als ein zentrales Merkmal der Asmat-Kosmologie gelten: Eine mögliche Übersetzung der Selbstbezeichnung asmat-ow ist "wir, die Baummenschen". Durch die mythische Erschaffung aus Holz unterscheiden sich die Asmat von den Nachbargruppen, die aus Krokodilstücken entstanden sind – so wird im Mythos die Gruppenidentität begründet. Oft vergleichen die Asmat sich mit Bäumen: Die Füße entsprechen Wurzeln, der Rumpf dem Stamm, die Arme Ästen und der Kopf einer Frucht. Bäume beherbergen die Seelen Verstorbener. Gelegentlich wird das Anlegen von pflanzlichem Schmuck damit begründet, sich auf diese Weise einem Baum ähnlicher zu machen. In ähnlicher Analogie werden Früchte fressende Tiere als "Verwandte" begriffen: So, wie die Asmat sich in früherer Zeit vor allem durch die Kopfjagd als kultivierte Menschen auszeichneten, erbeuten diese Tiere mit den Früchten die "Köpfe" der Bäume und rücken damit in Nähe zu den Asmat.
Die Schnitzkunst kann nach dem Verbot der Kopfjagd wohl als das für die Identität der Asmat wichtigste Kulturgut gelten. Während das Schnitzen von Alltagsgegenständen nicht als besondere Kunst angesehen wird, werden besonders wichtige und schwierige Schnitzereien ausschließlich männlichen Fachleuten anvertraut, den sozial hoch angesehenen so genannten wow-ipits . Dazu gehören die bekannten bis -Pfähle (mit Ahnendarstellungen versehene riesige Pfähle der Männerhäuser) oder Trommeln, deren Herstellung auch spirituell heikel ist. Während der Arbeit an gemeinschaftlich bedeutsamen Werken werden die Schnitzer von der Gemeinschaft ökonomisch versorgt, sodaß sie sich ausschließlich auf ihre Schnitzkunst konzentrieren können. Private Schnitzaufträge (beispielsweise Trommeln) werden ebenfalls durch die Versorgung der Schnitzer vergütet.
Das Schnitzen von Trommeln, bis -Pfählen, großer Kampfschilde, der kunstvollen Bootssteven oder kleiner Ahnenfiguren ist deshalb von spiritueller Bedeutung, da mit jedem dieser Schnitzwerke nicht nur ein kunstvolles Objekt, sondern ein Aufenthaltsort für Ahnenseelen geschaffen wird. Die gezielte Lenkung der beim Tod eines Menschen frei werdenden Seele ndet (oder mbi ) ist eines der wichtigsten Anliegen. Die Bedeutung der Schnitzwerke kann in diesem Zusammenhang der spirituellen Ausbalancierung der Welt gesehen werden: Sie werden nach Verstorbenen benannt (teilweise als Ganzes, teilweise erhalten Einzelfiguren komplexer Darstellungen noch besondere Namen) und binden damit die Kraft des ndet der entsprechenden Verstorbenen zum Nutzen der Lebenden.
Zusätzlich zu dieser allgemeinen Bedeutung der Schnitzkunst spielen die Trommeln in doppelter Weise auf den Erschaffungsmythos der Asmat an: Zum einen wiederholt der Schnitzer die Schaffenstat von fumeripits , indem er menschliche Figuren herstellt und diese hinterher durch Namensgebung "beseelt". Zum anderen ist es die Musik der Trommel, die im Mythos die geschnitzten Menschen zum Leben erweckt.
Wolfgang Nelke beschreibt ein Fest der Asmat, das den Erschaffungsmythos rituell wiederholt, folgendermaßen:
Meist beginnt das Trommeln gegen Abend und hält dann die ganze Nacht an bis zur Morgendämmerung. Die Männer (seltener auch die Frauen) tanzen dazu einzeln, fast auf der Stelle, mit nach innen und außen schlenkernden Knien: So wird die Umwandlung von Holz zu Fleisch symbolisiert, die Verbindung von Ellenbogen und Knien der ehedem starren Holzfiguren ist unterbrochen, die Figuren sind mit Leben erfüllt. Es sind jetzt richtige Menschen, die hier tanzen.
Die oben genannte Mythe weist auf einige Besonderheiten der Trommelherstellung hin: Das Aushöhlen des Stammes, in der Mythe nur angedeutet, ist ein kniffliger, oft Monate dauernder Prozess, da das Holz vor dem Reißen bewahrt werden muss. Die Beschreibung der Befestigung der Echsenhaut durch einen mit dem Blut des Besitzers gemischten Leim entspricht genau dem heutigen Herstellungsprozess. Diese Entsprechung betont einmal mehr, dass die heutige Trommelherstellung eine bewusste Wiederholung mythischer Geschehnisse ist.
Das hiermit gezeichnete Bild eines geschlossenen logischen Systems aus Mythos, Menschenbild, Kunst und Ritual, die sich allesamt stringent aufeinander beziehen, ist in gewisser Weise ein abstraktes, vom Alltag der Menschen losgelöstes Bild. Solche Beschreibungen der Zusammenhänge zwischen verschiedenen kulturellen Ebenen sind nützlich, um die innere Logik einer Kultur verstehen zu lernen, doch beruhen sie notwendig auf Simplifizierungen, Verkürzungen und Weglassungen. Schauen wir uns einmal an, was die Betrachtungen oben ausgeblendet haben:
Statische Darstellung
In dem beschriebenen, scheinbar fest geschlossenen System von Kosmologie, Menschenbild, Kunst und Ritual, dessen einzelne Ebenen sich offenbar gegenseitig durchdringen und stabilisieren, scheint Veränderung nicht vorgesehen, ja kaum möglich, es sei denn, sie bricht von außen gewaltsam ein. Es besteht die Gefahr, das Klischee eines Gegensatzes zwischen einer angeblich seit Generationen statischen "Tradition" und einer alles beschleunigenden "Moderne" zu bestätigen, das die bereits traditionelle Flexibilität der Kultur ignoriert. Gerade im Falle der Asmat ist das Bild von "Steinzeitmenschen", die, angeblich über Jahrtausende keinerlei Veränderungen gewohnt, plötzlich hilflos in die moderne Welt katapultiert würden, ein extrem beliebtes Klischee, das sehr skeptisch betrachtet werden sollte.
In diesem Klischee taucht kulturelle Veränderung nur als unfreiwillige und problembeladene Wandlung von einer religiös geprägten Kopfjäger- zu einer friedlichen und zunehmend kommerzialisierten Schnitzerkultur auf. In der Literatur werden die neueren Veränderungen der Schnitzkunst beschrieben, die dem Wechsel von religiös geprägter Kosmologie zu einem zunehmend ökonomisierten Weltbild entsprechen. Die Schnitzkunst beinhaltet heute neben traditionellen Genres auch profane Produkte, und die Schnitzer haben gelernt, traditionelle Darstellungen wie Ahnenfiguren zunehmend unter dem Aspekt der Marktkompatibilität zu sehen: Als "authentisch" angesehene "traditionelle" Figuren werden besonders gern gekauft.
Unter Sammlern gelten Asmat-Objekte aus den 1950er- und 60er-Jahren als "traditionell". Allerdings sind diese Objekte gerade wegen der damals massiv einsetzenden Sammelwelle bereits stark von äußeren Einflüssen geprägt. Da kaum ältere Objekte vorhanden sind (sie wurden vor der Einführung von Metallwerkzeugen aus weicherem und damit verderblicherem Holz gefertigt), ist eine Darstellung der älteren materiellen/künstlerischen Kultur und eventueller früherer Veränderungsprozesse in Weltbild und Kunst nur sehr beschränkt möglich.
Der Mythos von Fumeripits wird von verschiedenen Autoren wiedergegeben, die sich jeweils auf dieselbe Quelle beziehen; weitere, eventuell abweichende Versionen oder andere Mythen der Menschenerschaffung wurden entweder nicht gesammelt oder nicht beachtet. So wird eine einmalige Erzählversion zu dem Ursprungsmythos der Asmat, mögliche Varianten oder Alternativen tauchen nicht auf. Die zu vermutende Vielfalt oraler Überlieferungen wird zugunsten eines einheitlichen Bildes geglättet.
Auch wenn es bei obiger Beschreibung so erscheinen mag, als wären die Asmat eine kulturell einheitliche Gruppe, so verändert sich das Bild, wenn man weiß, dass sich immerhin geschätzte 80.000 Asmat über ein Gebiet von der Größe Belgiens mit regional völlig unterschiedlichen geographischen Bedingungen verteilen. In der Ethnologie wurden die Asmat zunächst (nach formalen Kriterien ihrer Kampfschilde) in vier Gruppen unterschieden, mittlerweile hat sich eine Unterteilung in 12 regionale Gruppen (nach verschiedenen kulturellen Aspekten) eingebürgert. Wieweit allen diesen Gruppen der erwähnte Schöpfungsmythos bzw. dessen Verbindung mit Menschenbild, Schnitzerei, Musik und Tanz tatsächlich gemeinsam ist oder ob hier aufgrund des insgesamt eher spärlichen Materials Aussagen einer einzigen Gruppe unzulässigerweise verallgemeinert werden, müssten noch genauere Untersuchungen erweisen.
Die relativ beschränkte Erforschung der Asmat bringt zwangsläufig eine geringere Informationslage in manchen Bereichen ihrer Kultur mit sich; zu einigen Bereichen ihrer Kultur existieren nur einzelne und kurze Texte. Solch mangelnde Erforschung wird oft mit realer kultureller Schlichtheit verwechselt. Beispielsweise berichtet selbst Klaus Helfrich, eigentlich ein hervorragender Kenner der Asmat, es gebe bei ihnen keinerlei Spezialistentum, doch stellt sich heraus: Er hat dieses entweder nicht erkannt oder nicht beachtet. Ein anderer Text nennt und beschreibt ein Dutzend verschiedene professionelle Spezialisierungen samt ihrer indigenen Bezeichnungen.
Ein anderes Beispiel ist der Prozess der Lenkung der Seelen Verstorbener, den ich oben nur kurz anriss. Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass dies eine so hochkomplexe Angelegenheit ist, dass eine gründliche Darstellung bereits ein Buch füllen könnte. Die notwendige Verkürzung droht den Eindruck eines einfachen und logischen Weltbildes zu vermitteln, das mit der hochkomplizierten und widersprüchlichen religiösen Welt der Asmat wenig zu tun hat.
Sobald ein kulturelles System genauer und von mehreren Personen erforscht wird, tauchen widersprüchliche Aussagen auf. Im Prozess, eine fremde Kultur zu verstehen, gerät man stets in Versuchung bzw. unterliegt gar der Notwendigkeit, Widersprüche auszublenden und stattdessen ein kohärentes System zu präsentieren. Im Darstellungsprozess besteht die Notwendigkeit, eine Auswahl nur der jeweils "passenden" Aussagen vorzunehmen: Beispielsweise ist die oben erwähnte Übersetzung von " asmat-ow " als "Baummenschen" nur eine Übersetzungsmöglichkeit. Das macht die Feststellung einer Mensch-Baum-Analogie als Aspekt der Asmat-Kosmologie keineswegs falsch, doch fallen dabei die anderen, weniger interessanten oder noch nicht in solche Systeme einbettbaren Übersetzungsmöglichkeiten schnell unter den Tisch und drohen für die weitere Forschung verloren zu gehen.
Die berechtigte Suche nach dem Verständnis der inneren Logik und Kohärenz fremder Kulturen soll damit selbstverständlich nicht grundsätzlich disqualifiziert werden. Verständnis und Darstellung des Fremden beinhalten unvermeidlich Vereinfachungen und Verzerrungen. Gleichzeitig müssen wir aber darauf achten, dass unser Bedürfnis nach Verständlichkeit und die Notwendigkeit der Reduktion nicht dazu führen, Einfachheit zu suggerieren, wo es kompliziert zugeht, Homogenität zu unterstellen, wo Vielfalt herrscht, oder Beständigkeit zu vermuten, wo Wandel ist.
Gerbrands, Adrian A. (Hg.) (1967): Wow-Ipits. Studies in Ethno-Aesthetics. Field Reports: Vol. 3. Mouton Publishers: The Hague – Paris
Helfrich, Klaus ( Hg.)(1995): Asmat: Mythos und Kunst im Leben mit den Ahnen (eine Ausstellung des Museums für Völkerkunde, Abteilung Südsee, vom 17.10.1995 bis 31.3.1996 im Museum für Völkerkunde, Berlin; Ausstellungskatalog) Berlin, Veröffentlichungen des Museums für Völkerkunde
Konrad, Gunter, Ursula Konrad & Tobias Schneebaum (1981): Asmat. Leben mit den Ahnen. Steinzeitliche Holzschnitzer in unserer Zeit. Glashütten/Ts.: Friedhelm Brückner (Zur Ausstellung in der Stadthalle Hofheim am Taunus vom 29.3.-20.4. 1981)
Volker Beer M.A., Völkerkundler und Religionswissenschaftler, arbeitete u.a. als Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienst REMID e.V. in Marburg, in der museumspädagogischen Abteilung IKAT des Museums der Weltkulturen in Frankfurt am Main und in der Völkerkundlichen Sammlung der Philipps-Universität Marburg. Derzeit arbeitet er neben verschiedenen Projekten an einer Dissertation zum Thema "Two-Spirited People" in Nordamerika.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008