Von Eva Ch. Raabe
In unserer westlichen Industriegesellschaft werden Dinge meist über ihre Funktion definiert. Dinge sind Materie – greifbar, fassbar und praktisch einsetzbar. Die Idee, die sich in einem Gegenstand manifestiert, wird meist als seine Technik verstanden. Daher lauten die Fragen unserer Gesellschaft an ein materielles Objekt überwiegend: „Wofür wird es gebraucht, wie funktioniert es, was kann man damit bewirken?“ Fragen wie „Was erzählt es uns ?“ oder „Was kann man daraus lesen?“ werden dagegen selten gestellt. Als Angehörige einer Schriftkultur sind wir daran gewöhnt, dass Ideen niedergeschrieben werden und dass Wissen meist zwischen Buchdeckeln zu finden ist. Aber auch in Dingen kann man lesen – vorausgesetzt, man kennt ihre Sprache und die Schlüssel zu den Texten, die sich in ihnen manifestieren.
Bis 1980 stand vor der Ausstellungsvilla des Museums der Weltkulturen der Pfosten eines Männerhauses der Iatmul in Papua-Neuguinea. Dieser reich beschnitzte Pfosten wurde als „Stamm“ namengebend für die Museumszeitung und damit zum Wahrzeichen des Hauses. Da das Original stark unter Witterungseinflüssen litt, wurde es in die Museumsmagazine zurückgeholt und durch einen detailgetreuen Abguss ersetzt. Der westlich geprägte Kunstliebhaber mag es bedauern, nicht mehr das ‚echte’ Kunstwerk betrachten zu können, die Replik enthält jedoch – wie die Kopie eines geschriebenen Textes – genau dieselben Informationen wie seine Vorlage. Den meisten Frankfurter Passanten, die den Pfosten nur flüchtig als Teil der Außengestaltung des Museums wahrnehmen, bleiben seine Inhalte verschlossen; doch ein Iatmul, selbst wenn er aus einem anderen Ort als der Pfosten stammt, würde die Schöpfungsgeschichte seiner Gemeinschaft daraus lesen können. So wie selbst nicht besonders bibeltreue Angehörige unserer Gesellschaft bei der Betrachtung eines unbekleideten Paares unter einem Apfelbaum mit Schlange sofort die biblische Geschichte von Adam und Eva assoziieren.
Der Pfosten stammt zusammen mit zwei weiteren Pfählen der Frankfurter Sammlung aus dem Männerhaus Munsimbit des Dorfes Kanganamun. Weil dieses alte Männerhaus 1961 zerfallen und nicht wieder neu errichtet worden war, konnten die dachtragenden Pfosten für das Frankfurter Museum erworben werden. Solche Pfosten sind aber niemals einfach nur Architekturteile, sondern gleichzeitig heilige Gegenstände. Wie das Männerhaus selbst und die darin aufbewahrten Musikinstrumente, Skulpturen und Masken werden sie als beseelte Wesen gedacht und mit Eigennamen benannt. Alle tragenden Pfosten eines Männerhauses verkörpern Klanahnen und werden mit menschlichen Gesichtern dargestellt.
Da der Sammler Eike Haberland das Männerhaus Munsimbit in einem Aufsatz beschreibt, wissen wir über die ikonographische Bedeutung der einzelnen Stücke genauer Bescheid. So verkörpert der mit fast neun Metern höchste der Frankfurter Pfähle den Ahn Kamwinbangeh und trägt dessen Namen. Der Krokodilahn Wolintambwi, Schöpfer der Erde, erschuf Kamwinbangeh zusammen mit der Frau Nsimbwori. Aus der Verbindung von Kamwinbangeh und Nsimbwori, die auch als Urmutter aller Menschen und Bringerin des Feuers gilt, gingen die ersten Klane hervor. Nsimbwori ist im unteren Teil des Pfostens in Gebärhaltung abgebildet, der obere Teil zeigt das Gesicht Kamwinbangehs; dazwischen sind mit einem Wellenmuster die Wogen des Urmeeres und ein Kranz von Seerosen dargestellt. Auch der vor dem Museum aufgestellte Pfosten Meriamei zeigt dieses Wellenmuster und die Seerosen darstellenden Scheiben. Das Krokodil unterhalb seines Gesichtes stellt Sambän, einen anderen Sohn Wolintambwis dar (Haberland 1966: 41-45).
Namen und Bedeutung der Pfosten muten zunächst fremd an, doch handelt es sich hier tatsächlich um die Verbildlichung einer Abstammungsfolge, die durchaus den schriftlich festgehaltenen alttestamentarischen Genealogien der Bibel zu vergleichen ist. Auch das in den Schnitzereien der Pfähle mit Wellen und Seerosen immer wieder versinnbildlichte Urmeer erinnert an die uns aus der biblischen Schöpfungsgeschichte bekannten Sprachbilder der Bibel: Im Anfang war nur Wasser, und es war dunkel. In allen Schöpfungsmythen spiegeln sich auch die Grundbedingungen menschlicher Existenz wider. So erstaunt es nicht, dass eine Bevölkerung, die mit jährlich wiederkehrenden Überschwemmungen direkt am Fluss lebt, sich vorstellt, dass ihr Lebensraum aus dem Wasser entsprang.
Abbild des Kosmos
Die Männerhäuser der Iatmul sind Wohn-und Schlafstätten der verheirateten erwachsenen Männer ebenso wie politische und religiöse Zentren des Dorfes. Als Kultgebäude werden sie auch zum Abbild einer höheren Ordnung, des Kosmos; denn in der Anlage der Häuser, seiner Konstruktion und den Kunstwerken, die es umschließt, spiegeln sich Weltbild und Schöpfungsglaube wider:
In der Urzeit der Welt gab es zunächst nur Wasser. Vom Grunde dieses alles bedeckenden Wassers holt das Krokodil auf seinem Rücken Schlamm und formt die erste Erdinsel im Urmeer, vergrößert und festigt sie. Das so entstandene Land ruht auch heute noch auf dem Rücken des urzeitlichen Krokodils und gerät bei dessen Bewegungen ins Schwanken. Diese Vorstellungen entsprechen den tatsächlichen Naturverhältnissen: Deutlich spürbare Erdbeben oder kürzere Erdstöße sind in Neuguinea keine Seltenheit. Zudem ist der wichtigste landschaftliche Bezugspunkt für die Iatmul der Strom des Sepik, an dessen Ufern entlang sie ihre Dörfer anlegen. Alljährlich tritt der große Fluss über seine Ufer und bildet ein weites Überschwemmungsgebiet, aus dem die auf Pfählen angelegten Häuser, wie kleine Inseln, herausragen. Der urzeitliche Zustand gehört also nicht einer weit entfernten Vergangenheit an, sondern wiederholt sich regelmäßig in der Gegenwart.
Die Männerhäuser liegen inmitten eines lang gestreckten, längs des Sepik wie ein Korridor durch das Dorf verlaufenden Kultplatzes. Dieser Platz ist an seinen Längsseiten von künstlich aufgeschütteten und mit Bäumen bepflanzten Wällen begrenzt. Wie ein Fluss zwischen erhöhten Uferbänken ‘durchströmt’ er das Dorf, während das Männerhaus, die urzeitliche Erdinsel, im Strom ‘schwimmt’. Als schwimmende Insel wird das Haus auch mit den mit krokodilsförmigen Steven ausgestatten Booten gleichgesetzt, und wie die Boote steht es gleichzeitig für das die Inseln tragende urzeitliche Krokodil. Aufgrund seiner großen Bedeutung als mythisches Schöpferwesen erscheint das Krokodil so häufig als Darstellung an Hausteilen und Kultgegenständen (Haberland 1966: 43f.; Schuster 1985: 22).
Die weiblichen Zeremonialnamen der Männerhäuser deuten auf ihre Personifizierung als Frauen hin. Diese die Männerhäuser verkörpernden weiblichen Gestalten tauchen in der Vorstellung der Einheimischen nachts aus unterirdischem Wasser auf und verschwinden wieder im Morgengrauen. Im Dunkel der Nacht wiederholt sich die mythische Urzeit: Nacht und Urzeit sind wie das schwarze Wasser, aus dem die Frauengestalten emporsteigen - in der Nacht streift das sonst im Verborgenen lebende Jagdwild umher, so wie auch die unterschiedlichen Ahnenwesen der Urzeit erscheinen, um bei Anbruch des hellen Tages wieder in ihr Männerhaus zurückzukehren. Die Nacht, das Wasser und die Urzeit verkörpern die zeremonielle Erdhälfte, die alle unten befindlichen oder dunklen Dinge umfasst. Ebenso steht das Prinzip des Männerhauses an sich mit dieser Hälfte in Verbindung: Wenn es Nacht wird, so sagen die Iatmul, geht das mythische Männerhaus Mindjembit umher. Es ist gleichzeitig die Verkörperung der Ahnfrau Nduman, die nachts in die Pfosten der Männerhäuser, in die Trommeln und Skulpturen fährt (Schindlbeck 1985: 368).
Zwar ist es Frauen nicht erlaubt, das Männerhaus zu betreten und an den dort stattfindenden Ritualen teilzunehmen, jedoch ist die mythologisch vermittelte Vorstellung von der Frau im Kult immer präsent: Es ist eine Urahnin, die das erste Männerhaus erbaut. Diese urzeitliche Frau rodet den Bauplatz, indem sie ihn mit einer Bambussichel vom Gras befreit; dann hebt sie Grubenlöcher aus. Als sie die Pfosten bei ihren Namen herbeiruft, fährt einer nach dem anderen in sein Loch. Sodann schneidet sie die Balken zu, legt sie auf und verbindet alles mit ihrem Speichel. Schließlich holt sie ein verzweigtes Wurzelholz zur Herstellung der Giebelfigur aus dem Wald. Das Schnitzen dieser giebeltragenden weiblichen Figur überlässt sie jedoch ihrem Bruder. Dieser schneidet eine Frauenfigur aus dem Holz, hebt sie hoch, und die Skulptur steigt in den Giebel des Hauses auf. Danach fertigt der Bruder Dachziegel aus Palmwedeln und deckt damit Dach und Giebel ab (Schindlbeck 1985: 370).
Die in den Ursprungsmythen der verschiedenen Klane mit unterschiedlichen Namen belegte Ahnfrau ist das Männerhaus selbst, und alle nach ihr errichteten Männerhäuser werden als ihre Verkörperung verstanden. In Form der weiblichen, in Gebärhaltung die Beine spreizenden Figur sitzt die Ahnin, den Außenstehenden nicht sichtbar, im verkleideten Giebel eines jeden Männerhauses. Sie nimmt die Männer, die das Gebäude betreten, täglich in sich auf und ‘gebiert’ sie von neuem, wenn sie es verlassen.
Die Pfosten eines Männerhauses sind somit mehr als nur funktionale Architekturteile, sie zeigen einzelne Aspekte eines gesamten Kosmos. Da sie jeweils unterschiedliche mythische Ahnen verkörpern, sind sie nicht beliebig austauschbar, sondern eher mit den Seiten eines Buches zu vergleichen. Die drei aus demselben Männerhaus stammenden Pfosten in der Frankfurter Sammlung beinhalten jeweils Teile des mythologischen Wissens einer ganzen Männerhausgemeinschaft. Daher ist es auch bedauerlich, dass im Rahmen der damals an den Völkerkundemuseen üblichen Tauschgeschäfte ein vierter Pfosten vom Haus Munsimbit an das Völkerkundemuseum in Rotterdam abgegeben wurde. Ein wichtiger Text dieser heiligen Schrift fehlt nun.
Dinge können wie Bücher sein, und Museumsmagazine sind nichts anderes als Bibliotheken!
Haberland, Eike (1966):Beschnitzte Pfosten des Männerhauses munsimbit (Dorf Kanganamun am Sepik) in den Völkerkunde-Museen Stuttgart und Frankfurt. In: Tribus 15. S. 21-46
Schindlbeck, Markus (1985): Männerhaus und weibliche Giebelfigur am Mittelsepik, Papua-Neuguinea. In: Baessler-Archiv, NF 33. S. 363-411
Schuster, Meinhard (1985): Das Männerhaus, Zentrum und Angelpunkt der Kunst am Mittelsepik. In Suzanne Greub (Hrsg.): Kunst am Sepik. Basel. S. 19-26
Dr. Eva Ch. Raabe, geb. 1957, seit 1985 Kustodin der Ozeanienabteilung des Museums der Weltkulturen. 1998/99 International Research Fellow, Centre for Cross-Cultural Research, Australian National University, Canberra. 1991-2000 Lehrbeauftragte der Universität Marburg.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008