Von Antje van Elsbergen
Die griechische Antike ist uns heute wie ehedem gleichermaßen vertraut und geheimnisvoll. Vertraut, weil wir alle die Mythen von Zeus und Hera, vom Feuerdieb Prometheus oder dem tapferen Herakles ebenso kennen, wie uns die Bilder der schwarz- oder rotfigurigen Vasenmalerei aus der archaischen oder klassischen Zeit der Antike vor Augen stehen, die bis zu 2700 Jahre der Zeit überstanden. Geheimnisvoll, denn wer könnte sich heute noch vorstellen, wie die hohen Herren der attischen Polisgemeinschaft bei einem Gelage auf bequemen Kanapees liegend ihre Schalen mit gemischtem Wein in Händen hielten, die Bilder auf den Mischkrügen betrachteten und sich beim Lyraspiel an Geschichten ergötzten, poetischen Erzählungen über die Entstehung der Welt, sich an Zeus’ ehebrecherischen Eskapaden labten, den listenreichen Odysseus bewunderten und mit Demeter auf ihrer vergeblichen Suche nach ihrer Tochter mitlitten.
Vasen und Mythen werden von den Wissenschaften, die sich mit der Antike befassen, mit unterschiedlichen Forschungsmethoden als Informationsquellen über diese Zeit genutzt. Ein Ansatz aus der Archäologie zeigt zum Beispiel aufregende Parallelen zwischen der Bemalung einer Bauchhenkelamphore des Dipylon-Malers aus dem 9. vorchristlichen Jahrhundert und dem formelhaften Versaufbau der Ilias. Die Bemalung im geometrischen Stil weise ebensolche Kompositionskunst und Formbewusstsein auf wie der Aufbau des ältesten erhaltenen griechischen Heldenepos. Wir wissen, dass das formale Denken bereits vor 3000 Jahren in Griechenland überragend war und eine Philosophie und Mathematik auf den Weg gebracht hat, die eine Zivilisation in ganz Europa ermöglichte. Hier soll es nun aber weniger um den formalen Aufbau von Vasenbemalungen und das Formenbewusstsein in griechischen Epen gehen, als vielmehr um einen anderen Aspekt griechischer Lebens- und Denkwelt: den lebendigen kreativen Schaffensprozess von Vasenmalern und Geschichtenerzählern. Es geht darum, einen Zugang zur Lebendigkeit einer Kultur zu finden, die über viele Jahrhunderte hinweg gelebt, ausgehandelt, umgedeutet und immer wieder neu erschaffen worden ist. Das analytische Denken der alten Griechen wurde schon vielfach gepriesen und analysiert, an dieser Stelle soll nun der dynamische Prozeß des Kreierens beschworen werden. Denn in Bildern und Mythen spiegelt sich nicht nur analytisches Denken wider, vielmehr erfahren wir auch von einer für uns erstaunlichen Weltsicht.
Zu Zeiten der Pallas Athene bestand keine scharfe Trennlinie zwischen Menschen und Göttern. Götter beherrschen wie ein ständig anwesendes Prinzip das menschliche Geschick, Sterbliche können durch ihre Verehrung Götter und Göttinnen wohlgesonnen stimmen, können den Lauf ihres Lebens günstig beeinflussen. Die Sterblichen leben dabei jedoch nicht in ständiger Furcht vor einer strafenden Gottheit, sie könnten den Göttern zuwiderhandeln. Götter und Göttinen sind in ihrer Vorstellung vielmehr immer zugegen und bestätigen mit ihrer Existenz das angemessene Verhalten der Menschen. Sie tauchen daher ebenso menschengestaltig auf, wie sie unsichtbar menschliches Handeln beobachten und bewerten, sind in ihrer Göttlichkeit dem Menschen ebengestaltet und doch sein genaues Gegenteil, da sie nicht den Gesetzen von Zeit und Raum unterworfen sind. In mythischen Erzählungen tauchen Götter und Göttinnen in Menschgestalt oft nur für den direkt Beteiligten sichtbar auf, den anderen erscheint ihr Handeln rein menschlich, nicht von einem Gott oder einer Göttin beeinflusst. Gerade dieser Anthropomorphismus hat Wissenschaftlern viele Rätsel aufgegeben, ließ sie nach dem Ursprung dieser Mythen forschen. So mannigfaltig die Deutungen bezüglich dieses Ursprunges sind, es verschwindet dabei ein Stück ihrer Originalität, ihres Zaubers von Unendlichkeit, den chronologischen Ablauf der Zeit für den Moment des Erzählens unterbrochen zu haben. Mythen bilden auf einer Metaebene, einer Ebene, die dem logischen Denken nicht mehr zugänglich ist, eine Wahrheit ab, die die Gesellschaft in ihrem Handeln, in richtig und falsch bestärkt, die gleichzeitig aber unterhaltend und – als mündlich tradierte Erzählform die Zuhörer und Zuhörerinnen erheitert und emotional beteiligt. Sie durchbrechen mit dieser Form der Ergriffenheit die eigene Existenz und bestätigen sie gleichermaßen mit den in den Mythen vermittelten Werten.
Pallas Athene ist eine der olympischen Gottheiten, die in Mythen besungen, in religiösen Ritualen besänftigt und auf Bildern ausgestaltet wird. Sie ist ein im jedem wirksames Prinzip von Schaffenskraft und technischem Bewusstsein, sie steht für Kreativität und Fertigkeit und veranschaulicht so ihre allumfassende Macht in Mythen wie Vasen und beschwört damit eine Vorstellung vom griechischen Menschen herauf.
Wir kennen Athene als Göttin und Schutzherrin Athens nicht vorrangig von den vielfarbigen Abbildungen auf griechischer Keramik. Sie ist gerade uns vertrauter aus traditionellen Geschichten, aus mythischen Überlieferungen und aus der Ilias und der Odyssee. Die Geburt der Athene, wie sie in Fragmenten aus homerischen Hymnen, der Theogonie des Hesiod oder den Beschreibungen des Apollodoros zu entnehmen ist, lässt sich folgendermaßen paraphrasieren: Zeus plagten Gelüste nach Metis, der Titanin. Diese verwandelte sich in allerlei Gestalten, um seiner unnachgiebigen Werbung zu entrinnen, doch wurde Zeus ihrer schließlich habhaft und schwängerte sie. Da aber ein Orakel ihm geweissagt hatte, dass ein Kind der Metis ihn entthronen und vom Olymp stürzen würde, bediente sich Zeus einer List. Er lockte Metis auf sein Lager und verschlang sie auf einen Bissen. Daraufhin plagte ihn schreckliches Kopfgrimmen, das den Himmel erzittern ließ. Der herbeieilende Hermes erkannte sogleich die Ursache und ließ einen Spalt in Zeus’ Schädel schlagen, aus welchem Athene sogleich in voller Rüstung entsprang.
Pallas Athene, die Eulenäugige (Helläugige), die Göttin, die von Zeus soviel göttliche Klugheit erhalten hat, begleitet die berühmtesten Helden und Heroinen Griechenlands mit Rat und Tat. Berühmte Heroen wie Perseus, Theseus, Herakles und Achilles verdanken ihrer weisen Rede oftmals eine glückliche Wendung ihres Geschickes. Einer Metropole, denn das war Athen seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert, stand sie als Stadtherrin vor. Ihr wurde in zahlreichen Prozessionen, Zeremonien, sportlichen Wettkämpfen, vor allem während der im Vierjahresrhythmus ihr zu Ehren durchgeführten Panathenaien gehuldigt. Gleichermaßen ist sie die Göttin der Hopliten (Soldaten) und der Handwerker, einer ihrer Beinamen lautet Athene Ergane, die Werktätige. Denn ihr Wirkungsbereich umfasst sowohl die Frauenarbeiten, wie das Spinnen und Weben, als auch das Kriegshandwerk. Mühsame körperliche Arbeit, die zur Schaffung und Sicherung der Existenz verrichtet wurde, war in Athen keine angesehene Tätigkeit, wohingegen die „schöne“ Arbeit einen sehr hohen Stellenwert besaß. Und für eben diesen Bereich war Athene zuständig.
Auf den ersten Blick scheint sie so eine Art Tausendsassa für verschiedene Komplexe des menschlichen Lebens zu sein. Dies ist aber – abgesehen davon, dass sich ihr Tätigkeitsfeld innerhalb mehrerer Jahrhunderte ständig erweiterte - nur insofern der Fall, als man aus der Sicht des heutigen Menschen und der heutigen arbeitsteiligen und produktorientierten Gesellschaft Töpferei und Kriegshandwerk mit einem Maßstab misst, welcher auf das wertschätzbare Produkt dieser Tätigkeit gerichtet ist. Die Fähigkeit, feinste Wolle zu spinnen, dünnwandigste Amphoren zu formen oder die Rüstung auf die richtige Weise anzulegen, ist aber nicht ergebnisorientiert, sondern ihr Entstehen und Gelingen ist dem Wohlwollen Athenes zu verdanken. Die Fähigkeiten, die durch ‚ergane’ gekennzeichnet sind, verdeutlichen, dass es sich bei den der Athene geweihten Arbeitsbereichen um den Prozess des kenntnisreichen Erschaffens handelt. Ein Vasenbild, das Athene darstellt, ist daher nicht nur einfach eine Illustration der Vorstellung, welche der Vasenmaler von ihr hatte, sondern die Göttin selbst hat beim Töpfern der Vase zur Seite gestanden, ihr Abbild ist gleichermaßen ihr selbst entsprungen.
Die aufwendig und detailreich bemalte Keramik der Antike gibt uns viele Ansatzpunkte, wie der griechische Töpfer und Maler dieser Gefäße die Göttin Athene interpretiert hat. Allerdings ist dazu ein geschultes Auge vonnöten, um anhand den vielfarbigen Szenen und Muster die Stellung Athenes in der Gesellschaft zu entschlüsseln. Erst mithilfe von Vergleichen zu anderen Vasenbildern aus derselben Zeit oder gar vom selben Maler ist ihnen eine erste Interpretation zu entlocken. Bisweilen findet man eine Inschrift, die auf den Hauptdarsteller oder die Hauptdarstellerin des Vasenbildes hindeutet, doch die meisten Töpferwaren bieten keine eindeutigen Anhaltspunkte und lassen so sehr viel Raum zur freien Interpretation.
Athene erkennt man auf Vasenbildern sehr leicht durch Helm und Brustpanzer, außerdem führt sie ihren Aigis-Schild mit sich. Diesen schmückt oftmals das Haupt der schlangenhaarigen Gorgone Medusa, dessen Anblick jeden Sterblichen zu Stein erstarren lässt. Athene trägt dieses Haupt als Erinnerung an den von ihr herbeigeführten Sieg Perseus’ über dieses Ungeheuer. Der Aigis-Schild der Athene kann aber auch nur mit einer Schlange geschmückt sein und ist ein Indiz für ihre libysche Herkunft.
Ein Merkmal für die Darstellung von Frauen auf den Vasenbildern in einer bestimmten zeitlichen Periode ist häufig deren weiße Haut. Bereits in den homerischen Epen haben Göttinnen und Heroinen das typische Beiwort ‚weißarmig’ oder ‚lilienarmig’. Weiße Haut ist ein Zeichen von Adel und Schönheit, der Vasenmaler wie der Heldendichter finden zwei Genres für ein vorgestelltes Merkmal hoch geschätzter Frauen.
Des Weiteren werden Götter und Göttinnen größer dargestellt als profane Sterbliche, außerdem nehmen sie nicht selten die Mitte eines Vasenbildes ein. Auch aus dem Szenario, in das der Maler seine Figuren einbindet, lassen sich gewissen Rückschlüsse auf die Identität der abgebildeten Person ziehen. Säulen und Türen kennzeichnen Tempel oder den Innenraum eines Hauses. Eine Frau mit Helm und Panzer, die sich in einem durch Säulen abgetrennten Raum hinter einem Mann befindet, der gerade mit bloßen Fäusten auf ein stierköpfiges Ungeheuer einschlägt, kann als Athene identifiziert werden, die Theseus bei der Vernichtung des Minotaurus im kretischen Labyrinth des Minos hilft.
Gerade in dieser Mythe von Theseus taucht Athene nicht namentlich auf, aber der Vasenmaler und die Betrachter und Betrachterinnen wissen, dass sie ihm immer helfend zur Seite stand. Athene ist eine Göttin, die gefällt – dem Vasenmaler wie dem Heldendichter, natürlich vor allem in Athen. Diese weibliche Gottheit hat in drei Jahrtausenden eine vielfache Wandlung erfahren, die in Mythen und auf Vasenbildern zu finden ist. Noch im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts ist sie mit anderen männlichen Göttern für die Kampfkunst der Hopliten zuständig, vereint männliche und weibliche Eigenschaften, wenn sie auch – anders als wenige Jahrhunderte zuvor - die männliche Oberherrschaft durch Vater Zeus mittlerweile anerkennt. Sie ist die jungfräuliche Zeustochter, die damit die Unbesiegbarkeit Athens symbolisiert, die gleichermaßen mit dem Sinn für das Männliche ausgestattet ist, wie sie Frauentugenden wie Kunstfertigkeit oder auch Mitleid vereint.
Während im mythischen Erzählstoff nur selten auf Athene rekurriert wird, da sie und ihre Taten allseits vertraut, ja gegenwärtig sind, hat sie häufig einen Platz auf der griechischen Keramik. Sie beinhaltet ein Prinzip von Göttlichkeit und Menschlichkeit, sie überwacht männliche wie weibliche Gesinnung ohne Präferenz gegenüber einem Geschlecht, und sie ist gleichzeitig die Hüterin der Herstellung von Gegenständen, die schöne Tätigkeiten symbolisieren.
Auf Vasen ist so die mythische Athene eine Illustration göttlichen Waltens und menschlicher Fähigkeit. Ihre Macht lässt sich vielleicht vergleichen mit dem heutigen Glauben an Talent und technischem Geschick. Für den antiken Menschen war Kunst ein unbekannter Begriff, die Sterblichen erhielten ihre Fähigkeiten von den Göttern und Göttinnen und bestätigten das Wirken dieser Gottheiten durch das richtige Verhalten, die richtigen Gegenstände und den richtigen Umgang mit ihren Fähigkeiten. Dieses Prinzip des Strebens nach dem Schönen und dem Guten drückt sich nicht nur in einer Vase aus, sondern wird wieder und wieder gepriesen, in jedem Moment, in dem eine Mythe über Athene und alle anderen Olympier erzählt wird.
Mannack, Thomas (2002): Griechische Vasenmalerei. Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Schlatter, Gerhard (1989): Mythos. Streifzüge durch Tradition und Gegenwart. München: Trickster
Vernant. Jean-Pierre (Hrsg.)(2004): Der Mensch der griechischen Antike. Essen: Magnus
Antje van Elsbergen M. A. war lange Mitarbeiterin der Völkerkundlichen Sammlung der Philipps-Universität Marburg. Sie promoviert zum Thema "Eine alternative Ausstellung zur Antike. Mythen und Vasen als Quellen ethnographischer Beobachtungen".
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008