VON SCHLANGENDRACHEN UND RANKENNAGAS

Von Susanne Rodemeier

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Kopf einer Rankennaga am Adat-Haus bei Lerabaing (Alor-Pantar Archipel, Indonesien). Foto: S. Rodemeier

In den 1920er-Jahren besuchte der Ethnologe Ernst Vatter den Alor-Pantar Archipel im Osten Indonesiens. Das Völkerkundemuseum Frankfurt hatte ihm diese Reise zu Sammlungszwecken ermöglicht. Seine Untersuchungsergebnisse hielt er in einem ethnographischen Reisebericht von 1932 fest. Vatter hatte damals den Eindruck, vor einer untergehenden Kultur zu stehen. Er befürchtete, dass die meisten lokaltypischen Besonderheiten bereits wenige Jahre nach seinem Besuch für immer verschwunden sein würden und sah sich als „Rettungsethnologe“. Er erwarb so viele Gegenstände wie möglich und notierte deren Verwendungszweck, ihre lokalsprachlichen Bezeichnungen und ihre Herkunft.

Vatters Eindruck von Kulturuntergang stand im Zusammenhang mit den Tätigkeiten calvinistischer Missionare. Sie christianisierten weite Teile des Archipels und dabei wurde alles zerstört, was in Zusammenhang mit dem tradierten Geister- und Ahnenglauben stand. Auch eine Veröffentlichung des niederländischen Missionars Van Dalen bestätigte scheinbar Vatters Einschätzung. Van Dalen leitet ein Buch über Missionserfolge mit einem Photo ein, das die erfolgreiche Vernichtung von Ahnen- und Geisterverehrung veranschaulichen soll. Es zeigt die Verbrennung von aufgeschichteten Naga-Darstellungen. Gerade Naga-Darstellungen, von Vatter als Schlangendrachen und Rankennaga bezeichnet, erschienen den ersten Missionaren im Archipel als besonders große Hindernisse auf dem Weg hin zum guten Christen. Es handelte sich um Bildnisse, denen bei vielen Gelegenheiten Opfer dargebracht wurden.

Zwar sind die meisten dieser Bildnisse inzwischen verschwunden, die Kräfte, die mit ihnen symbolisiert wurden, können manche Menschen allerdings immer noch kontaktieren. Die Kontaktaufnahme kann der Besitzer einer Naga durch ein Nahrungsopfer erreichen. Ist eine Naga ihrem Besitzer gewogen, dann schützt sie die Mitglieder seiner sozialen Gruppe und kann sie auch heilen. Aber die Kräfte einer Naga können auch für schwarze Magie genutzt werden, etwa um Feinde ihres Besitzers und deren Gruppenangehörigen durch Krankheit oder Tod zu schädigen.

Zunächst glaubte ich Vatters Einschätzung, dass Nagas verschwunden seien. Tatsächlich gibt es nur noch wenige Orte, an denen die Schnitzereien zu sehen sind. Um näheres zu erfahren, zeigte ich meinen Gesprächspartnern auf Alor Photos aus Ernst Vatters Buch, sowie von Naga-Darstellungen, die ich im Archiv des Völkerkundemuseums in Dahlem, Berlin, von Stücken gemacht hatte, die Adrian Jacobsen in den 1890er-Jahren erworben hatte. Sie führten mich schließlich doch noch zu den Holzschnitzereien in das Küstendorf Lerabaing, in die Region Kui im Südwesten der Insel Alor. Hier liegt ein Dorf mit überwiegend muslimischer Bevölkerung, deren Erbstücke zumindest teilweise die Zerstörungswut von Missionaren überdauert haben.

Lerabaing zählt zu den fünf Küstengebieten, die sich vom Großteil der Bewohner des Alor-Pantar Archipel unterscheiden, weil man hier auf eine mindestens 400 Jahre andauernde muslimische Vergangenheit zurückblickt. In den meisten anderen Dörfern leben heute Protestanten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Missionare aus den Niederlanden christianisiert wurden. Im Gegensatz zum calvinistisch geprägten Protestantismus des Archipels, ließ der Islam Raum für den Erhalt lokaler Tradition. Das zeigt sich besonders deutlich darin, dass im Dorfbild erhalten sind.

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Schwanz einer Rankennaga am Adat-Haus. Foto: S. Rodemeier

Ortsbegehung

In Lerabaing und in seinem Ritualzentrum, das wenige Kilometer im Landesinneren liegt, begegnet man immer wieder Nagas. Gebäudeverzierungen, Ausläufer von Dachgiebeln, aber auch Steine mitten auf dem Weg werden als ulenai oder - in Indonesisch - als ular-naga (Schlange-Schlangendrachen) bezeichnet. Damit sind in den meisten Fällen Holzschnitzereien gemeint, die entfernt an Schlangen oder Krokodile erinnern. Ihr Kopf hat ein offenes Maul, aus dem eine lange Zunge hängt und der Schwanz läuft in eine dünne Spitze aus. Die Besonderheit der Nagas von Lerabaing besteht darin, dass sie aus einem dicken Brett geschnitzt wurden. Vatter bezeichnete diese Art als Rankennaga, weil sie einem langen Band ähneln, das mit einem gleichbleibenden Ornament verziert ist. Nur an Kopf und Schwanz variiert die Schnitzerei.


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Adat-Haus bei Lerabaing. Foto: S. Rodemeier

Adat-Haus: Das traditionelle, sakrale Zentrum

Früher wohnten alle Nachkommen eines einzigen Urelternpaares in einem Dorf. Das Dorf, das ich besuchen konnte, liegt auf der Kuppe eines Hügels. An seiner Grenze befindet sich in der Mitte des einzigen Zugangsweges ein ovaler Stein, der etwa 30 cm aus dem Boden ragt. Bei diesem Stein soll es sich um den Kopf Naga handeln. Ein ähnlicher Stein befindet sich am Dorfausgang, ebenfalls mitten auf dem Weg. Dabei handelt es sich um den Schwanz des gleichen „Tieres“. Aufgabe dieser „Naga“ ist, das Dorf und seine Bewohner vor widrigen Einflüssen zu schützen. Man geht davon aus, dass ihre Magie jeden töten wird, der versuchen sollte, sich mit böser Absicht zu nähern.

Innerhalb des von einer Naga gesicherten Territoriums befanden sich früher mehrere Häuser für die Mitglieder eines einzigen Clans. Inzwischen sind diese Dörfer weitgehend verlassen und die Bewohner sind an die Küste umgezogen. In dem Dorf, das ich besuchte, steht heute nur noch ein Wohnhaus. Hier lebt ein Ehepaar, das die Aufgabe hat, die Erbstücke seines Clans und das Adat-Haus, in dem sie aufbewahrt werden, zu bewachen. Es handelt sich um das materielle und das ideelle Erbe der Lokalgruppe.

Das Adat-Haus steht auf vier etwa zwei Meter hohen Pfosten. Es besteht aus nur einem Raum, dessen Bodenbalken mit Rankennagas verziert sind. Auch das Dach ist mit Nagas geschmückt. Heute ist es mit Wellblech, früher war es angeblich mit Hühnerfedern gedeckt. Die Ornamentik, mit der die Nagas verziert sind, gilt als Besitz der an diesem Ort lebenden sozialen Gruppe. An die Urahnen, die das Adat-Haus erbaut haben, erinnert ein flacher (weiblicher) und ein senkrecht (männlicher) aufgestellter Stein, die zwischen den vier Hauspfosten in den Boden „gepflanzt“ wurden.


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Kopf einer Rankennaga am Adat-Haus bei Lerabaing. Foto: S. Rodemeier

Nur wenige Meter von dem Adat-Haus entfernt, liegt ein eingezäunter Haufen Steine. Diese Steine gelten als das eigentliche sakrale Zentrum des Dorfes und aller, die aus diesem Dorf stammen. In vor-monotheistischer Zeit stand neben diesen Steinen auf einem Pfosten eine Naga. Offenbar waren den Missionaren die Steine nicht aufgefallen. Die Nagabildnisse wurden zerstört, aber die Steine blieben liegen. Nur von ihnen kann Hilfe aber auch Gefahr ausgehen. Nach wie vor – und zwar in muslimischen ebenso wie in christlichen Gebieten – geht man zu diesen Steinen, legt dort ein Opfer nieder und bittet die nun nicht mehr sichtbare Naga um Hilfe. Bei der Zerstörung der Holznagas übersahen die Missionare, dass deren Geist an die Steine gebunden ist, und nicht an den Holzkörper. Die Steine sind der eigentliche, dauerhaft sakrale Ort.


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Moschee von Lerabaing. Foto: S. Rodemeier

Moschee: Das monotheistische rituelle Zentrum
An der Küste von Lerabaing steht eine Moschee, deren Erbauung von der lokalen Bevölkerung auf die Zeit der Islamisierung vor über 400 Jahren datiert wird. Sie weist deutliche Ähnlichkeit mit dem Adat-Haus im Landesinneren auf. Auf der Dachspitze befinden sich in beiden Fällen stilisierte Darstellungen einer Naga. Auf dem Dach des Adat-Hauses setzt sie sich auch dort fort, wo die Dachflächen aufeinander treffen. Auf dem Moscheegebäude ist diese Dekoration vereinfacht. Nur die vier Ausläufer des gleichseitigen Daches wurden mit stilisierten Nagas verziert. Auf allen vier Seiten sind die Schnitzereien unterschiedlich. Das jeweilige Ornament verweist auf den Clan, der es besitzt.


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Stilisierte Naga am Dachausläufer der Moschee. Foto: S. Rodemeier

Eine Variation eines jeden Ornaments findet sich an den vier Schwellen, die jeder Moscheebesucher auf seinem Weg zur Eingangstür überschreitet. Die Schwellen entsprechen den Rankennagas des Adat-Hauses, über die der Dorfwächter steigen muss, wenn er ins Hausinnere geht, um Erbstücke herauszuholen. Diese benötigt man, wenn ein Ritual durchgeführt werden soll, während dessen Kontakt zu den Ahnen aufgenommen werden muss.

Im Moscheegebäude von Lerabaing sind Islam und lokales Brauchtum vereint. Wie an einem Adat-Haus werden die Ornamente von Clans auch an der Moschee angebracht. Allerdings trifft man an der Moschee auf die Ornamente mehrerer Clans der Region; an einem Adat-Haus gibt es nur das Ornament eines einzigen Clans. Der Wechsel von einem Ornament hin zu mehreren macht deutlich, dass die Gesellschaft durch die Islamisierung neu geordnet wurde. Hatten Clans früher in einiger Entfernung zueinander gewohnt, und jeder für sich ein eigenes sakrales Zentrum besessen, teilen sie sich seit der Islamisierung ein gemeinsames sakrales Gebäude, die Moschee.

Die Gemeinsamkeiten zwischen Adat-Haus und Moschee gehen sogar noch weiter. In der Nähe der Moschee steht ein Grabmal mit einer männlichen und einer weiblichen Figur aus Stein. Es soll sich dabei um das Grab des Gründerpaares der Moschee handeln. Beim Adat-Haus liegen stattdessen im Schutz des Hausdaches „Ahnensteine“ ( batu leluhur ). Auch sie erinnern an die Erbauer des Hauses, die Urahnen des zu diesem Haus gehörenden Clans. Steine und Nagas, ob figürlich dargestellt oder ohne Bildnis vorhanden, sind ein klarer Ausdruck lokaler Tradition, deren Bedeutung und Herstellung über Generationen weitervererbt wird. Es handelt sich dabei um Ressourcen des lokalen Wissens, die von den monotheistischen Religionen zwar ins Abseits gedrängt wurden, aber bisher nicht völlig verschwunden sind. Zweifellos wird dies aber im Rahmen von Modernisierungsentwicklungen sukzessive der Fall sein, wie es ja durch das Verschwinden der Bildnisse bereits stattgefunden hat. Damit ist dann nicht nur das materielle Kulturerbe unwiederbringlich verschwunden, sondern auch die Grundlage, die bisher auf der Basis lokaler Tradition immer wieder eine Anpassung an neue Herausforderungen ermöglicht hat.

Weiterführende Literatur

Barnes, Ruth (2004): Ostindonesien im 20. Jahrhundert. Auf den Spuren der Sammlung Ernst Vatter. Frankfurt/Main: Museum der Weltkulturen
Dalen, A.A. van (o.J. – ca. 1928): Uit de Duisternis tot het Licht. Amsterdam: H.J. Spruyt's Uitgevers-Mij
Jacobsen, J. Adrian (1896): Reise in die Inselwelt des Banda-Meeres. (Bearb. von Paul Roland) Berlin
Rodemeier, Susanne (1993): Lego-lego-Plätze und naga-Darstellungen. Jenseitige Kräfte im Zentrum einer Quellenstudie über die ostindonesische Insel Alor. (M.A. thesis: - online seit 2007)
Rodemeier, Susanne (2007): Tutu Kadirè in Pandai – Munaseli. Erzählen und Erinnern auf der vergessenen Insel Pantar (Ostindonesien). Passauer Beiträge zur Südostasienkunde Bd. 12. Münster: Lit. Dissertation
Rodemeier, Susanne (im Druck): Monotheistic Variety within Mythical Unity. In: Susanne Schröter (ed.): Christianity in Indonesia. Perspectives of Power
Vatter, Ernst (1932): Ata Kiwan. Unbekannte Bergvölker im Tropischen Holland. Ein Reisebericht von Ernst Vatter. Leipzig: Bibliographisches Institut
Vatter, Ernst (1934): Der Schlangendrache auf Alor und verwandte Darstellungen in Indonesien, Asien und Europa. Jahrbuch für Prähistorische und Ethnographische Kunst IPEK 9. S. 119-148

Zur Autorin

Dr. Susanne Rodemeier, Ethnologin, Forschungen über Mythen auf der indonesischen Insel Pandar und über den Wandel des Geschlechterverhältnis in den Brautpreisgesellschaften des Alor-Pantar Archipels. Seit 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Insulare Südostasienkunde der Universität Passau.

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Alor, Indonesien. Karte: E. S. Schnürer. Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main






Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008