Von Ulrike Krasberg
Einer der positiven Aspekte der Globalisierung ist das Konzept vom Weltkulturerbe und die damit verbundenen Aktivitäten. Zwar wird von den nicht-westlichen Ländern mitunter kritisch angemerkt, dass das Welterbeprojekt wieder eine der weltumspannenden Initiativen ist, die aus westlicher Sicht heraus entwickelt worden sind. Aber zumindest wird durch die Festschreibung außereuropäischer Kulturgüter in den Listen des Welterbes anerkannt, dass auch Generationen von Menschen in Ländern, denen vor nicht allzu langer Zeit von den Europäern jegliche Zivilisation abgeschrieben wurde, kulturelle Spitzenleistungen hervorgebracht haben.
Zur Entstehung der Weltkulturerbe-Idee in Europa
Der Eindruck der durch den Zweiten Weltkrieg zerstörten Baudenkmäler Europas führte 1954 zur Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten. Dieser völkerrechtliche Vertrag basierte auf der Idee „… dass jede Schädigung von Kulturgut, gleichgültig welchem Volke es gehört, eine Schädigung des kulturellen Erbes der ganzen Menschheit bedeutet, weil jedes Volk seinen Beitrag zur Kultur der Welt leistet …“ Am 8. März 1960 gaben die durch den Bau des Assuan-Staudammes vom Nil bedrohten Denkmäler in Nubien den Anstoß zur Schaffung der UNESCO-Konvention zum Schutz des Kulturerbes der Welt. Beide Konventionen hatten das Ziel, durch Kriege und technischen Fortschritt gefährdete Güter – Kulturdenkmäler als „Meisterwerke der menschlichen Schöpferkraft“ - für die Nachwelt zu retten. 1975 erweiterte die UNESCO diesen Schutz auch auf die Naturdenkmäler/Naturerbe und schließlich auch auf das immaterielle Kulturerbe.
Inzwischen haben 184 Staaten diese Konvention unterzeichnet, in der auch festgelegt ist, dass jeder Vertragsstaat sich verpflichtet, den Schutz und die Erhaltung des Weltkulturerbes, im jeweiligen Hoheitsgebiet mit allen seinen Möglichkeiten zu gewährleisten, gegebenenfalls mit internationaler Unterstützung und Zusammenarbeit, insbesondere auf finanziellem, künstlerischem, wissenschaftlichem und technischem Gebiet.
Auch wenn Schutz und Erhaltung des Weltkulturerbes lange im Vordergrund der Aktivitäten standen, hat sich mittlerweile immer stärker der Tourismus mit der Idee des Kultur- und Naturerbes verbunden. Diese Verbindung zwischen herausragendem Kulturgut und Tourismus ist allerdings nicht neu. Schon in der Antike gab es die so genannten Weltwunder, zu denen Menschen reisten und die über viele Jahrhunderte eine ähnliche Funktion hatten wie Tourismusziele heute. Die Pflege und Erhaltung von Kulturgütern wurde schnell wirtschaftlich in Relation gesetzt zum Verdienst, den Einheimische mit dem Tourismus, das heißt mit der Vermarktung ihrer Kulturgüter erlangen konnten. Heute ist es selbstverständlich, dass Aktivitäten um das Weltkulturerbe immer auch mit der Arbeit von Tourismusverbänden in Zusammenhang stehen. In Deutschland gibt es zum Beispiel eine Dachorganisation aus UNESCO-Welterbestätten Deutschland e. V., der Deutschen UNESCO-Kommission (DUK), der Deutschen Zentrale für Tourismus (DZT), der Deutschen Stiftung Denkmalschutz (DSD), lokalen Tourismus-Organisationen und Vertretern einzelner Welterbestätten, die die touristische Vermarktung der Weltkulturerbestätten organisieren.
Antike Stätten als nationales Symbol
Es gibt heutige Welterbestätten, die Europa ideell schon lange als Stätten europäischer Zivilisation für sich vereinnahmt hat, die Akropolis zum Beispiel und andere griechische antike Stätten, aber auch die Pyramiden in Ägypten: antike Stätten, die durch europäische Archäologen entdeckt und zugänglich gemacht wurden. Während im 19. Jahrhundert in Ägypten noch pharaonische Grabbeigaben entwendet und an Reisende verkauft wurden, entwickelte sich aufgrund der versiegenden Quellen schnell eine Handwerksgilde, die diese Grabbeigaben kunstfertig und massenhaft kopierte und die ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf dieser kopierten Grabbeigaben an Reisende und später Touristen sichern konnte. Bis heute sind diese antiken Stätten ein gleich bleibender touristischer Anziehungspunkt und damit eine wichtige Einkommensquelle.
Die antiken Stätten Griechenland und Ägyptens sind aber zugleich auch ein nationales Symbol. Die Pyramiden in Ägypten und die Tempelsäulen in Griechenland stehen für die offizielle nationale Identität nach außen. Beide Länder besitzen aber noch eine andere Identität. In Ägypten ist sie geprägt durch muslimisch-arabische Lebenszusammenhänge, in Griechenland sah (und sieht) man sich auch mit der byzantinisch/romäischen Lebensweise des Ostens - des Orients - verbunden und nicht nur mit dem europäischen Abendland. Diese Identitäten spiegeln sich in der Kunst, in der Musik (Mikis Theodorakis zum Beispiel) oder in der Literatur (Nagib Machfus) wieder.
Aber in längst nicht allen Ländern der Welt hat sich eine nationale Identität herausgebildet. Viele Staaten, die auf dem europäischen Reißbrett gegründet wurden, bestehen bis heute aus einer Vielzahl ethnischer Gruppen und bemühen sich oft vergebens eine Einheit zu werden. Diese Einheit kann sich entwickeln und parallel entstehen in einem Prozess, in dem ein Kulturgut - sei es materiell oder immateriell – zum „Logo“ eines Staates wird. Der Anstoß dazu kann durchaus auch von außen kommen. Gerade der Tourismus verbindet mit bestimmten Reiseländern charakteristische Besonderheiten, so genannte „Alleinstellungsmerkmale“ in der Sprache der Werbung, die eine Reise dorthin zu lohnen verspricht. Diese kulturellen oder natürlichen Besonderheiten werden oft genug aus den kulturellen Gütern einzelner Ethnien zusammengemischt und können auf lange Sicht ein nationales Symbol werden, das die Identität eines Staates nach innen und außen symbolisiert.
Die Erfindung nationaler Symbole und Welterbe
Kulturelle Traditionen, die als uralt, als schon immer da gewesen angesehen werden und somit „natürlicherweise“ als Identitätsstiftendes Symbol eines Nationalstaates (oder einer Region) betrachtet werden, können tatsächlich auch erfunden worden sein. So wurde zum Beispiel der Kilt – heute das schottische Nationalsymbol - im 18. Jahrhundert von einem Engländer (!) „erfunden“. Oder das für Georgien so typische Bankett mit seinem Tischmeister: Bei höchsten staatlichen Veranstaltungen ist es heute genauso beliebt wie im engeren Familienkreis. Essen und Trinken werden vom Tischmeister zeremoniell eingebunden in verschiedenste Toasts – auf das Vaterland, die Verstorbenen, auf die Freundschaft, auf die besonderen Anlässe der Zusammenkunft und so weiter und nach jedem Toast wird das Glas geleert. Auch dieser scheinbar so uralte Brauch des ritualisierten Speisens wurde erst im 18. Jahrhundert „erfunden“ und eingeführt und stammt keineswegs aus grauer Urzeit. Solche „Traditionen“ sind aber keineswegs aus dem Nichts entstanden. Um von einer lokalen Gruppe oder einer sich herausbildenden Nation als typisch oder charakteristisch anerkannt zu werden, müssen diese „Traditionen“ schon so etwas wie „Zeitgeist“ oder die allgemeine Befindlichkeit in einer bestimmten Epoche und Lebenssituation ausdrücken. Der Kilt oder das georgische Bankett haben sich als nationales Symbol aus der Mitte der Gesellschaft heraus entwickelt.
Eine ähnliche Funktion kann auch ein kulturelles Gut oder ein Ort in der Natur haben, wenn es auf die Welterbeliste gesetzt wird. Schon der Prozess bis hin zu dem Moment, in dem das Welterbegut tatsächlich in die Liste aufgenommen wird, kann einen solchen nationalen Bewusstwerdungsprozess auslösen oder darstellen. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser Prozess „top-down“ - also auf staatlicher Ebene - initiiert und durchgeführt wird oder aus der Mitte der Gesellschaft heraus entwickelt wird. Der Antrag, ein bestimmtes kulturelles Gut auf die Welterbeliste zu setzen, bringt immer auch Diskussionen in Gang über die nationale Identität im Gegenüber der anderen Nationen. Am Ende wird der Staat - zumindest für ausländische Besucher, die als Touristen Geld ins Land bringen – mit diesem Welterbe identifiziert und das wirkt zurück auf die Bewohner des Landes.
Kulturelle Traditionen erfahren in einem solchen Prozess besondere Aufmerksamkeit und gewinnen an Bedeutung. Allein das kann sie schon vor der Zerstörung/dem Vergessen bewahren. Allerdings verändern sie sich auf dem Weg zum nationalen Symbol oft drastisch. Meist bleibt nur die Alternative: Vergessen werden oder in veränderter Form weiter bestehen. Wobei die veränderte Form auch diejenigen auf den Plan rufen kann, die die ursprüngliche Funktion noch in Erinnerung haben und diese für die Nachwelt konservieren.
Nicht jedes vorgeschlagene Kulturgut schafft es auf die Welterbeliste und die meisten Kulturgüter auf dieser Liste stehen in Europa und Nordamerika. Aber die Idee, dass überall auf der Welt besonders beschützenswerte Kultur- und Naturgüter zu finden sind, die insgesamt das Erbe der Menschheit sind und jedes Land dazu aufgerufen ist diese Schätze zu bewahren, ist dazu angetan das Wir auf positive Weise in der unvermeidlich voranschreitenden Globalisierung hervor zu heben.
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Hobsbawm, Eric; Terence Ranger (eds.) (1983): The Invention of Tradition. Cambridge: Cambridge University Press
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Dr. Ulrike Krasberg, Ethnologin, Privatdozentin am Institut für Vergleichende Kulturforschung, Universität Marburg. Feldforschungen in Griechenland und Marokko.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008