Von Heiko Grünwedel
Die schamanische Landkarte wird gegenwärtig neu gezeichnet. Während bislang intensiv diskutiert wurde, ob es so etwas wie ein weltweites Phänomen des Schamanismus überhaupt gibt, oder ob es Sinn macht, die kulturell so ausdifferenzierten Erscheinungen, die damit meist in Verbindung gebracht werden, unter einem Oberbegriff zusammen zu fassen, haben Schamanen aus verschiedensten Erdteilen diese Fragestellung längst ins Archiv der Forschungsgeschichte geschickt. Auch die Auseinandersetzung darüber, ob eine traditionelle – womöglich indigene – Form des Schamanismus von einem westeuropäisch anmutenden Neoschamanismus zu unterscheiden sei, wurde durch die Dynamik zeitgenössischer globaler Vernetzungen überholt. Schamanen überschreiten Grenzen, und mit Ihnen ihre Rituale. Schamanen aus der südsibirischen Republik Tyva stellen sich dem Abenteuer der Reise – in spirituelle Welten und in Welten jenseits der Sowjetnachfolgestaaten. Schamanen aus der Schweiz wiederum begeben sich auf die Suche nach ihren Wurzeln und durchstreifen den sibirischen Kosmos. Wanderbewegungen und Austauschprozesse haben die statischen Fragen der Ethnologie kräftig durchgerüttelt, rufen nach neuen Perspektiven, die den Entwicklungsdynamiken des heute zu beobachtenden Ritualtransfers angemessener begegnen. Dabei verrät ein Blick auf die hinter diesen Vorgängen des kulturellen Austausches stehenden Biografien, dass es sich um wahrhaft dramatische Übersetzungsbewegungen handelt. Im Falle Tyvas kann man das Spiel in zwei Akten wunderbar in den Lebensentwürfen von Jurij und Peter (alle hier erwähnten Namen sind anonymisiert) nachvollziehen:
Jurij war Schauspieler am Nationaltheater in Kyzyl, der Hauptstadt der südsibirischen Republik Tyva. Er war Schauspieler und kein schlechter dazu, bekannt für seine Beherrschung des traditionellen Kehlkopfgesangs Chöömei. Eines Tages – er spielt die kleine Rolle eines Schamanen – erwacht in ihm das Interesse am Schamanismus. Da trifft es sich, dass 1992 der Zusammenbruch der Sowjetunion den Weg öffnet für die Wiedererstarkung bisher als überaltert wegdefinierter religiöser Praktiken. Jurij entdeckt seine Affinität zum autochthonen Schamanimus und wird bald Vorsitzender der mit der Unterstützung der amerikanischen Foundation for Shamanic Studies gegründeten und staatlich anerkannten schamanischen Klink Tos Deer. 1995 erteilt ihm der Dalai Lama während seines Besuch in Indien den Segen für seine Heilarbeit und nachdem er im Jahr 2000 einen Arzt aus der Ukraine kennen lernt, der für ihn ins Englische übersetzt, ist alles bereit um international auf Tournee zu gehen. 2008 kann dann ein Besucher des Rainbow Spirit Festival in Deutschland ein Seminar zu den Heilkräften des Kehlkopfgesangs besuchen – geleitet von einem Schamanen aus Tyva namens Jurij.
Peter ist promovierter Psychotherapeut in der Schweiz. Neben Fortbildungen in verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren (unter anderen mit gestalttherapeutischen und hypnotischen Ansätzen) beschäftigt er sich seit Mitte der Siebziger mit schamanischer Traumarbeit und Heilritualen. Er wird aktives Mitglied der von Michael Harner gegründeten Foundation for Shamanic Studies, gibt Seminare in der Schweiz, Deutschland und Italien. Der Kontakt der Foundation zu Schamanen in Tyva führt ihn auch auf eine Forschungsexpedition nach Sibirien. Bei einer nur passiven Beobachtung der indigenen Rituale bleibt es während dieser Reise nicht. Peter arbeitet selbst mit den tyvinischen Schamanen zusammen, seine Methoden verhelfen ihm zu Ansehen in der tyvinischen Bevölkerung. Als Peter ein zweites und drittes Mal nach Tyva zurückkehrt, wartet die Bevölkerung Erzins, eines kleinen Städtchens am Rande der Wüste Gobi bereits auf den fremden Schamanen. Man sagt, der Mann aus Europa habe besondere Kraft zu heilen.
Folgt man beiden Akten, stellen sich unweigerlich grundlegende Fragen: Wie gelangen Seminare zu den Selbstheilungskräften des tyvinischen Kehlkopfgesangs nach Deutschland? Und warum warten die Bewohner des zentralasiatischen Tyvas auf einen Schamanen aus der Schweiz? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden.
Die Bedeutung von Ritualen im gegenwärtigen Schamanismus
Ritualstudien reflektieren Prozesse des kulturellen Wandels. Dabei entpuppten sie sich gerade in der gegenwärtigen Diversifizierung der Ritualindustrie als die Schlüssel zum Verständnis von Kulturen. Oben erwähnte kulturelle Austauschprozesse zwischen autochthonen Heilungstraditionen und deren westlichen Rezeptionen, würden nur teilweise begreifbar, nähme man sie nicht unter ritualtheoretischen Gesichtspunkten in den Blick. Dabei sind die beschriebenen Kontakte grundsätzlich betrachtet keineswegs ein neuartiges Phänomen. Nach Ansicht des Autors haben sie sich unter den Bedingungen einer medial vermittelten Globalisierung jedoch zu einer neuen Qualität entwickelt. Versucht man die dabei involvierten Phänomene kultureller Grenzüberschreitung genauer zu beschreiben, so ist es zunächst notwendig abzugrenzen, was im Gefüge dieser Prozesse als ein schamanisches Ritual verstanden werden soll. In Anlehnung an Jan Snoeks polythetische Ritualdefintionen könnte ein Vorschlag so lauten:
Eine schamanische rituelle Heilung ist eine bestimmte Art des Verhaltens, die sich absetzt vom Alltagsverhalten. Ritualspezialisten und Klienten stehen in asymmetrischem Verhältnis zueinander, beide sind jedoch sowohl Vollzieher als auch Empfänger dieser Handlungen. Im Besonderen spielt die performative, über die gemeinsame Zeit des Rituals hinauswirkende choreographische Kopplung und symbolische Verschränkung der Leben von Klient und Schamane eine entscheidende Rolle. In der Mehrzahl der Fälle erfolgt eine mehr oder minder standardisierte Übergangsmarkierung situativer, örtlicher und habitueller Art, meistens folgt das Heilungsritual einem festen Kern von Basisriten. Klient und Schamane verbinden eine intentionale und symbolische Bedeutung mit dem Vollzug des Rituals, welche eingebettet ist in einen umfassenderen Deutungsrahmen von Krankheit, Gesundheit und die den Menschen umgebende Welt.
Diese "Ritualdefinition" ist insofern noch zu statisch, als sie eine Reihe von Faktoren vernachlässigt, die zunächst als Begleitphänomene des Rituals erscheinen, bei genauerer Betrachtung jedoch keine äußerlichen Attribute sondern dessen innere Kernteile darstellen. Dazu gehören auch die Anwesenheit von Forschern, Zuschauern, spirituell Suchenden und Touristen während des Ritualvollzugs – eine entscheidende Veränderung des Klientels. Zweitens die Rekonstruktion des Rituals aus historischen Quellen, womit der Ritualvollzug gemäß dieser Anleitung eine zeitliche Verschiebung beinhaltet. Schließlich die Bewegung des Ritualspezialis-ten in ihm fremde Gebiete, was man als räumlichen Ritualtransfer bezeichnen kann. Entscheidend ist nun im Falle schamanischer Heilungsriten, dass diese dynamischen Prozesse nicht fein säuberlich getrennt und unabhängig voneinander ablaufen, sondern gerade in ihrer Verschränkung eine unerwartete Effektivität des Rituals verzeichnen. Und so wird auch deutlich, dass ohne eine Betrachtung der Dynamik gegenwärtiger schamanischer Rituale das Ritual selbst nicht mehr verstanden werden kann.
Rituale auf Wanderschaft: Wie schamanische Praktiken Grenzen überschreiten
Geht man noch eine Ebene tiefer und fragt, was geschieht, wenn ein Ritual in einen neuen Kontext verschoben wird, so begegnen uns Begriffe wie Kopie, Aneignung, Mimesis oder Neuschöpfung. Im Hintergrund steht dabei die Frage, auf welchen Wegen oder über welche Medien ein Ritual aus der einen Kultur in die andere hinein gelangt – wobei hier einzuräumen ist, dass eine derartige Unterscheidung von Kulturen nur eine vorübergehende Behelfskonstruktion darstellen kann, die um eine Perspektive auf die mehrfach gebrochenen Grenzlinien zwischen den Kulturen erweitert werden müsste. Auf dem Wege der Wanderschaft von Ritualen entdeckte ich im Zusammenhang mit dem tyvinischen Schamanismus folgende Medien:
Materiale Ritualgegenstände in Form schamanischer Attribute wie Schamanentrommeln, Materialisierte Hilfsgeister und Kraftgegenstände, Libationslöffel, Räucherschalen, etc.
Performative Ritualkunst, also Schamanenlieder und -tänze, im Besonderen der tyvinische Kehlkopfgesang Chöömei, Modelle der Ritualdeutung, die sich in Begriffen, Diskursen und Narrativen kristallisieren, und schließlich Zeige- und Deutemedien von Ritualen wie Videoaufnahmen, Fotoalben und Webgallerien von Reisen, Tagebücher und Internetblogs.
Diese Medien des Kulturkontaktes bilden Anschlussstellen, an denen Neuinterpretationen stattfinden. Sie repräsentieren Überlappungen, Orte, an denen kontinuierlich Aushandlungen von Bedeutungen geschehen. Sie sind weniger statisch und determinert, als vielmehr Kommunikationskanäle, die geprägt sind von kreativen Prozesse der gegenseitigen Durchdringung. Deutlich machen will ich dies an den in Punkt drei genannten Modellen der Ritualdeutung: Tyvinische Schamanen greifen zur Beschreibung ihrer heilerischen Tätigkeit, nicht nur auf traditionelle, etymologisch im Tyvinischen verwurzelte Fachbegriffe zurück, sondern auch auf Beschreibungen die dem europäisch-esoterischen Diskurs entliehen sind.
Rituelles Handeln allgemein, der Rahmen des Rituals, Handlungen des Heilens und rituelle Spezialisten werden so zum einen auf Tyvinisch beschrieben, zum anderen in Bildern der Esoterik gefasst – die dann meist auf Russisch in die Deutungsnarrative einwandern (Russisch wird in Tyva als Zweitsprache von grossen Teilen der Bevölkerung verstanden). Nicht eine strenge Trennung ist dabei zu beobachten, sondern ein Gebrach der durch wechselseitige Duchdringung und Auslegung gekennzeichnet ist. Als Beispiele derartiger esoterischer Beg-riffe können dazu Chakren, Auren, Aufladen und Fluchlösen, Bewusstseinszustände, Hexer, Heiler, Zauberer und spirituelle Entwicklung genannt werden. Interessanterweise bleibt es aber nicht bei diesen Transformationsprozessen autochthonen Sprachgebrauchs in der genannten Weise. Vielmehr findet eine Gegenbewegung in umgekehrter Richtung statt: Tyvinische Begriffe schamanischer Weltdeutung wandern in die westeuropäische schamanische Szene ein. Dort werden sie dann abgelöst von ihrem Ausgangsinhalt integriert und relativ problemlos mit neuer Bedeutung gefüllt, wie zum Beispiel Arzhan , die tyvinische Bezeichung für eine Heilquelle, die zum "schamanischen Lehrer wird", oder Erlik , der Herrscher der Geister der Unterwelt, der zum "Großen Geist der Vergangenheit" mutiert.
Schamanische Authentizität im Fremden
Die Wege, auf denen Rituale wandern, werden folglich – wenn auch asymmetrisch – in zwei Richtungen beschritten. Doch nicht aneinander vorbei oder gegeneinander, sondern in eben dieser Doppelbewegung bestärken sie sich wechselseitig. Die Person des Schamanen erscheint dabei – das zeigen Selbstdarstellungen in Websites tyvinischer und westeuropäischer Schamanen – immer stärker als Vermittler zwischen den Kulturen. Schamanen kennzeichnen sich selbst als kompetent in interkulturellen Herausforderungen. Referenzen auf die Ursprungshaftigkeit und Archaizität der schamanischen Praktiken treffen auf Verweise zum Anderen Ort, zum Nicht-Hier, zur Erfahrung in fremden Welten. Identität, Authentizität und Autorität von Schamanen werden so einerseits hergestellt in der Treue zur Tradition und gleichzeitig durch wechselseitigen Fremdbezug. Dabei sind die nachgezeichneten Überlappungen und wechselseitigen Bezugnahmen, so frappierend sie erscheinen mögen, per se kein Phänomen allein der Gegenwart. Interessant und höchstwahrscheinlich spezifisch für die zeit-genössische Situation ist allerdings die Parallelität der Strategien des expliziten Fremdbezugs als Begründung schamanischer Authentizität. Dass dies Konflikt- und Diskussionspotential in sich birgt, versteht sich von selbst. Dennoch wäre meiner Ansicht nach die Wiederbelebung schamanischer Traditionen in der Republik Tyva nach dem Fall der Sowjetunion ohne Begegnungen mit der amerikanischen Foundation for Shamanic Studies, einem damit verbundenen gemeinsamen Ritualvollzug und der Antwort in Form einer Reise tyvinischer Schamanen in die Schweiz so nicht denkbar gewesen. Es wäre daher kurzschlüssig, in diesen neuen Formen schamanischer Identitäten nur ein Abweichen von der Tradition zu sehen, indem man eine vor dem Kulturkontakt lokalisierte Reinheitsvorstellung von unberührtem Schamanismus einfordert. Kulturelle Verständigungen und Verlagerungen von Ritualen haben dagegen im-mer stattgefunden, die Verschiebung durch die Zeit stand in kontinuierlicher Auseinandersetzung und Anregung mit derjenigen durch den Raum. Heute nimmt dieser Austausch nur neue überraschende Formen an. Schamanen treten in diese Bereiche des Dazwischen. Und ihre Lebensentwürfe werden so dramatisch wie eingangs gezeigt.
Weiterführende Literatur
Lindquist, Galina (2006): The Quest for the Authentic Shaman. Multiple Meanings of Shamanism on a Siberian Journey. Uppsala
Znamenski, Andrei A. (2007): The Beauty of the Primitive. Shamanism and the Western Imagination. Oxford
Levin, Theodore; Valentina Süzükei (2006): Where Rivers and Mountains Sing. Sound, Music and Nomadism in Tyva and Beyon. Bloomington
Hutton, Ronald (2001): Shamans. Siberian Spirituality and the Western Imagination. London
Zum Autor
Heiko Grünwedel ist Doktorand am Institut für Religionswissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg. Stipendiat des DFG Graduiertenkollegs‚ "Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz". Im Jahr 2007 mit Unterstützung des DAAD fünfmonatige Feldstudie in Tyva.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008