Von Martin Ramstedt
Es ist beinahe hundert Jahre alt, das romantische Bild von Bali als dem letzten Südseeparadies und seiner friedlichen Bevölkerung, die sich in aufwändigen, farbenprächtigen Ritualen ganz seinen Göttern hingebenden. Dieses Bild bewegt noch immer viele Menschen aus aller Welt, ihren Urlaub oder sogar regelmäßig eine bestimmte Zeit im Jahr in Bali zu verbringen. Für viele Urlauber bleibt die touristische Bali-Romantik auch bei ihrem Aufenthalt ungebrochen. Sie erleben die Tatsache, dass sich die balinesische Gesellschaft seit den letzten drei Jahrzehnten von einer agrarischen zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickelt hat, als angenehmen Komfort, und nicht als Entfremdung der Balinesen von ihren Wurzeln.
Ihnen fallen weniger die übergewichtiger Jugendlichen und Erwachsenen der neuen Mittelklasse und Oberschicht auf. Auf ihren Ausflügen oder direkt an ihrem Ferienort interessieren sie eher die Balinesen, die in festlicher traditioneller Kleidung zu einheimischen Zeremonien eilen oder daran teilnehmen. Auch können sie die ethnische Zugehörigkeit ihres Hotelpersonals, ihrer Taxifahrer, Busfahrer oder der Bauarbeiter am Wegesrand nicht unterscheiden. Es entgeht ihnen daher, dass viele Stubenmädchen, Pagen, Chauffeurs und ungelernte Arbeiter aus Java, Lombok, Flores oder sogar Timor kommen, und eben nicht aus Bali. Ebenso wenig sind sich die allermeisten Gäste bewusst, dass die Management-Positionen in den großen internationalen Hotels, guten Restaurants oder Banken meist von Ausländern, Javanern, Sumatraern oder ethnischen Chinesen besetzt sind. Unter vielen Balinesen hat sich inzwischen das Gefühl breit gemacht, beruflich ins Hintertreffen gelangt zu sein. Aber davon bekommen die Gäste nichts zu spüren. Zudem sind nur sehr wenige Fünf-Sterne-Hotels wirklich in balinesischer Hand. Und auch an dem seit kurzem boomenden Immobilienmarkt haben Nicht-Balinesen hohe Anteile.
Diese wirtschaftlichen Entwicklungen haben unter Balinesen ein erkennbares Maß an „Fremdenfeindlichkeit“ hervorgerufen, wobei auch „Wirtschaftsmigranten“ aus Java, Sumatra, Lombok, Flores oder Westtimor als „Fremde“ angesehen werden. Gelegentliche Übergriffe auf diese Fremden, wie auch die wachsende Kriminalität werden aus wirtschaftlichen Gründen von der einheimischen Presse totgeschwiegen. Anstelle dessen singt man allerorten das fröhliche Lied vom friedlichen Bali.
Erfolgreiche balinesische Geschäftsleute findet man vor allem im Kunst- und Kunsthandwerksmarkt, im Individualtourismusgeschäft sowie in der Agrarindustrie. Seit dem Rücklauf des konventionellen Massentourismus, der durch die zwei Bombenanschläge von 2002 und 2005 sowie die SARS-Epidemie ausgelöst wurde, sind überall freistehende, mit Grünanlagen umgebene Villen aus dem Boden geschossen. Diese Villen erleben in den letzten Jahren eine hohe Nachfrage unter indonesischen wie ausländischen Touristen, besonders aus Ostasien, Australien und Malaysia. Ein Großteil dieser Villen wird zwar von Balinesen gebaut und vermietet, doch immer mehr Balinesen verkaufen ihre Immobilien samt Grund oder ihr Ackerland an Zugereiste oder Ausländer.
Nicht wenige fühlen sich zu diesem Schritt gezwungen, weil sie die hohen Kosten für wichtige Lebenszyklusriten wie Zahnfeilung, Hochzeit oder Verbrennung nicht aufbringen können. Und hier stimmt das Klischee von Bali wieder. Der Aufwand, den Balinesen bei ihren Ritualen auch heute noch treiben, hat keinesfalls abgenommen. Ganz im Gegenteil: nach offiziellen Untersuchungen haben sich zwischen 1993 und 2001 die Kosten für Rituale pro Haushalt versechsfacht!
Zur heutigen Ritualökonomie und ihren Problemen
Die hohe wirtschaftliche Bedeutung des balinesischen Ritualsystems geht aus einer Studie von I Made Sukarsa, Professor für Wirtschaft an der Warmadewa-Universität in der balinesischen Hauptstadt Denpasar, hervor. Dieser Studie zufolge wurden im Jahre 2004 pro Haushalt durchschnittlich 10,53% des Familieneinkommens für die verschiedenen hindu-balinesischen Kalenderfeste aufgewendet. Teil dieser Kalenderfeste sind die zu nationalen Feiertagen avancierten balinesischen Festtage wie Nyepi (Neujahr), Saraswati-Tag oder die zwei Festtage Galungan und Kuningan, die Anfang und Ende einer zehntägigen Festperiode markieren. Daneben zählen aber auch die so genannten Tempelgeburtstage, bei denen die Gründerahnen einer Tempelgemeinschaft mit besonderen Opferhandlungen geehrt werden, zu den regelmäßig wiederkehrenden Kalenderfesten.
Ein noch heute das religiöse Leben der Balinesen bestimmende klassisch balinesische Kalendersystem ist sehr komplex und unserem modernen rationalistischen Zeitverständnis diametral entgegengesetzt. Es besteht eigentlich aus zwei verschiedenen, parallel zueinander verwendeten Kalendern: einem kombinierten Sonnen- und Mondkalender und einem Permutationskalender. Der kombinierte Sonnen- und Mondkalender bestimmt die Festlegung einiger der oben genannten Festtage, sowie die mit dem traditionellen Reisanbau verbundenen rituellen Handlungen. In den drei konservativen ostbalinesischen Bezirken Klungkung, Karangasem und Bangli ist der traditionelle Reisanbau samt seiner begleitenden Rituale noch heute weit verbreitet. Aber auch in Bezirken, wo die grüne Revolution seit Jahrzehnten das agrarische Wirtschaften wesentlich bestimmt, vor allem im südostbalinesischen Tabanan, werden Ackerbaurituale weiterhin durchgeführt.
Der Permutationskalender umfasst zehn verschieden lange, aber parallel zueinander verlaufende Zyklen von Tagen. Zu bestimmten Tagen kommt es zu bestimmten Verbindungen oder Konjunktionen der verschiedenen Zyklen, die nach der balinesischen Astrologie die unterschiedlichen Qualitäten der einzelnen Tage noch verstärken. Bestimmte Tage gelten daher als für gewisse Tätigkeiten oder Unternehmungen - wie zum Beispiel Fischen, Hausbauen, Heiraten, Bestatten, Autokauf, Geldanlage oder Geschäftsgründung - förderlich oder nicht förderlich. In jedem balinesischen Haushalt sowie in Banken und Hotels finden sich moderne Ausgaben des klassischen balinesischen Kalenders, um vom tradierten Wissen über diese Konjunktionen zu profitieren. Bedeutsam auch für das moderne Geschäftsleben ist, dass rituell bedeutsame Konjunktionen häufig mitten in der Arbeitswoche stattfinden.
Die Konjunktionen des Permutationskalenders bestimmen auch die Festlegung der Lebenszyklusriten der einzelnen Familienmitglieder. Manche dieser Riten, vor allem Zahnfeilung, Hochzeit und Verbrennung, aber auch die Priesterweihe, sind mit sehr hohen Kosten verbunden, was besonders für die Verbrennungszeremonie gilt.
Prof. Sukarsas Studie zufolge werden auf die Vorbereitung und Durchführung einer Verbrennungszeremonie durchschnittlich 699 Arbeitstage verwendet, wobei 386,44 der Arbeitstage von Männern und 312,38 der Arbeitstage von Frauen bestritten werden. Dieser Arbeitsaufwand kommt dadurch zustande, dass in tagelanger intensiver Handarbeit eine Vielzahl verschiedenster Opfergaben aus Blüten, Blättern, Früchten, Bast und Geflecht hergestellt werden müssen, was im allgemeinen Aufgabe der Frau ist. Den männlichen Angehörigen und ihren Helfern obliegt es, den tierförmigen Holzsarg zu bauen und das Turmgestell aus Bambus und Holz, auf dem der Tote zum Verbrennungsplatz geleitet wird. Während der Arbeiten und am Tage der Zeremonie müssen zudem noch alle Teilnehmenden bekocht werden.
Natürlich kann eine Kleinfamilie, wie wir sie kennen, diesen Arbeitsaufwand gar nicht alleine aufbringen, geschweige denn die Kosten, die umgerechnet Tausende von Euro betragen können. Im Todesfall müssen also alle Mitglieder des Klans des Verstorbenen sowie Nachbarn und Freunde bereit sein, die Durchführung einer Verbrennungszeremonie zu ermöglichen. Eine ähnlich umfassende Mithilfe ist auch bei den drei anderen genannten Lebenszyklusriten erforderlich. Jedes Mitglied der hindu-balinesischen Gesellschaft ist folglich in ein unauflösliches Gefüge von Verpflichtungen zur Mithilfe bei den Lebenszyklusritualen von Klanmitgliedern, Nachbarn und Freunden eingebunden. Versuchen sich einzelnen dieser Verpflichtungen zu entziehen, verlieren sie die Solidarität der anderen, was einem sozialen Tod gleichkommen kann.
Im Berufsleben haben Balinesen also ein Problem, denn immer wieder müssen sie ihre normale Arbeitszeit oft für Tage unterbrechen, um ihren rituellen Verpflichtungen nachzukommen. Jederzeit kann sie unerwartet ein Anruf von einem weit entfernt wohnenden Verwandten oder Nachbarn ihres Elternhauses erreichen, der sie zur Mithilfe bei der Vorbereitung und Durchführung einer Zeremonie auffordert. Dies wiederum führt zu einem ewigen Konflikt mit nicht-balinesischen Arbeitsgebern, die deshalb lieber Nicht-Balinesen einstellen. Manche Balinesen versuchen diesem Konflikt dadurch zu entkommen, dass sie zum Christentum oder Buddhismus konvertieren. Dann werden sie aber aus ihrer Dorfgemeinschaft ausgestoßen und müssen dauerhaft „in der Fremde“ leben, wo sie ganz auf die Solidarität ihrer neuen Religionsgemeinschaft angewiesen sind. Zu diesem drastischen Schritt sind deshalb nur wenige bereit.
Trotzdem haben sich in Bali seit Ende der 1970er-Jahre neo-hinduistischen Bewegungen ausgebreitet wie der Hare Krishna- und der Satya Sai Baba-Bewegung oder der Brahma Kumaris- und der Ananda Marga-Sekte. Zwar waren nach der letzten Statistik vom Jahre 2006 noch immer 89,08% der 2.888.946 Einwohner Balis Hindus. Doch verbirgt sich hinter diesem hohen Prozentsatz eine wachsende Gespaltenheit, die nicht zuletzt durch eine innerhinduistische Ritualkritik mitbestimmt wird. Die Angehörigen dieser neo-hinduistischen Bewegungen kritisieren nämlich den traditionellen Ritualismus als Aberglauben oder zumindest als der heutigen Lebensweise unangemessen. Die meisten von ihnen ersetzen deshalb zumindest in ihrem eigenen Haushalt die traditionellen Rituale durch ein einfaches, von indischen Reformbewegungen entwickeltes Feueropfer.
Andere Balinesen haben ihren Aufwand bei der Durchführung von Ritualen mittlerweile auf ein Mindestmaß reduziert, ungeachtet der Tatsache, dass sie bei einigen Nachbarn dadurch an Ansehen verloren haben. Ein paar Dorfgemeinschaften versuchen mit Hilfe entsprechender Gemeinschaftsfonds wirtschaftlichen Zwangslagen vorzubeugen, in die einzelne Mitglieder aufgrund ritueller Unkosten geraten können. Eine Vielzahl moderner balinesischer Frauen in und außerhalb Balis lässt inzwischen das zeitaufwändige Basteln von Opfergaben zumindest teilweise von professionellen Opferherstellerinnen durchführen. Dieser neue Berufszweig exportiert inzwischen Opfergaben bis nach Java.
Insgesamt aber bleibt das traditionelle balinesische Ritualsystem ein negativer Wirtschaftsfaktor. Laut Prof. Sukarsas Studie wurden 2004 in Bali insgesamt 20.498 Tonnen Blumen und 36.173 Tonnen junge Kokosnussblätter für Opfergaben verbraucht. Ein Großteil davon musste von anderen Inseln und selbst aus Thailand eingeführt werden. Angesichts der Tatsache, dass seit 2001 eine neue Gesetzgebung das dörfliche Ritualleben zu schützen versucht, ist nicht davon auszugehen, dass sich die verschwenderische balinesische Ritualökonomie in naher Zukunft ändert. Und was den Tourismus anbelangt: Das traditionelle balinesische Ritualsystem wäre mit einem kulturgerechteren ökologischen und spirituellen Individualtourismus besser zu vereinigen, weil dieser sich auf das traditionelle sakrale Zeitverständnis der Balinesen flexibler einstellen könnte.
Weiterführende Literatur
Brinkgreve, Francine (1992): Offerings. The Ritual Art of Bali. Sanur: Image Network Indonesia
Howe, Leo (2001): Hinduism & Hierarchy in Bali. Oxford und Santa Fe: James Currey und School of American Research Press
Mershon, Katharane Edson 1971: seven plus seven - Mysterious Life Rituals in Bali, Foreword by Margaret Mead. New York et al.: Vantage Press
Ramseyer, Urs (2002): The Art and Culture of Bali. Basel: Museum der Kulturen, Schwabe & Co. AG Verlag
Stuart Fox, David J. (1982): Once a Century. Pura Besakih and the Eka Dasa Rudra Festival. Jakarta: Penerbit Sinar Harapan und Citra Indonesia
Zum Autor
Dr. Martin Ramstedt arbeitet seit über zwanzig Jahren zu Religion, Politik und Recht in Indonesien, vor allem in Bali, Java und Südsulawesi. Gegenwärtig ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max Planck Institut für ethnologische Forschung in Halle/Saale.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008