ILÉ OCHAS IN DER STADT

Wohnstätten der Götter in Havanna

Von Adelheid Pichler

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Hauseingang eines Casitas in Regla. Foto: A. Pichler

"Unbekannte Städte, Gegenden und ihre BewohnerInnen geben sich uns an Äußerlichkeiten, an Zeichen zu erkennen, die sich in ihrem Zusammenspiel 'lesen' lassen. Städte, Orte besitzen ihre internen Zeichensysteme“, schreibt Roland Barth.

Als ich 1993 das erste Mal nach Havanna kam, fiel mir die seltsame Art und Weise auf, Häuser abzuschließen. Außerdem wurde mir eingeschärft, immer alles zuzumachen. "Du musst deine Fenster in der Nacht immer gut schließen! Du sollst um 3 Uhr nachmittags nicht auf die Straße gehen, das ist gefährlich!" Nicht nur in Havanna, überall auf Kuba sind die Häuser außer mit Schloss und Riegel auch rituell mit Kräutern und Heilpflanzen an den Türen gegen unliebsame Gäste und das Eindringen von Geistern und Hexen gesichert. Pflanzlicher Abwehrzauber, mriwo (Palmgräser) zum Beispiel, oder Tafeln gegen den bösen Blick, die eine von einem Messer durchbohrte Zunge zeigen, gelten als magisches Schloss. Manchmal sind auch Eisenketten in den Türstock eingelassen oder Vorhänge in besonderen Farben aufgehängt. All das soll den Zutritt ungebetener spiritueller "Geister" verhindern.

Straßen können tagsüber zu bedrohlichen Räumen werden, auch wenn sie für mein europäisch ungeübtes Auge nichts Bedrohliches aufweisen: Aber Kanaldeckel, Pfützen, Gehsteigkanten und unbebaute Flächen voller Gestrüpp bringen den Busch und seine Geister zurück in die Stadt. In einem rituellen Liedtext, pataki genannt, schreibt die kubanische Ethnologin Lydia Cabrera (1954) über die Machenschaften der vielgestaltigen Gottheiten der Wegkreuzungen, die Elleguas . Diese afrokubanischen Gottheiten - es gibt bis zu 116 von ihnen - wohnen an jeder Straßenecke. Einer von ihnen ist Eshu . Wenn er gerade hungrig ist, mordet er, verursacht Unfälle und Tod. Es ist sein Machwerk, wenn Autos ineinander rasen, Züge entgleisen oder ein unachtsames Tierchen unter die Räder kommt. Auch Eshu Bi wartet so in einer Ecke auf Opfer. Ein Bus kommt daher. Eshu schleicht sich in die Gedanken des Busfahrers und Bumm! Krach! Er tötet. Die Elleguas attackieren dich, ohne dass du es merkst, und wenn du ihre "Stätten" ohne rituellen Schutz betrittst, geht es dir schlecht.

In dem Liedtext werden sie für Krankheiten, für plötzliche "Verrücktheit" und Desorientierung verantwortlich gemacht. Sie machen ihre Opfer ohnmächtig oder schwindelig, die dann ohne Orts- und Zeitsinn orientierungslos umherirren. Viele Schicksalsschläge, die meinen Freunden und Freundinnen in Havanna widerfahren sind, werden mit den Machenschaften der Elleguas in Verbindung gebracht.

Nicht nur die Häuser, auch der menschliche Körper muss geschützt werden. Von Kindesbeinen an werden Amulette gegen den Zauber getragen. Bunte Perlenketten, ums Handgelenk gebunden, verschließen den Körper rituell und schützen vor unerwarteten Angriffen. Die angewandten Techniken ähneln dem Abwehrzauber, wie er in vielen Regionen Afrikas verbreitet ist. Für die als SklavInnen nach Kuba verschleppten Menschen gab es gewisse Imperative, die diese Art von Schutzmagie und ihre ständige Verfeinerung erforderlich machten.

San Lazaro und seine Hündchen

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San Lazaro. Foto: A. Pichler

Teil der rituellen Stadtlandschaft Havannas sind auch die Hunde. Hunde, auch wenn sie herumstreunen, sind Familienmitglieder, „Lieblinge“, die Fremden nichts tun. Ein Hund in der Altstadt von Havanna ist etwas anderes als ein Hund in der Altstadt von Athen oder Kairo. Er gehört einer Tierart an, die in der afrokubanischen Mythologie ihren Platz hat. Hunde sind ständige Begleiter von San Lazaro (einem der Schutzpatrone der Stadt Havanna) und lecken ihm seine Wunden. Der Heilige wird als zerlumpter, kranker Krüppel dargestellt, der dem Tod näher steht als dem Leben. San Lazaro steht für Alter, Krankheit und Behinderung. Sein Festtag ist der 17. Dezember.

Im Zentrum der Stadt, unweit des Kapitols (vergleichbar mit der Wiener Kärntnerstraße) sehe ich am Fuße eines Baumes einen toten, mit Sackleinen umhüllten Hund, der auch Tage später noch dort liegt. Der Kadaver hat mit dem Baum zu tun, mit Glaubensvorstellungen und religiösen Praktiken. Relikte ritueller Handlungen sind selbst vor dem Kapitol zu finden: Opferfrüchte, Hühnerfedern, rotes Zeug, gewisse Püppchen. Diese Relikte werden von den Straßenkehrern, deren Gründlichkeit mich oft staunen ließ, nicht beseitigt. Die Besonderheit dieses Umgangs mit den Relikten ritueller Handlungen wird deutlich, wenn man Havanna mit einer europäischen Stadt vergleicht: Havanna ist reich an Relikten und arm an Abfällen, europäische Städte dagegen sind arm an Relikten und reich an Abfällen.

Wände und Mauern tragen Schriftzeichen

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Palmgräser vor der Tür. Foto: A. Pichler

Einer, der die Straße direkt mit seiner Wohnung verbindet, ist der Künstler Salvador. Seine Wohnung und die Callejon Hamel ergeben ein Gesamtkunstwerk. Die Wände und Mauern der Gasse hat er über viele Jahre gemeinsam mit den Bewohnern bemalt und gebaut. Die Bilder, die dabei entstanden sind, erzählen von afrokubanischen Mythen und Legenden. Im Unterschied zu den gewöhnlich in den Wohnungen vorhandenen Götter- und Kultobjekten aus alltäglichen, fabrikgefertigten Plastikgegenständen stellt Salvador seine Kultobjekte selbst her. Sie erinnern an „Ethno-Stil“ und „primitive Kunst“. Die Götterfiguren in den Wohnungen der Gläubigen sind meist Plastikpuppen.

Meine Freundinnen Yamina, Onixa, Sonjazzy praktizieren afrokubanische Religionstraditionen in ihren privaten Wohnungen, und sie nutzen den öffentlichen Raum für die Religionsausübung. In ihren meist sehr kleinen Privatwohnungen und Häusern errichten sie aus billiger Plastikware, oft chinesische Massenprodukte, liebevoll ausgestaltete Altäre. Dort findet sich dann ein komplexes Nebeneinander von privaten Dingen des alltäglichen Gebrauchs und Altären und Behältern, die ausschließlich sozio-religiöse Verwendung haben. Die Küchen, Badezimmer, Hinterhöfe beherbergen Wohnstätten und Altäre verschiedenster Götter.

Hier teilen sich Familien ihren Wohnraum mit spirituellen Familienmitgliedern in Form von Schutzengeln und Ahnen. Die Wohnungen selbst werden dabei zu spirituelle Zentren, in denen sie mit anderen spirituellen Persönlichkeiten, zum Beispiel den Orishas und Eguns (muertos) , zusammen leben. Die Gestaltung der Altäre wechselt im Laufe der Monate mit den Anlässen, zu denen die Altäre gebraucht werden, je nachdem, ob es sich um Beratungen mit den Ahnen, um ihre Geburtstage oder sonstige zyklisch wiederkehrende Jahresfeiertage handelt.

Ilé ochas

Die Wohnstätten der Götter in der Stadt werden ilé ochas (Häuser/Wohnstätten der Gottheiten) genannt. Verschiedene Orte in der Stadt werden aufgrund gewisser Merkmale zum Opferplatz und die Götter zu "Besitzern" dieser Regionen der Stadt. Dabei sind diese Orte gekennzeichnet durch schicksalhafte Vorgänge und Ereignisse, die sich an diesen Orten vollziehen können: So steht beispielsweise Yemayá für das Meer, wobei nicht nur die Göttin so bezeichnet wird (sie ist die, die auf das Meer einwirkt), sondern Yemayá steht für das Meer selbst " lo que hace ser mar al mar ”, also das, was das Meer Meer sein lässt, oder das, was das Meer zum Meer macht.

Ilé ochas sind aber auch Plätze und Gebäude, die sozialen und geschäftlichen Zwecken dienen, wie zum Beispiel Kirchen, Märkte, Polizeistationen oder das Krankenhaus. Das Gefängnis, die Polizeistation und das Gerichtsgebäude gehören Ochosi (eine orisha -Gottheit). Diese Institutionen repräsentieren das Gesetz, sie sind Übergangszonen für sozialen Status, Freiheit oder Gefangenschaft. Militärkasernen und Truppenplätze dagegen repräsentieren Orte des Kampfes, des Konfliktes, der Gewalt sowie Aspekte von Leben und Tod, sie werden von Oggún kontrolliert.

Spitäler sind San Lazaro geweiht. Er wird als der orisha der Kranken, der körperlich Leidenden, der Armen und Obdachlosen verehrt. Kranke legen Gelübde ab, um wieder gesund zu werden. Man sieht sie manchmal am Straßenrand um Almosen bitten, oder sie ziehen mit einem Leiterwagen in der Stadt herum. Weil es sich um Orte des Übergangs handelt, bezeichne ich diese Orte auch als "Schwellenorte" der Stadt. Die Übergänge können sich auf soziale und gesellschaftliche Funktionen beziehen, wie zum Beispiel das Gericht oder die Polizeistation, auf wirtschaftlichen Austausch, auf Zonen des Handels, wie den Marktplatz oder den Hafen, oder um Orte, die für Veränderungen im menschlichen Leben stehen, wie eben das Krankenhaus.

Viele der genannten Orte tragen Spuren ritueller Handlungen und sind mit Meidungs- und Nutzungstabus belegt. So nimmt zum Beispiel eine meiner Gesprächspartnerinnen lieber den Bus von Regla nach Havanna, da ihr Yemayá abgeraten hat, mit der Fähre zu fahren. Die Busfahrt dauert zirka eine Stunde, die Überfahrt mit der Fähre weniger als 10 Minuten. Ganz schlecht ergeht es Söhnen von Shango . Sie dürfen nicht im Meer schwimmen. So mancher "Nichtschwimmer" am Strand trägt ein rot-weißes Plastikperlenarmband, das zeigt, dass sein Schutzengel Shango ist.

Nun stehen Akteure aber nie nur in einer Beziehung zu der Ordnung, die ihnen einen Platz im Kosmos zuweist. In Havanna und auf ganz Kuba existieren verschiedene Konzepte von kultureller Identität nebeneinander. Eine davon ist die Diaspora-Identität. Ihr fühlen sich die Nachfahren der aus Afrika verschleppten Sklaven zugehörig. Anders als die Bilder einer Ausstellung wollen diese Zeichen kubanischer Identität mit afrikanischem Hintergrund in der Stadt entdeckt werden. Gäbe es einen Reiseführer, in dem sie verzeichnet stünden, wären sie nicht mehr dieselben. Wegen ihrer Ortsgebundenheit und ihrer Einbindung in den Alltag sind sie Sprache und Zeichen, symbolische Wörter und Bilder eines „Milieus“.

Weiterführende Literatur

Barth, Roland (1988): Zur Semiologie der Stadt. Frankfurt/M.: Suhrkamp
Halbwachs, Maurice (1985): Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt/M.: Suhrkamp
Pichler, Adelheid (2001): La Habana Bruja. Rituelle Geographie in der Altstadt von Havanna. Innsbrucker Geographische Studien, Band 21 (Hsg. von Axel Borsdorf, Christof Parnreiter). Wien, Innsbruck

Zur Autorin

Adelheid Pichler ist Lektorin am Wiener Ethnologie-Institut und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Kommission für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Aktuell arbeitet sie an einem Forschungsprojekt über die Altstadt von Havanna, spätsozialistische Transformationsprozesse und afrokubanische Glaubensvorstellungen in Kuba.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008