MULTIKULTI ODER LEITKULTUR?

Jero Luh warnt vor falschen Alternativen. Ein Interview mit einer balinesischen Sakralfigur

Von Volker Gottowik

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Jero Luh im Gespräch mit dem Autor. Foto: V. Gottowik

Ethnologe: Frau Luh, Sie sind eine der wichtigsten Sakralfiguren auf Bali. Was bedeuten Sie den Balinesen?
Jero Luh: Das müssen Sie die Balinesen fragen ...
Ethnologe: Sie werden aber doch wissen, warum man Sie im Süden von Bali verehrt.
Jero Luh: Nach der Bedeutung, die ich für die Balinesen habe, werde ich immer wieder gefragt. Übrigens nicht nur von Ethnologen. Touristen stellen die gleiche Frage. Allerdings gibt es einen kleinen Unterschied: Wenn mich Touristen in Sanur oder Ubud sehen, fragen sie einen Balinesen, welche Bedeutung ich habe, und sind mit der Antwort zufrieden. Die Ethnologen fragen alle Balinesen, ohne jemals zufrieden zu sein. Das ist der Unterschied! Aber das ist nicht von mir. Das steht heutzutage schon in der Zeitung ... (lacht) - Jero Luh spielt hier auf den Artikel „Close Encounters of the Anthropological Kind“ von Degung Santikarma an, der im August 1996 in „Bali Echo“ erschienen ist; die Red. .
Ethnologe: Sie lesen Zeitung?
Jero Luh: Wissen Sie, junger Mann, nur weil ich auf Bali lebe, heißt das nicht, dass ich hinter dem Mond lebe. Wenn ich dieser Tage lese, was in Ihrem Land vorgeht, wird mir ganz anders ...
Ethnologe: Wie bitte?
Jero Luh: Ich meine die Diskussion um Leitkultur und Patriotismus, die bei Ihnen gerade wieder angeschoben wird. Sie wissen, ich verkörpere ein anderes Prinzip. Haben Sie schon mal vom indonesischen Staatsmotto gehört?
Ethnologe: Auf Englisch heißt es - glaube ich - „Unity in Diversity“.
Jero Luh: Was ich verkörpere, liegt auf der gleichen Ebene; auf Bali nennt man dieses Prinzip „Tatwam Asi“, was im Englischen mit „You are as I am“ übersetzt wird.
Ethnologe: Jetzt wechseln wir aber von der Politik in die Religion.
Jero Luh: Diese Trennung von Politik und Religion, wie sie bei Ihnen im Westen vollzogen wird, habe ich nie verstanden.

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Jero Luh und ihr Mann Jero Gedé; Sanur, März 2001. Foto: V. Gottowik

Ethnologe: Aber wie können Sie behaupten, dass Sie ein Prinzip verkörpern, wenn die wenigsten Balinesen genau wissen, wer Sie sind.
Jero Luh: Jedes Kind im Süden von Bali kennt mich. Jedes Kind weiß, daß ich ursprünglich ( berasal ) aus China komme ...
Ethnologe: ... und kinderlos geblieben sind.
Jero Luh: Das tut der Verehrung meiner Person keinen Abbruch. Muss ich Ihnen als Ethnologe erklären, dass Sie den Kontext sehen müssen, in dem ich stehe?
Ethnologe: Das sagen Sie so leicht. Wenn ich die Balinesen frage, welche Bedeutung Sie für sie haben ...
Jero Luh: Junger Mann, so kommen wir nicht weiter. Um es ganz deutlich zu sagen: Mir ist es weniger wichtig, was die Leute über mich erzählen, als wie sie sich mir gegenüber verhalten. Es war, glaube ich, Malinowski, der gesagt hat „Study ritual not belief“. Daran sollten Sie sich halten.
Ethnologe: Kann es sein, daß Sie ein wenig von den Geschichten ablenken wollen, die die Balinesen über Sie erzählen, weil diese Geschichten Ihnen nicht immer zum Vorteil gereichen?
Jero Luh: Welche Geschichten meinen Sie?
Ethnologe: Es gibt Mythen und Legenden über Sie und ihren dunkelhäutigen Mann, die die Alten und Charismatischen auf Bali erzählen. Da schneiden Sie nicht immer so gut ab.
Jero Luh: Sie müssen darauf achten, wer Ihnen was erzählt. Meine Landsleute, die auf Bali lebenden Chinesen, haben andere Geschichten als die Balinesen im Süden, und die Balinesen im Norden erzählen sich wieder etwas anderes. Wem wollen Sie glauben?
Ethnologe: Es gibt Kriterien wie die Stringenz und Kohärenz einer Erzählung ...

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Prozession mit den beiden Barong-Landung-Figuren; Sanur, März 2001. Foto: V. Gottowik

Jero Luh: Vergessen Sie’s! Wenn Sie mit diesen Kategorien kommen, werden Sie nie etwas begreifen. Sie müssen es anders angehen: Es gibt zwei oder drei Versionen darüber, warum eine Chinesin wie ich einen schwarzen Mann geheiratet hat, der - zugegebenermaßen - keine Schönheit ist. Und ich mache auch keinen Hehl daraus, dass es hier Versionen gibt, die mir besser gefallen als andere.
Ethnologe: Und welche wären das?
Jero Luh: Am besten gefällt mir die Version, der zufolge ich die chinesischen Wurzeln der balinesischen Kultur repräsentiere und mein Mann die indischen Wurzeln. Ich stehe für Buddhismus, mein Mann für Hinduismus, und gemeinsam gelten wir als Garanten dafür, dass Agama Boda, wie die Balinesen sagen, und Agama Hindu zusammengehören. Sie wissen, wie man meinen Mann und mich nennt, wenn wir zusammen auftreten?
Ethnologe: Man nennt Sie Barong Landung.
Jero Luh: „Landung“ ist Balinesisch und bedeutet „hoch“; das hat damit zu tun, dass wir die schmächtigen Balinesen um gut einen Meter Körpergröße überragen. Was „Barong“ bedeutet, hat noch kein Ethnologe herausgefunden. Ich werde es ihnen jetzt sagen: Barong kommt von „bareng“, und „bareng-bareng“ bedeutet auf Balinesisch „zusammen“. Mit anderen Worten: Als Barong Landung stehen wir dafür, dass Buddhismus und Hinduismus auf Bali zusammengehören.
Ethnologe: Was Sie da sagen, ist etymologisch völlig unhaltbar. Außerdem gibt diese Version keinen vernünftigen Grund dafür, warum ihr Mann - mit Verlaub - schwärzer ist als der schwärzeste Neger.
Jero Luh: Ich sagte Ihnen bereits, mein Mann kommt aus Indien - Südindien, um genau zu sein. Haben Sie schon mal auf die Hautfarbe eines Tamilen oder Drawiden geachtet. Na bitte!
Ethnologe: Aber warum ist Ihr Mann so hässlich? Diese fliehende Stirn, diese vorstehenden Zähne. Ich mein’, er kann nichts dafür. Aber die Haare hätte er sich wenigstens ein bisschen zurechtmachen können.

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Barong-Landung-Figuren ziehen im Anschluss an den Feiertag Galungan "von Tor zu Tor"; Gianyar, April 1998. Foto: V. Gottowik

Jero Luh: Hier kommt die andere Version ins Spiel, die - wie sagten Sie vorhin? - die Alten und Charismatischen auf Bali noch kennen: Dieser zweiten Version zufolge verkörpert mein Mann einen balinesischen Herrscher, der sich unsterblich in mich verliebt hat. Damals war ich zwar auch nicht mehr die Jüngste. Aber dass ich mal eine sehr schöne Frau war, kann man - hoffe ich - heute noch sehen. Wir haben uns geliebt und in Balingkang, in der Nähe des Batur-Sees, geheiratet.
Ethnologe: Und schon gingen die Probleme los.
Jero Luh: Natürlich gab es Widerstände dagegen, dass der mächtigste Mann des Landes eine Fremde wie mich heiratet. Vor allem die Priester waren dagegen, weil ich als Buddhistin eine andere Religion habe als mein Mann. Aber mein Mann hat sich durchgesetzt, und unsere Hochzeit war die schönste, die je auf Bali gefeiert wurde.
Ethnologe: Es soll ununterbrochen geregnet haben, weil die Götter erzürnt waren.
Jero Luh: Sie sollten nicht alles glauben, was Ihnen die Leute erzählen. Seitdem wir geheiratet haben, sind Hinduismus und Buddhismus auf Bali gleichberechtigte Religionen. Ja, sie haben sich so weit angenähert, dass sie kaum noch voneinander zu unterscheiden sind. Vor vielen Jahrhunderten haben mein Mann und ich diese Entwicklung eingeleitet, und heute wird sie von niemandem mehr in Frage gestellt.
Ethnologe: Es heißt, Sie seien auch nicht die erste Frau, sondern nur die Nebenfrau ( madu ) dieses balinesischen Herrschers gewesen. Als seine erste Frau, Dewi Danu, von Ihrer Hochzeit erfuhr, soll es einen Riesenkrach gegeben haben.
Jero Luh: Ich habe Ihnen schon mal gesagt, dass Sie darauf achten müssen, wer Ihnen was erzählt. Fragen Sie die Chinesen auf Bali! Die werden Ihnen bestätigen, dass ich First Lady auf Bali war. Nur so habe ich den Balinesen etwas von meiner altehrwürdigen chinesischen Kultur beibringen können: Ich habe die Etikette bei Hofe verfeinert, Münzen und Nutzpflanzen eingeführt, den Hund auf Bali heimisch gemacht - Können sie sich das vorstellen? Damals gab es noch keine Hunde auf Bali! -, und ich habe den Balinesen gezeigt, wie man sich etwas Leckeres kocht: Bali Guling Spanferkel; die Red. oder Cap Cai Gemüseeintopf; die Red. kannte hier damals noch keiner.

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Jero Luh und Jero Gedé auf dem Weg zu einer rituellen Reinigung am Meer; Medahan/Gianyar, März 1998. Foto: V. Gottowik

Ethnologe: Und Sie wollen mir erzählen, daß Sie Ihren Mann - hässlich, wie er ist - auch geliebt haben?
Jero Luh: Als ich ihn das erste Mal sah, war ich entsetzt. Doch als ich merkte, wie sehr er mich liebt, haben wir uns arrangiert. Vor allem konnte ich ihn überreden, seine langen Eckzähne abzufeilen - was sich seither auf Bali durchgesetzt hat: Bevor die jungen Leute heiraten, feilen sie sich jetzt die Zähne ab. Wir haben diese Tradition seinerzeit begründet, und heute sind uns die Balinesen dankbar dafür.
Ethnologe: Zum Happy End fehlen eigentlich nur die Kinder.
Jero Luh: Ich gebe zu, dass unsere Kinderlosigkeit ein Problem ist. Doch die meisten erkennen an, dass ich die balinesische Kultur bereichert habe. Vor allem die Chinesen hier auf Bali sehen in mir eine Kulturbringerin par excellence . Glaubt man meinen Landsleuten, waren die Balinesen noch weitgehend unzivilisiert, als ich vor vielen hundert Jahren auf diese Insel kam.
Ethnologe: Stimmt das denn?
Jero Luh: Ich möchte mich da lieber raushalten. Doch im Grunde sind die Balinesen im Süden ja der gleichen Meinung - zumindest diejenigen, die ihre kulturellen Ursprünge nicht auf Bali sehen, sondern auf Java. Dass das Gerede von einer unzivilisierten Urbevölkerung auf Bali denjenigen nicht gefällt, die sich für die Nachkommen dieser Urbevölkerung halten, können Sie sich leicht ausmalen. Von daher erzählen sich die Bali Aga nochmal andere Geschichten über uns.
Ethnologe: Was denn zum Beispiel?

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Jero Luh und Jero Gedé besuchen eine Familie und erhalten einen würdigen Empfang; Bona/Gianyar, April 1998. Foto: V. Gottowik

Jero Luh: Die einen sagen, dass mein Mann und ich, kinderlos wie wir sind, den Balinesen als Warnung davor dienen, Chinesen zu heiraten; andere sagen, dass durch die Annäherung von Hinduismus und Buddhismus, die wir auf Bali eingeleitet haben, solchen Heiraten heute nichts mehr im Wege steht.
Ethnologe: Aber Sie müssen doch wissen, was Sie den Balinesen vermitteln wollen!
Jero Luh: Ich höre schon lange nicht mehr auf das Gerede der Leute. Entscheidend ist für mich die rituelle Verehrung, die uns entgegengebracht wird: Es gibt kaum einen Feiertag auf Bali, an dem mein Mann und ich nicht aus dem Tempel geholt und durch die Straßen geführt werden. Die Balinesen rufen sich auf diese Weise in Erinnerung, dass Chinesen wie ich seit Menschengedenken auf Bali leben und fester Bestandteil ihrer eigenen Kultur geworden sind.
Ethnologe: Dann könnten sie doch auch untereinander heiraten.
Jero Luh: Was ja auch immer wieder passiert! Doch die Balinesen müssen mich nicht lieben oder meine Nachfahren heiraten - es reicht völlig aus, dass sie sich an die multikulturellen Wurzeln ihrer Kultur erinnern und diese in der rituellen Verehrung meiner Person anerkennen. Das geschieht im Rahmen des balinesischen Ahnenkultes, dessen Bestandteil ich bin. Die Balinesen sehen in mir eine Verwandte, was mit ein Grund dafür sein dürfte, warum es auf Bali weniger Übergriffe auf ethnische Chinesen gibt als in anderen Teilen der Republik Indonesien.
Ethnologe: Womit wir wieder bei der Politik wären. Ich kann Ihnen nur sagen, dass "multkulti" bei uns keiner mehr hören kann.
Jero Luh: Das ist genau der Vorwurf, den ich den Ethnologen mache: Sie haben es versäumt, diesen Begriff zu besetzen. Ja, schlimmer noch: Sie haben ihn aufgegeben, ohne deutlich gemacht zu haben, worum es eigentlich geht: Der Begriff beschreibt nicht eine Utopie, sondern den Status quo - ob er uns nun gefällt oder nicht. Kultur steht immer im Plural - auch das rufen wir als Barong Landung jedem auf Bali in Erinnerung. Hier in Indonesien ebenso wie in einem Einwanderungsland wie Deutschland ist wechselseitige kulturelle Anerkennung angesagt, nicht aber Unterordnung unter eine Leitkultur.
Ethnologe: Vielleicht rufen Sie mal Angela Merkel an, ich meine - so von Frau zu Frau.
Jero Luh: Ich kann Sie da von einer gewissen Eigenverantwortung nicht freisprechen. Außerdem möchte ich mich nicht von außen einmischen. Schon Lévi-Strauss hat darauf hingewiesen, dass die eigene Gesellschaft die einzige ist, die man verändern kann, ohne sie zu zerstören. Sie sehen also - mir sind die Hände gebunden.
Ethnologe: Frau Luh, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zum Autor

Dr. Volker Gottowik ist Privatdozent am Institut für Historische Ethnologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er hat 1997/98 zehn Monate in Indonesien ethnographisch gearbeitet und sich 2003 mit einer umfangreichen Studie über Barong-Figuren habilitiert. Seine Habilitationsschrift wird im Sommer 2005 unter dem Titel „Die Erfindung des Barong. Mythos, Ritual und Alterität auf Bali“ im Reimer-Verlag erscheinen. Ebenfalls im Reimer-Verlag liegt von ihm vor: „Konstruktionen des Anderen. Clifford Geertz und die Krise der ethnographischen Repräsentation“ (Berlin 1997).


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008