Von Claudia Augustat
Im südlichen Venezuela, im Gebiet um den Mittel- und Oberlauf des Orinokos und seinen Zuflüssen, leben die Piaroa, eine indianische Gruppe von rund 11.000 Menschen. Es ist eine überwiegend bäuerliche Gesellschaft, bei der, bis in die 1970er-Jahre hinein, die Jagd und die spirituellen Beziehungen zu den Jagdtieren eine zentrale Rolle in ihrem alltäglichen und rituellen Leben spielten. Eines ihrer bedeutendsten Rituale ist das warime (Ende der 1960er-Jahre konnte der ungarische Ethnologe Lajos Boglár es beobachten). Mit Hilfe des Rituals warime soll die Vermehrung des Jagdwilds und damit der Fortbestand der Gemeinschaft gesichert werden. Dabei treten die Menschen in Verbindung mit Tiergeistern, die sich in Masken verkörpern.
Es wird gesagt, das Ritual warime stamme aus der Zeit der Erschaffung der Welt und die Piaroa hätten seine Existenz Wahari zu verdanken, einer zwielichtigen Gestalt aus der mythologischen Urzeit. Dieser Wahari ist zwar einer der Kulturheroen der Piaroa, doch er hat vieles, was er den Piaroa gab und womit er ihre Kultur begründete, seinem Schwiegervater Kuemoi gestohlen. Auch andere Wesen der mythischen Urzeit blieben von ihm nicht verschont: Bereits zu Beginn der Urzeit, als es noch keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier gab, besuchte Wahari die Väter aller Landtiere in ihrem Heim unter der Erde. Dort sah er ihre Zeremonien und hörte ihre wunderschöne Flötenmusik. Als er nach Hause zurückkehrte, erzählte er seiner Schwester Tschecheru von der Musik, die er gehörte hatte. Sie machte sich über ihren Bruder lustig und sagte ihm, wenn er wirklich mächtig sei, würde er diese Zeremonie, wie er sie unter der Erde gesehen hatte, auch in ihrem Heim abhalten. Doch erst viel später, gegen Ende der mythischen Zeit, hatte Wahari – verrückt geworden durch giftige Halluzinogene, die er Kuemoi gestohlen hatte – eine Vision für ein Fest: Er sah alle Bewohner des Waldes als Tiere in essbarer Form. Daraufhin fasste er einen Plan: Er bereitete ein Fest vor, zu dem er alle Bewohner des Waldes einlud. Zu diesem Fest fertigte er auch die Masken an, die später die Tiergeister verkörperten. Am Ende des Festes verwandelte er seine Gäste in Tiere und stahl ihr zeremonielles Wissen, das ihren Vätern gehörte, die unter der Erde lebten.
Seitdem dienten die ehemaligen Waldbewohner den Menschen als Nahrung. Doch die Verwandlung hatte das Fleisch der Tiere ungenießbar gemacht, und es übertrug Krankheiten auf die Menschen. Nur wenn die Schamanen der Piaroa dem erlegten Wild bestimmte Lieder vorsangen, konnte es anschließend zubereitet und gegessen werden. Dieses „Reinsingen des Fleisches“ gehört seither zum Alltag der Piaroa.
Aber auch das warime -Ritual, hervorgegangen aus dem mythischen Fest des Wahari mit den Waldbewohnern, wird alle ein bis drei Jahre gefeiert, um die Zukunft der Gemeinschaft zu sichern. Bei diesem Fest verkörpern sich Tiergeister in den Tanzmasken und ihre Stimmen in den Flöten. Zur Vorbereitung des Festes werden Masken und Flöten von den erwachsenen Männer der Dorfgemeinschaft hergestellt. Dafür ziehen sich die Männer in die Abgeschiedenheit einer eigens dafür errichteten Hütte abseits des Dorfes zurück. Bei diesen Aufenthalten erzählen sie sich die Geschichten von Wahari und wie in der mythischen Urzeit die Welt der Menschen entstand. Durch die Einnahme der halluzinogenen Droge jopo entstehen die Bilder der Tiergeister vor ihrem inneren Auge. Die Masken wandern von Hand zu Hand und werden so gemeinsam gestaltet: das Weißbartpekari, der Kapuzineraffe, die Fledermaus und die wilde Biene. Diese Herstellung der Masken und Flöten ist bereits Bestandteil des Rituals. In Gestalt der Masken, die ihren Träger von Kopf bis Fuß verhüllen, tanzen die Tiergeister am Festtag ins Dorf. Sie werden von den Bewohnern willkommen geheißen und in das große Gemeinschaftshaus eingeladen. Hier bekommen sie zu essen und zu trinken, und im Gegenzug sorgen sie in den nächsten Jahren für die Vermehrung des Jagdwilds.
Aufgrund ihres mythischen Ursprungs und ihrer rituellen Bedeutung gelten die Tanzmasken und die Flöten den Piaora als sakrale Gegenstände. Deshalb muss das Geheimnis um ihre Entstehung vor Frauen und Kindern verborgen werden. Diesen ist es bei Todesstrafe verboten, die Hütte, in der die rituellen Vorbereitungen stattfinden, zu betreten. Die Verfügungsgewalt über die rituellen Instrumente des warime obliegt den Schamanen und unter ihnen besonders demjenigen, der als Anführer eines Territoriums gilt. Als heilige Gegenstände dürfen sie auch nicht veräußert werden. Sie werden nach dem Ritual im Verborgenem aufbewahrt oder zurückgeworfen in den Wald, der Zerstörung preisgegeben.
Als ich 2000 eine Feldforschung bei den Piaora durchführte, erzählte man mir die Geschichte eines Piaroas, der Anfang der 1990er-Jahre dadurch etwas Geld verdiente, dass er Touristen die Tanzmasken des warime zeigte und eigens für diesen Zweck hergestellte zum Kauf anbot. 1995 starb er an einer nicht näher genannten Krankheit. Die Piaroa führen Krankheiten unter anderem auf Tabubrüche gegenüber Geistwesen oder auf spirituelle Angriffe von Schamanen zurück. Der Tod dieses Mannes wird in der Region als Strafe für den Verkauf der Masken und die Publikmachung der mit ihnen verbundenen Geheimnisse verstanden.
Diese Geschichte macht zwei Dinge deutlich: Erstens hat eine Transformation der Maske von einem sakralen, unveräußerlichen Gegenstand in eine Ware stattgefunden. Betrachtet man die Veränderungen, die die Lebenswelt großer Teile der Piaroa in den letzten 35 Jahren erfahren hat, ist dies keine Überraschung. Die meisten Piaroa entsprechen der Vorstellung von akkulturierten Indianern in Jeans und T-Shirt. 80 % bekennen sich heute zum christlichen Glauben, und das warime ist nicht mehr Teil ihres religiösen Lebens. Die Interpretation des Todesfalls als Strafe jenseitiger Wesen lässt aufhorchen, macht sie doch eine Kritik an der Kommerzialisierung der Masken sichtbar, die in zahlreichen Gesprächen auch von „akkulturierten“ Piaroa formuliert wurde. Das rituelle Erleben der Beziehung zu mythischen Wesen ist heute Bestandteil der Erinnerung an einen vergangenen Lebensstil, und diese identitätsstiftende Erinnerung gilt es, zu respektieren und zu bewahren. Der Konflikt um die Kommerzialisierung der Tanzmasken dreht sich aber nur vordergründig um die Veräußerung von Objekten. Vielmehr geht es um die Frage, auf welche Weise die Tanzmasken, ihr Verkauf oder ihre Geheimhaltung, dem Ziel der Piaroa dienen sollen, eine eigenständige Kultur zu bewahren. Jenachdem, in welche sozialen Interaktionen die Tanzmasken dabei eingebunden werden, wird ihnen eine Bedeutung zugeschrieben, die ihre Veräußerung ermöglicht bzw. eine solche ausschließt.
Claudia Augustat (2004): Entmachtete Gegenstände? Zur Kommerzialisierung sakraler Masken bei den Piaroa in Venezuela. Diss. Frankfurt/M.
Lajos Boglár (1985): Wahari. Eine südamerikanische Urwaldkultur. Hanau: Müller und Kiepenheuer
Joanna Overing (1985): There is no End of Evil: the Guilty Innocents and their Fallible God. In: The Anthropology of Evil. Hrsg. Von David Parkin. Oxford: Basil Blackwell. 244-278
Dr. Claudia Augustat, Ethnologin. Zwischen 1993 und 2003 unterschiedliche Tätigkeiten am Museum der Weltkulturen in Frankfurt am Main und am Ethnologischen Museum Berlin. Seit Juli 2004 ist sie Kuratorin der Südamerika-Sammlung am Museum für Völkerkunde in Wien.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008