Von Ulrike Krasberg
Wenn man mit Olympic Airlines nach Athen fliegt, bekommt man im Bordfernseher einen Film über Griechenland gezeigt. Er beginnt mit Ansichten antiker Stätten wie der Akropolis, Delfi und Olympia, zeigt Götterstatuen und wendet sich dann den Inseln zu, den Fischerbooten, Sandstränden und Tavernen, in denen - soweit ich mich erinnere - moderne Griechinnen Nescafé Frappé schlürfen. Auch Skilauf in den bewaldeten Bergen Nordgriechenlands wird gezeigt und Shopping im Zentrum Athens. Der Film macht sozusagen Werbung in eigener Sache – in Sachen Griechenland. Er zeigt ein Image, dass das Land sich selbst gibt, das es von anderen Ländern unterscheiden soll, er zeigt Griechenland als ein Puzzle-Teil des modernen Europas.
Ein Staat unter vielen anderen zu sein, ist ein durchaus modernes Selbstverständnis. Die Vorstellung vom Nationalstaat mit eigenem Territorium, idealerweise einer Sprache, einer Religion und einem Volk ist erst in den letzten 200 Jahren entstanden. Auch wenn die fortschreitenden Prozesse der Globalisierung immer deutlicher machen, dass auch in Zukunft ein großer Teil der Menschheit nicht nur in einem Staat leben wird, so schreitet in diesem Prozess aber auch die lokale Differenzierung voran. Griechische Migranten und nicht-griechische Touristen wollen, wenn sie das Land besuchen, das typisch Griechische vorfinden. Und im Land selbst fragt man sich, was dieses Typische denn sei? Was die Geschichte Griechenlands anbelangt, ist die Sache klar: Antike und dann 500 Jahre türkische Herrschaft, der verlorene Kleinasiatische Krieg mit seinen vielen Flüchtlingen aus der Türkei. Aber was ist Griechenland heute? Welche Musik, welches Essen, welche Sitten und Gebräuche werden gepflegt – im Unterschied zu anderen Nationalstaaten? Wie sieht ein griechisches Dorf aus? Das ist nicht so eindeutig feststellbar wie seine Einwohnerzahl. Diese Aspekte von Lokalität sind in ständigem Fluss, werden sozusagen täglich neu erfunden, auch wenn diese Aspekte oft als typisch für eine Region bezeichnet werden und an Vergangenes anknüpfen. Diese Ausdifferenzierung des Lokalen hat viel mit der Auseinandersetzung mit dem Fremden auf globaler Ebene zu tun.
Mein Ziel auf dieser Flugreise war die griechische Insel Lesbos. Sie lag lange Zeit abseits der Touristenströme, die sich vor allem auf die Kykladeninseln wie Santorini und Mykonos ergossen. Als in den 70er-Jahren Lesbos von europäischen und US-amerikanischen Rucksacktouristen entdeckt wurde, war es vor allem das im Südwesten der Insel gelegene Dorf Eresos bzw. sein Ortsteil am Strand, der die Jugendlichen anzog. Dort soll im 6. Jahrhundert vor Christus die Lyrikerin Sappho gelebt haben. In den 80er-Jahren wurde Skala Eresou für kurze Zeit eine Art Mekka für lesbische Frauen. Die Bewohner Eresos’ konnten sich zwar mit der Unterbringung und Beköstigung der Fremden ein Zubrot verdienen, mit dem von außen an sie herangetragenen Image "Wohnort der lesbischen Sappho" taten sie sich allerdings sehr schwer. Heute ist Skala Eresou ein Chartertouristenort am Meer, der fast ausschließlich aus schnell erbauten kleinen Hotels, Tavernen, Bars und Souvenirläden am Strand entlang besteht.
Während Skala Eresou sich damit begnügte, den vom internationalen Tourismus geforderten Bedürfnissen praktisch zu entsprechen – Hotels, Restaurants und Sonne, Meer und nächtliche Partys –, ging Molivos im Norden der Insel einen anderen Weg. Molivos (offiziell Mythimna genannt und einst nach der Hauptstadt Mytilini der wichtigste Stadtstaat auf Lesbos) ist ein kleines Städtchen direkt am Meer, an den Hang unterhalb einer genuesisch-türkischen Festung aus byzantinischer Zeit gebaut. Seine mittelalterlichen Häuser stehen sozusagen mit dem Rücken zum Meer und bilden dadurch eine Art Festungsmauer, die einst Schutz vor den häufigen Piratenüberfällen bot. Zum Hang hin gibt es auch heute noch mit Kopfstein gepflasterte Gässchen, versehen mit Laubdächern wilden Weins, die im Sommer Schatten bieten. Von Balkonen in luftiger Höhe können die Besucher von Kaffeehäusern und Restaurants weit über die Bucht und das Meer blicken.
Schon vor den 1970er-Jahren, als außerhalb des Ortes die ersten Hotelanlagen für den Chartertourismus gebaut wurden, hatten sich in Molivos in den Sommermonaten Künstler – Maler, Schriftsteller, Intellektuelle aus Europa und den USA – in privaten Unterkünften eingemietet. Die Romantik des Ortes hatte immer schon einheimische Künstler und Intellektuelle der Insel und aus Athen angezogen. Der dort bei Ouzo und Retsina stattfindende interkulturelle Austausch wurde sozusagen zur Keimzelle, das architektonisch Besondere dieses Ortes zu erkennen, und führte dazu, dass schon 1956 der spätmittelalterliche Ortskern insgesamt unter Denkmalschutz gestellt wurde. Das hatte zunächst keine weiteren Konsequenzen, da die Bewohner ohnehin nicht vorhatten, ihre Häuser baulich zu verändern, fehlte ihnen doch das Geld dafür. Erst durch die Arbeitsmigration, vor allem nach Deutschland ab den 60er-Jahren, kam etwa 20 Jahre später mit den zurückkehrenden Migranten genug Geld auf die Insel und nach Molivos, um die alten, nur mühsam vorm Verfall bewahrten Häuser zu sanieren und kleine Restaurants und Geschäfte zu eröffnen.
In Molivos gab es schon früh unter den Verantwortlichen Diskussionen darüber, was die Schönheit und das Charakteristische dieses Ortes ausmachen. Wie sollten die Häuser renoviert und mit den modernen Annehmlichkeiten des Wohnens ausgestattet werden, ohne dass sie den für die Insel einst üblichen Stil verlieren würden? In Skala Eresou dagegen wurden möglichst preiswert in schlichter Betonbauweise Hotels errichtet, um die Feriengäste unterzubringen und an ihnen zu verdienen. Touristen, die nach Griechenland fuhren, hatten das Bild von Dörfern vor Augen, wie sie traditionell nur auf den Kykladen gebaut wurden: ineinander geschachtelte kubische Häuser mit flachen Dächern und blau gestrichenen Fenstern, deren gekalktes Weiß sich auch über Treppen, Gassen und den unteren Stamm der Bäume erstreckte. Schlecht imitiert gestaltete man dann auch auf diese Weise die Betonneubauten in anderen Landesteilen und auch auf Lesbos. Das ist es, was die Fremden hier sehen wollen, vermutete man. Die alten Häuser in Molivos und die in den Dörfern im Landesinneren der Insel sahen aber ganz anders aus. Hier bestanden die Mauern aus grauen, unbehauenen Feldsteinen, deren Fugen früher mit Lehm, später mit dicken Zementwülsten ausgekleidet wurden. Die alten vornehmen "Bürgerhäuser", von denen Molivos viele vorzuweisen hat, entsprachen zum Teil Häusern, wie sie auf dem gegenüberliegenden türkischen Festland gebaut wurden: Auf einem aus Feldsteinen gemauerten Untergeschoss befand sich ein überkragendes Obergeschoss aus Holz. Andere Häuser waren im neoklassizistischen griechischen Stil errichtet. Dass es sich lohnt, gerade auch im Sinne des Tourismus, diese Häuser mitsamt dem Ambiente ihrer Gassen zu erhalten, war eine Erkenntnis, die den Einwohnern Molivos’ durch die Anwesenheit von Fremden, von Nicht-Griechen, klar wurde. Allmählich wandelte sich die Erkenntnis "Wir sind nicht die Kykladen, wir haben keine weißen Dörfer, die die Touristen so lieben", in die Fragen "Was haben wir denn zu bieten? Was ist das Typische an unserer Region? Was können wir den Fremden bieten?"
Als in den 80er-Jahren die ersten Griechen nach 15 Jahren Arbeitsmigration wieder auf ihre Insel kamen, galt es die Lebensannehmlichkeiten Mitteleuropas auch nach Lesbos zu bringen. Die Häuser wurden mit neuen, regensicheren Dächern gedeckt, Badezimmer wurden gebaut, die Küchen bekamen moderne Einbaumöbel. Kühlschränke, Waschmaschinen und Fernseher wurden angeschafft. In den Dörfern im Landesinneren der Insel verwandelten sich viele der zwei-, dreihundert Jahre alten Bauernhäuser in manchmal ganz seltsam anzusehende Behausungen mit windschiefen Anbauten und dicken Schichten von weißlich-grauem Verputz.
In Molivos dagegen gab es Vorschriften, die alten Häuser entsprechend ihres Stils wieder herzurichten, und durch die stets präsenten Fremden wurde die Suche nach dem Baustil der alten Häuser immer wieder angeregt. Nach vielen Jahrzehnten, in denen die Häuser nur notdürftig instand gehalten werden konnten oder - bar jeden Stilverständnisses - nur nach praktischen Erwägungen modernisiert wurden, suchten nun Maurer, Schreiner, Schlosser und Maler nach Techniken, Farben, Formen und Materialien, die der ursprünglichen Ästhetik der Architektur möglichst nahe kommen sollten. In dem Maße, wie über den Tourismus und die Arbeitsmigration Geld auf die Insel kam, entstand auch unter den Einheimischen so etwas wie ein Bedürfnis nach authentischer Ästhetik. Moderner Lebensstandard ja, aber im Ambiente lokaler Ästhetik. Wenn heute in den Bauerndörfern im Inselinneren ein altes Haus als Mitgift für eine Braut renoviert und modernisiert werden soll, orientiert man sich an den Häusern in Molivos: "In Molivos streichen sie die Fensterläden dunkelrot, nicht blau wie auf Santorini!"
Diese Sensibilität für lokale Ästhetik aber teilen nicht alle rückkehrenden Migranten. Seit einigen Jahren flüchten reich gewordene Griechen aus Venezuela. Sie wollen aufgrund der chaotischen politischen Situation in dem südamerikanischen Land in ihr Heimatland zurückkehren. In Filia zum Beispiel, einem Bauerndorf mit einem intakten alten Ortskern, etwa 20 km südlich von Molivos im Landesinneren gelegen, gibt es jetzt Häuser, die in einem Athener Vorort nur durch ihre Protzigkeit auffallen würden, im gewachsenen Ambiente eines alten bäuerlichen Dorfkerns aber wie ein UFO wirken. Dass nicht nur der Neubau viel Geld gekostet hat, sondern auch die Baugenehmigung, wissen alle (auch in Griechenland gibt es Bauvorschriften). Jetzt bewirken diese UFOs, dass das Bewusstsein über die ästhetische Qualität der alten Häuser auffallend zunimmt. Während in den 50er-Jahren die reichen Venezuela-Auswanderer ihren Verwandten im Heimatdorf mit einer gespendeten Wasserleitung noch imponieren konnten, und aus Dankbarkeit Straßen und Schulen nach ihnen benannt wurden, stellen sie jetzt mit ihren Millionen Dollars und ihrem an der Vergangenheit orientierten kulturellen Wissen eher ein soziales Problem dar.
Die lokale Identität der Insel wird aber nicht nur durch die Architektur der Häuser und das bauliche Ensemble der Dörfer repräsentiert. Der griechische Staat unterstützt die lokalen Besonderheiten insofern, als er Geld für dörfliche Kooperativen gibt, in denen Hausfrauen nach alten Rezepten Nahrungsmittel zubereiten und Touristen (seien sie aus Athen oder dem Ausland) zum Kauf anbieten. Da gibt es Glikó (kandierte Früchte), Hochzeitsmarzipan, Trachanás (in Krümeln getrockneter Brei aus Ziegensauermilch und geschrotetem Weizen), in den Bergen gepflückten Oregano und Bergtee, Kekse und Kuchen. Allein schon das Nachdenken darüber, was die Insel Lesbos und jedes Dorf für sich an Besonderheiten zu bieten hat, stärkt die lokale Identität.
Holdefehr, Klaus; Ulrike Tietze (1989): Lesbos. Kultur- und Wanderführer. Grüsselbach: Ikarus-Buchverlag
Krasberg, Ulrike 1996: Kalithea. Männer und Frauen in einem griechischen Dorf. Frankfurt/M: Campus
Lauth-Bacas, Jutta 1998: Frauentourismus und kultureller Wandel auf der Insel Lesbos (Griechenland). In: Susanne Schröter: Körper und Identitäten. Ethnologische Ansätze zur Konstruktion von Geschlecht. Münster: LIT. S.131-147
Pavlides, Eleftherios; Jana Hesser 1986: Women’s Roles and House Form and Decoration in Eressos, Greece. In: J. Dubisch (ed.): Gender and Power in Rural Greece. Princeton: Princeton University Press. S.68-96
PD Dr. Ulrike Krasberg, Ethnologin, Privatdozentin am Institut für Vergleichende Kulturforschung, Universität Marburg. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Museum der Weltkulturen. Feldforschung in Griechenland und Marokko.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008