Von Volker Beer
Bisweilen beklagen traditionalistische Angehörige indigener Kulturen, dass im Schlepptau globaler Segnungen wie ChickenMcNuggets auch allerlei perverse Unsitten und geschlechtliche Verwirrungen des Westens in ihre Kulturen einwanderten, die es dort bisher nicht gegeben habe. Tatsächlich ist zu beobachten, dass beispielsweise das (historisch recht junge) westliche Konzept von Homosexualität – mitsamt dem zugehörigen subkulturellen Repertoire von Symbolen, Festen, Verhaltensregeln, Körperidealen und so weiter - sich derzeit weltweit in Kulturen auszubreiten scheint, denen dieses Konzept bisher völlig fremd war. Ein freier Perversions-Export in der globalisierten Welt? Die These enthält ein Körnchen Wahrheit, aber ganz so einfach ist es – wie immer – nicht. Wenden wir den Blick einmal nach Nordamerika.
Die Kulturen der dortigen Ureinwohner wurden im Verlauf der gewaltsamen Kolonisation des Kontinents fundamental erschüttert. Dies betraf auch die indianischen Vorstellungen der Geschlechterordnung. Die christliche Missionierung, die Beschulung der Kinder mit westlich geprägten Lehrinhalten und nicht zuletzt die Einbindung in das kapitalistische Lohnarbeitssystem sorgten für eine weit gehende Aneignung westlich-christlich geprägter Konzepte. Im Kielwasser der Vorstellungen darüber, was auf geschlechtlichem Gebiete "normal" sei, wurden aber auch die Vorstellungen darüber mittransportiert, was nicht normal sei: Neben Normalitätskonzepten prallten hier also auch Konzepte geschlechtlicher Anormalität aufeinander.
In mindestens einem Viertel der zahlreichen indianischen Ethnien Nordamerikas existierten früher neben Mann und Frau alternative Geschlechtsrollen. Die (nicht wenigen) Personen, die als Kinder oder Heranwachsende bemerkten, dass sie die ihnen anatomisch nahe gelegte Geschlechtsrolle nicht ausfüllen mochten, hatten die Möglichkeit, eine alternative Rolle anzunehmen und nach einem entsprechenden Ritual fortan offiziell nicht mehr als Mann oder Frau, sondern als Angehörige/r einer solchen Sonderrolle zu leben. Solche Rollen existierten für anatomische Männer und (wohl seltener) für Frauen; sie hatten jeweils spezielle Bezeichnungen und waren entweder durch eine begrenzte Annäherung an das jeweils andere Geschlecht oder, häufiger, durch eine bewusste Vermischung von Kleidung, Tätigkeiten, Beziehungsleben und Verhalten beider "Basis-Geschlechter" (Mann und Frau) gekennzeichnet. Alternative Geschlechtsrollen waren in diesen Gesellschaften ebenso selbstverständlich wie die von Mann und Frau. Solche alternativen Geschlechtsrollen bildeten in diesen Kulturen das beherrschende und möglicherweise einzige fest definierte Konzept geschlechtlicher "Anormalität".
Die europäischen Kolonisatoren gingen gegen solche "indianischen Perversionen" stets überaus brutal vor: Einheimische "Mann-Frauen" wurden inhaftiert und misshandelt, gezwungen, eine "normale" Geschlechtsrolle anzunehmen, oder gar getötet. Nur in sehr begrenztem Maß konnte die Tradition trotz der massiven Gewalt verdeckt weitergeführt werden.
Junge IndianerInnen, die in den letzten Jahrzehnten in den indianischen Gemeinden und Reservaten aufwuchsen, fanden also diese alternativen Geschlechtsrollen nicht mehr als Möglichkeit und Vorbild vor, sondern stattdessen die prägenden westlichen Anormalitätskonzepte: Homosexualität und Transsexualität. Den meisten IndianerInnen galten diese Phänomene wiederum als "westliche Perversionen", als "unindianisch", zumindest aber "unchristlich". Beide Konzepte verlockten einen jungen Menschen demnach nicht gerade zur Identifikation. Infolge dieser intoleranten Atmosphäre in den Reservaten sahen sich viele der Betroffenen zu einem verschämten Doppelleben gezwungen, oder sie wanderten in die Städte aus. Dort fügten sie sich den westlichen Subkulturen ein und eigneten sich meist eine schwule, lesbische oder transsexuelle Identität an. Die von der weißen Mittelschicht geprägten Subkulturen sind aber nicht weniger rassistisch als die Mehrheitsgesellschaft, und so sahen sich viele IndianerInnen einer Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt: als Homosexuelle/Transsexuelle und als IndianerInnen. Sie blieben weiterhin Suchende – nach einem Ort, nach einer Identität.
Verschiedene Veränderungen und politische Strömungen in der westlichen Gesellschaft und in den indianischen Gemeinschaften halfen ihnen, diese Identität zu finden:
In den späten 1960ern sprang das neue Selbstbewusstsein der Gay Liberation -Bewegung auch auf homosexuelle IndianerInnen über: Sie organisierten sich in mehreren großen Städten, unter anderen 1975 im Verband Gay American Indians (GAI) in San Francisco. Verbindendes Merkmal war zunächst, wie der Name sagt, die Berufung auf eine "schwule/lesbische" Identität westlicher Prägung. Im Zuge allgemeiner Bestrebungen, indianische Traditionen wieder zu entdecken und neu zu beleben, riefen auch die Gay American Indians 1984 ein "Geschichtsprojekt" ins Leben, dessen Ziel die Erforschung indianischer "homosexueller" Traditionen sein sollte, und entdeckten dabei die traditionellen alternativen Geschlechtsrollen als mögliche Vorbilder für die Schaffung eines neuen, gewissermaßen "indianisch-homosexuellen" Identitätskonzeptes, um sich von den als unbefriedigend und diskriminierend erlebten westlichen Subkulturen und ihren Identitätskonzepten abzugrenzen und eine eigenständige Identität zu finden. Die Erfahrungen der AktivistInnen mit der radikalen Infragestellung westlicher Geschlechtsrollenkonzepte als einem Kernthema der Gay Liberation -Bewegung erleichterten ihnen möglicherweise den Entschluss, sich vom Konzept der homosexuellen Identität zu lösen und die Hinwendung zu einer (den westlichen Geschlechtsdualismus durchbrechenden) Berdache -Identität zu propagieren. Gleichzeitig bereitete die allgemeine Tendenz zu einem neuen "Pan-Indianismus" als Reaktion auf die gemeinsame Diskriminierungserfahrung aller indianischen Kulturen auch in diesem speziellen Falle die Möglichkeit vor, die Informationen aus ganz unterschiedlichen Kulturen zu einem gemeinsamen Idealtypus des Berdache zu verschmelzen.
Mit diesem neuen Identitätskonzept gelang es erstmals, das Problem, als Indianer kein "richtiger Homosexueller", als Homosexueller wiederum kein "richtiger Indianer" zu sein, zu lösen und diese bisher als widersprüchlich erlebten Identitätsmerkmale in einer kohärenten Formel zu vereinen. Allerdings ist eine direkte Gleichsetzung zwischen dem Berdache -Konzept und westlichen Konzepten von Homosexualität oder Transsexualität nicht möglich. Denn:
· Das Konzept des Berdache definiert sich nicht durch ein psychisch verankertes sexuelles Interesse wie die Homosexualität, sondern durch das Interesse an einer sozialen Rolle. "Homosexuelle" Akte oder Ehen sind lediglich eine eventuelle Konsequenz dieser Rolle.
· Der Berdache gehört ausdrücklich einem alternativen Geschlecht an; der idealtypische Homosexuelle weicht nur im Partnerverhalten von der normalen Geschlechtsrolle ab. Das Berdache -Konzept durchbricht also den Geschlechtsdualismus, den das Konzept Homosexualität bestätigt.
· "Transsexualität" wiederum beschreibt in der Regel den Versuch einer möglichst exakten Kopie des geburtskomplementären Geschlechts, was der bewussten Ambivalenz des Berdache ebenfalls völlig widerspricht.
· Die Tradition der Berdache ist integrierter Bestandteil der Kultur und wurde oft innerfamiliär weitergegeben; homosexuelle Traditionen pflanzen sich innerhalb ausgegrenzter (und oft gesellschaftskritischer, sich selbst abgrenzender) Subkulturen fort, das "Initiationsritual" des Coming-out gestaltet sich oft als geradezu anti-familiärer Prozess.
Die Aneignung der Berdache -Identität von Personen, die sich bisher als schwul, lesbisch oder transsexuell identifiziert hatten, findet also in einem interessanten konzeptuellen Spannungsfeld statt. Allzu klar war jedoch, dass die Übernahme der westlichen Konzepte Homosexualität bzw. Transsexualität die bestehenden Probleme nicht zu lösen vermochte, erschwerte es doch vor allem erheblich die Anbindung an die eher konservativen indianischen Gemeinden.
In den 1990er-Jahren gelang der bisher letzte und erfolgreichste Schritt auf der Suche nach einer stimmigen Identitätsformel. 1994 beschlossen die TeilnehmerInnen einer Konferenz von indianischen und nichtindianischen EthnologInnen und AktivistInnen, die schon seit einigen Jahren kursierende Bezeichnung Two-Spirited People als Ersatz für die als diskriminierend erlebte Bezeichnung Berdache einzuführen. Sie übersetzten mit diesem Begriff das Northern Algonkin-Wort niizh manitoag ins Amerikanische, das die Vorstellung beschreibt, die betreffenden Personen besäßen sowohl eine männliche als auch eine weibliche Seele.
Die Wortschöpfungen Two-Spirited People oder Two-Spirits werden seitdem als begriffliche Klammer für den gesamten Pool der bisher unterschiedenen Identitäten verwandt: sowohl für traditionelle bzw. wiederbelebte indianische Konzepte alternativer Geschlechtsrollen als auch für die ganze Palette westlich geprägter Identitäten. Schwule, Lesben, Trans-, Bisexuelle, Transvestiten, Tunten, Butch-Lesben, urbane und nichturbane IndianerInnen ...: alle, die in irgendeiner Weise aus der heteronormativen Rolle fallen, können sich unter dem Dach dieser Formel vereinen. Darüber hinaus wird der Begriff auch auf die historischen Vorbilder ausgedehnt, zu denen eine ungebrochene Traditionslinie behauptet wird.
Akribische WissenschaftlerInnen mag die Unschärfe dieses Begriffes ergrimmen, der so verschiedene, ja sich ausschließende Konzepte zusammenfasst. Jedoch besteht gerade in dieser Unschärfe die identitätspolitische Meisterleistung: Erstens verbindet diese neue Klammer alle genannten Personen ausdrücklich zu einer Solidargemeinschaft. Zweitens erlaubt der Begriff eine Abgrenzung von den homosexuellen westlichen Subkulturen, zu denen dennoch eine Anbindung bestehen bleibt, die sowohl persönlich als auch in Form politischer Zweckbündnisse nützlich ist. Vor allem aber ermöglicht die Neuformulierung endlich eine starke Anbindung an die indianischen Gemeinschaften: Galten "homosexuelle" Indianer als Verräter an der indianischen Kultur, so gelingt es den modernen Two-Spirits nun, sich als geradezu beispielhafte Traditionshüter darzustellen. Die Akzeptanz bei traditionalistischen Gemeindemitgliedern wird außerdem dadurch gestärkt, dass besonders ein Merkmal der traditionellen Two-Spirits , ihre außergewöhnliche spirituelle Begabung und die daraus resultierende herausragende Bedeutung für die Gemeinschaft, von ihren modernen NachfolgerInnen immer wieder stark hervorgehoben wird.
Die neue Formel löst somit das Problem, an einem Ort zwischen den westlichen Subkulturen und den indianischen Gemeinschaften zu stehen – bzw. gleichzeitig in beiden – , sich somit von beiden gleichzeitig abgrenzen und an sie anbinden zu wollen. Dies gelingt durch einen konzeptuell unscharfen und somit zu beiden Seiten gleichzeitig offenen und abgrenzenden Identitätsbegriff, der zudem ein Identitäts-Switching ermöglicht: als traditionell-moderner Berdache in den Reservaten, als exotischer Homosexueller in der westlichen Subkultur.
Dieses Identitäts-Switching ist einerseits die Konsequenz eines Lebens, das zwischen bzw. in verschiedenen kulturellen Zusammenhängen stattfindet, andererseits die Voraussetzung für dessen Gelingen. Seit der Erfindung des neuen Identitätskonzeptes ist eine viel stärkere und erfolgreichere Einbindung der Two-Spirits sowohl in den homosexuellen Subkulturen als auch in den indianischen Gemeinden festzustellen. So findet zum Beispiel heute der Sonnentanz bei den Lakota wieder unter der traditionell notwendigen Beteiligung von Two-Spirits (die den Tanzpfahl auswählen und fällen müssen) statt: Solcherart Einbindung in traditionelle Rituale ist für die gesellschaftliche Akzeptanz von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Vielerorts engagieren sich Two-Spirits im Bereich der Aids-Prävention; mancherorts führen sie in Anknüpfung an traditionelle Heilerfunktionen Heilungsrituale für HIV-Infizierte und Aidskranke durch. Insgesamt tun sich Two-Spirit -Organisationen vor allem durch die Förderung des kulturellen Lebens in den Gemeinden hervor: Sie organisieren Feste, Rodeos, Musikveranstaltungen, Charity-Shows etc. Auch in den homosexuellen Subkulturen tauchen die Two-Spirits nun selbstbewusster auf, beispielsweise als organisierte Teilnehmer der Gay Pride Parades . Nicht nur durch selbstironisches Kokettieren mit Klischees (sie wissen, wie enthusiastisch die Whities auf Federschmuck reagieren...) fügen sie sich hier in die allgemeine Tradition reibungslos ein.
Derzeit kann beobachtet werden, wie sich das neue Identitätskonzept verbreitet: Immer mehr indianische Organisationen ersetzen das alte Gay in ihrem Namen nun durch Two-Spirit . In den USA und Kanada existieren heute mindestens zehn miteinander vernetzte Two-Spirit -Organisationen, mit steigender Tendenz. Auch die Anzahl der Personen, die in der "neuen alten" Rolle zufrieden in ihren indianischen Heimatgemeinden leben, nimmt mancherorts wieder zu, zum Beispiel bei den Cheyenne und Navaho.
Perversions-Import versus Traditionalismus? Die Two-Spirits haben in einer schwierigen und hochkomplizierten Situation eine kreative und geniale Lösung gefunden – zwischen Selbstmusealisierung und Assimilation.
Lang, Sabine (1990): Männer als Frauen - Frauen als Männer. Geschlechtsrollenwechsel bei den Indianern Nordamerikas. Hamburg: Wayasbah-Verlag.
kea (2001): Heteronormativität. Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Ausgabe 14. Bamberg.
Tietz, Lüder (2001): Bend the line back into a circle: Variabilität und Normativität alternativer Geschlechter- und Sexualitätskonstruktionen indigener Kulturen Nordamerikas im kolonialen Wandel. In: kea 2001, S.179-207.
Volker Beer M. A., Völkerkundler und Religionswissenschaftler, arbeitete u. a. als Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienst REMID e. V. in Marburg, in der museumspädagogischen Abteilung IKAT des Museums der Weltkulturen in Frankfurt am Main und in der Völkerkundlichen Sammlung der Philipps-Universität Marburg. Derzeit arbeitet er neben verschiedenen Projekten an einer Dissertation zum Thema "Two-Spirited People" in Nordamerika.
Die Fotos stammen, mit freundlicher Genehmigung, von der homepage der Two-Spirit-Society of Denver, die FotografInnen wurden dort nicht genannt.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008