Von Heike Drotbohm
In so genannten oralen Kulturen, in denen die mündliche Kommunikation einen wesentlichen Stellenwert einnimmt, bietet das Erzählen über Geister eine Orientierung in der kollektiven Verarbeitung von Alltagsthemen, Sorgen, Hoffnungen und Wünschen. Ethnologen können daher im Forschen über die Geister Einblicke gewinnen in die Sicht der Gläubigen auf die sie umgebenden sozialen Realitäten.
In Haiti und besonders in den von extremer Armut betroffenen Gebieten des haitianischen Hinterlandes kommt der Kommunikation und dem Erzählen über die Welt der Geister des Vodou, Lwas genannt, eine große Bedeutung zu. Ob während der morgendlichen Arbeit auf den Feldern, während der Mittagsruhe im Schatten der Häuser, auf den Wegen zum Brunnen oder zum Markt oder am Abend während der Zubereitung der Mahlzeiten – die Geister begleiten den haitianischen Alltag und stehen den Gläubigen als Freunde, Streitpartner, Rivalen oder Kommentatoren zur Verfügung.
Nicht allein die Tatsache, dass jeder sie kennt und gerne von ihnen erzählt, fördert die alltägliche Präsenz der Geister. Auch über die rituelle Praxis, wie die regelmäßig durchgeführten Ehrungen auf den privaten Hausaltären, über die Konsultation der Geister mit Hilfe eines Priesters oder einer Priesterin, aber auch im Verlauf der sporadisch stattfindenden Vodou-Zeremonien werden die Bande zwischen Menschen und Geistern gestärkt, und die Geister erhalten das Maß an Aufmerksamkeit und Kommunikation, das ihnen gebührt.
Dabei ist es nicht immer leicht, mit den Geistern zu leben. Die Lwas haben menschenähnliche Züge, sie sind mitunter launisch und unberechenbar, und so mancher Gläubige nimmt sie als konstante alltägliche Störfaktoren wahr, als unzufriedene Nörgler, die sabotieren und manipulieren. Und selbst wenn man ihre Gunst gewinnen konnte, sind sie anspruchsvoll und fordern, insbesondere was die Gestaltung der ihnen gewidmeten Hausaltäre betrifft, ihren Raum und ein Budget, das ihren Anforderungen und Leistungen entspricht.
Auch in den städtischen Räumen Haitis, in Port-au-Prince und Cap Haitien, wird diese alltägliche Bezugnahme auf die Geister aufrechterhalten. Hier, wo man sprachlich und kulturell der europäischen frankophonen Kultur näher steht, passen sich auch die Geister an die urbane Kultur an und assistieren ihren Gläubigen in der Auseinandersetzung mit den Anforderungen, die das Leben in der Stadt an sie stellt.
So dient beispielsweise Kuzin Zaka , der sture und eigenbrötlerische Bauer, den Städtern ebenso wie der Landbevölkerung als einer der zuverlässigsten Lwas, der ihnen treu ergeben ist und seine Dienste nur selten verwehrt. Kuzin , wie die meisten ihn zärtlich nennen, ist auf eine unauffällige Weise fleißig und hilft seinen Gläubigen, das alltägliche Arbeitspensum zu erledigen. Während jedoch die Bevölkerung im ländlichen Raum Kuzin ausschließlich als einen Bauern anspricht und ihn beispielsweise vor der Aussaat konsultiert, deuten ihn die Städter in Port-au-Prince als einen knallharten Geschäftsmann, der sich mit seinen Partnern solidarisiert und unerbittliches Feilschen auf den Märkten nicht scheut.
Auch einige andere der überaus zahlreichen Geister im Pantheon des Vodou haben sich an die städtischen Lebensbedingungen angepasst. So dienen die beiden Geister Agwé und Lasirèn , die den Bezug zur Welt des Meeres und der Gewässer herstellen, nicht mehr nur als Schutzgeister der Fischer, sondern nun auch als Mediatoren für die Kommunikation mit jenen, die die Insel verlassen haben und nun im Ausland leben.
Die Gédé , die Geister der Toten, und deren Anführer Bawon Samdi werden im ländlichen Haiti angesprochen, um den Kontakt mit der Welt der Ahnen und dem mythischen Afrika, Guinen genannt, herzustellen. Insbesondere seit der Terrorherrschaft der Diktatoren François und Jean-Claude Duvalier (1957-1986), auch „Papa“ und „Baby Doc“ genannt, die sich des Vodou als manipulatives Instrument ihrer Herrschaft bedienten, wird mit den Gédé neben der Vermittlung zwischen Diesseits und Jenseits die institutionalisierte Verspottung der irdischen Welt assoziiert, da sich die Geister über die Lebenden belustigen und die Gesellschaft, insbesondere die in der Hauptstadt lebende frankophone haitianische Bourgeoisie, verhöhnen.
Im Erzählen über die Geister stellen die Gläubigen, sei es im ländlichen Raum oder in den Städten, die Verbindung zu ihrer direkten sozialen, kulturellen und materiellen Umwelt her. In diesem Sinne spiegeln die Geistererzählungen der Vodougläubigen deren alltägliche Auseinandersetzung mit den Erscheinungen der Welt wider, indem sie diese in der Figur des jeweiligen Geistes verdichten und arrangieren.
Der Ethnologe Fritz Kramer plädiert dafür, den Geisterglauben als ein gesellschaftliches Bemühen um ein Systematisieren der Welt zu verstehen, das insbesondere in Gesellschaften anzutreffen ist, die im Laufe der Geschichte Fremdeinflüsse unterschiedlichster Art zu verarbeiten hatten. Er interpretiert die Geister als Allegorien, die es erlauben, der Welt eine verständlichere und geordnete Form zu geben. So gedeutet, garantiert die Wandelbarkeit der Geister die Kontinuität von Geschichte und Gegenwart.
Als ich in den Jahren 2002 und 2003 in Montreal, Kanada, in der Gemeinschaft haitianischer Migranten forschte, diente mir diese über die Geistererzählungen vermittelte Ordnung und die Anpassungsbereitschaft der Geister als eine bedeutende Hilfestellung für ein Verstehen haitianischer sozialer Realitäten in der Migration.
Einige Worte zur regionalen Einordnung: In Kanada leben heute etwa 50-70.000 Menschen haitianischer Abstammung, die sich selbst als communauté haitienne definieren und einen lebhaften Diskurs darüber pflegen, was Haiti in der neuen Heimat für sie bedeuten kann. In der Reflexion darüber, auf welche Weise haitianische Identität in der Diaspora aufrechterhalten werden kann, nutzten die Gläubigen die Geister wie eine Schablone für die Artikulation von Abneigungen und Wünschen, wie die folgenden Beispiele zeigen werden.
Erzulie Freda beispielsweise, ein Geist der Verführung, der Weiblichkeit und der Erotik, wird in Haiti besonders intensiv verehrt. Freda ist wunderschön, sie hat lange Haare, eine helle Haut und sorgt sich sehr um ihre Figur, denn ihre Attraktivität bedeutet ihr viel. Haitianische Frauen verehren sie sehr. In Kanada dagegen verhalten sich haitianische Frauen gegenüber Erzulie Freda eher distanziert: „Ach, Freda , die ist so kompliziert, sie umgibt sich immer mit feinem Parfum und luxuriöser Seide und will immer alles vom Teuersten. Aber sie ist so oberflächlich und so materialistisch. Ich mag sie nicht besonders. Außerdem ist sie unfruchtbar.“ Diese Beschreibung ist durchaus typisch für einen weiblichen Umgang mit Erzulie Freda .
Ganz anders die Beschreibungen zu Erzulie Fredas Schwester, Erzulie Dantor . Diese ist von einem anderen Schlag, burschikos, ungehobelt und häufig unhöflich. Sie hat eine tiefschwarze Hautfarbe und legt keinen besonderen Wert auf ihr Äußeres, und auch der Kontakt mit Männern ist für sie eher unbedeutend. Das Wichtigste im Leben Dantors sind ihre Kinder. Die meisten haitianischen Frauen verehren Dantor tief: „Auf sie kannst du immer zählen! Egal zu welcher Zeit, egal wo, sie ist immer an deiner Seite. Allerdings ist sie nicht ganz einfach, ihre Wut ist fürchterlich. Manchmal macht sie mir Angst. Daher achte ich immer darauf, ihr regelmäßig zu dienen.“ Dantor ist der Prototyp der autonomen, allein erziehenden Mutter, die für ihre Kinder ihre Hand ins Feuer legen würde und auch ihren Gläubigen eine verlässliche Partnerin ist. Somit bietet sie sich haitianischen Frauen als Identifikationsfigur an, denn die Trennung haitianischer Paare und die starke Bindung der Mütter an ihre Kinder ist ein zentrales Merkmal haitianischen Alltags in Montreal.
In den Erzählungen über beide Erzulies – Freda und Dantor – verdichten haitianische MigrantInnen in Montreal die Themen Liebe, Verführung, Frau und Mutterschaft und den Dialog zwischen den Geschlechtern.
In ihrer Darstellung nimmt die oben zitierte Vodougläubige außerdem Bezug auf Dantors Wirken im Rahmen der haitianischen Revolution, als sie an der Seite von Ogou den aufständischen Sklaven spirituellen Beitrag bot und somit zur Befreiung des Landes beitragen konnte. Auch im Erzählen über Ogou , den Geist der Kriege, der Waffen und der Auseinandersetzung schlechthin, können sich HaitianerInnen in Kanada die zentralen historischen Momente vergegenwärtigen, als im Jahre 1804 ein Sklavenaufstand in der Gründung der ersten freien Sklavenrepublik weltweit mündete. Aber wichtiger noch, in Montreal wird das Motiv des Kriegs und der Rebellion auf den Alltagskampf in der Migration übertragen: „ Ogou , er hat uns die Kraft gegeben! Er ist die Gewalt, die Wut, der Krieg. Ogou ist Teil der Konfrontation. Auch hier ist ein Haitianer im Krieg. Um zu arbeiten, um zu kommunizieren, im Krieg gegen das Klima, das ihm feindlich gesonnen ist, im Krieg gegen den Rassismus, gegen seine Umwelt, gegen sich selbst, weil er dorthin (nach Haiti) zurückkehren möchte, um zu sterben.“
An diesem Zitat wird erneut deutlich, wie mein haitianischer Gesprächspartner die Themen, die er mit seinem Geist in Verbindung bringt, auf seine aktuelle Umgebung und seine alltäglichen Sorgen überträgt. Die mit dem haitianischen Freiheitskampf assoziierten Motive, also Gewalt, Machtmissbrauch und Unterdrückung, werden über die Kommunikation mit Ogou auf den Montrealer Alltag übertragen und erleichtern es dem Gläubigen, von seinem alltäglichen Kampf um Anerkennung und Respekt und von seiner Sehnsucht nach Haiti, seiner Heimat, zu erzählen.
Ein weiteres Beispiel sind die Marassa , die kindlichen Zwillinge, die in ihrer dualen Erscheinung die Themen Fortpflanzung und Fruchtbarkeit transportieren und die Kommunikation erleichtern sollen mit den eigenen Kindern. Und ebenso wie im Umgang mit menschlichen Kindern sollte man sie nicht verzärteln, sondern sich auch vor ihnen hüten: „Nimm dich vor ihnen in Acht! Natürlich sind sie niedlich und sanft, so sind Kinder nun mal, aber sie sind auch gemein und können dich reinlegen. Sie arbeiten mit beiden Händen! Bei ihnen weiß man nie, woran man ist!“ Im Erzählen der Gläubigen über die Marassa stehen die Sorgen der Eltern um ihre Kinder und über deren mangelnde Fortführung haitianischer Lebensweise im Vordergrund. Die Darstellungen rankten sich meist um die Traditionsferne der Kinder und Jugendlichen, um deren Kleidungs- und Haarstile und ihr Freizeitverhalten. In den elterlichen Klagen über die dreiste veramerikanisierte haitianische Jugend sprachen meine GesprächspartnerInnen sowohl die durchaus reale Sorge um das Wohlergehen ihrer eigenen Kinder an als auch die Probleme des Lebens in der Migration. Waren sie doch nach Kanada gekommen, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu bieten. Die Doppeldeutigkeit der Marassa – Kinder und abgesicherte Zukunft – wird auf das Leben in der Migration übertragen und bezieht sich hier auf ausgeprägte Generationenkonflikte in der communauté haitienne .
Ein weiterer Lwa , der eingangs erwähnte Agwé , der für die Bedeutung des Meeres steht, stellt in Montreal den Bezug her zu den Problemen grenzüberschreitender Familienbande und Geldüberweisungen an die in Haiti zurückgebliebenen Angehörigen. Kuzin Zaka wiederum erzählt von der Bedeutung der Tugenden Fleiß und Zuverlässigkeit für ein Leben mit materiellen bzw. finanziellen Erfolgen. Und die Gédé erleichtern den Hohn auf die Marotten der Quebecer Gesellschaft.
Abschließend sei festgehalten, dass der Vodou durch die haitianische Migration nach Kanada schon zum zweiten Mal Teil einer Diaspora wurde. Das erste Mal wurde der Geisterglaube durch die Passage von Afrika in die Neue Welt den Bedürfnissen und Gegebenheiten einer neuen Umgebung angepasst. Die Geister wirken nun erneut unter veränderten Bedingungen in Kanada. Sie schützen ihre Gläubigen und stehen ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Und auch hier streiten sie wieder untereinander um Ressourcen, um Liebe und um Aufmerksamkeit.
Das Reden über die Lwas erzählt von der Veränderung und Anpassung der Menschen an die neue Heimat und von der individuellen Auseinandersetzung zwischen Vertrautem und Fremdem, vom Streit zwischen den Geschlechtern und zwischen den Generationen, von der Sehnsucht nach einem Leben in Frieden und Wohlstand und von der Angst, nie wieder nach Hause zurückkehren zu dürfen.
Drotbohm, Heike (2005): Geister in der Diaspora. Haitianische Diskurse über Geschlechter, Jugend und Macht in Montreal, Kanada. Marburg: Curupira
Cosentino, Donald (1995): Sacred Arts of Haitian Vodou. Los Angeles: University of California Press.
Kramer, Fritz (1987): Der rote Fes. Über Besessenheit und Kunst in Afrika. Frankfurt am Main: Athenäum.
Métraux, Alfred (1958): Le Vodou Haitien. Paris: Gallimard.
Hurbon, Laennec (1995): Voodoo. Search for the Spirit. Paris: Gallimard
Dr. Heike Drotbohm ist Ethnologin und zurzeit als wissenschaftliche Assistentin an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg tätig. Forschungen in Westafrika, Haiti sowie in der haitianischen Gemeinschaft in Montreal, Kanada, promovierte über „Geister in der Diaspora. Haitianische Diskurse über Geschlechter, Jugend und Macht in Montreal, Kanada“.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008