Visualität und Oralität in traditioneller Kunst und Populärkultur in Westafrika

Von Wendelin Schmidt

Oralität und Analphabetismus

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Ashanti-Beerdigungs- feierlichkeiten. Foto. W. Schmidt

Große Reklametafeln, plakatierte Anschläge aller Art und unzählige gemalte Schilder sind heute ein wichtiger Faktor der urbanen Ästhetik in den Metropolen Ghanas und Nigerias. Die Passanten in den westafrikanischen Großstädten werden permanent mit visuellem Informations- und Bildmaterial konfrontiert. Für die städtische Bevölkerung ist das „Lesen“ von Bildern durch ständigen Umgang damit selbstverständlich geworden. Im ländlichen Raum dagegen, wo wenig Bildmaterial vorhanden ist, kann eine Einführung in das Verstehen von Bildern kaum stattfinden. Unabhängig von konventionellen und modernen Medien gibt es andere Wege der Informationsweitergabe.
Die wichtigste Vermittlungsform von Normen, Werten und Traditionen ist hier die mündliche Überlieferung. In der oralen Tradition kann jedoch immer nur so viel weitergegeben werden, wie das kollektive Gedächtnis zu bewahren in der Lage ist. Bei jedem Erinnern und Weitergeben von Kulturgut findet jeweils eine neue Interpretation und eine Angleichung der Gedächtnisinhalte an die Erfordernisse der Gegenwart statt, denn Kultur ist nicht statisch, sondern ein dynamischer Prozess. Was jedoch einmal aus der oralen Überlieferung ausscheidet, ist für die Nachwelt für immer verloren. Diesen endgültigen Wissensverlust beschrieb der westafrikanische Schriftsteller und Politiker Amadou Hampâté Bâ aus Mali folgendermaßen: „Mit jedem Greis, der in Afrika stirbt, verbrennt eine nicht ausgeschöpfte Bibliothek.“ Die orale Überlieferung trägt durch das Erinnern und durch die pragmatische Anpassung an neue Situationen sowohl zur Bewahrung als auch zur Vermehrung von Kultur bei.

Wichtig in der oralen Überlieferung sind die Gedächtnishilfen. Wenn zum Beispiel das gesprochene Wort mit einer Handlung verknüpft wird, oder die Kombination von Wort und Rhythmus, Melodie, Tanz oder Reime verwendet wird. Erfahrungen und Weisheiten werden häufig in Form von Sprichwörtern, Redensarten und Erzählungen, Gedichten, Märchen, Mythen und Liedern wiedergegeben. Rätsel haben oft die Funktion einer Wissenskontrolle. Die starre Fixierung von Bedeutungsinhalten ist jedoch langfristig unmöglich, denn bei jedem Akt des Erinnerns und Weitergebens erfolgt eine Anpassung an die aktuelle Situation. Die afrikanische Oralität ist kein Ausdruck von Rückständigkeit und darf daher auch nicht in der Gleichung: "Tradition" (Oralität) versus "Moderne" (Schriftlichkeit) gesehen werden. Die orale Kultur ist nicht - wie der Analphabetismus - eine Entwicklungsbarriere, die durch schnelle Alphabetisierungskampagnen ausgeglichen werden muss. Denn, so sagt Heidrun Hemje-Oltmanns im Nachwort des Romans „Jäger des Wortes“ von Amadou Hampâté Bâ, „die orale Tradition erzeugt und formt einen bestimmten Menschentypus und gibt der afrikanischen Seele ihre Gestalt. Sie ist konstituierend für den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass mit dem Vordringen der Schriftlichkeit die alte afrikanische Gesellschaft bis in die feinsten Verästelungen aus den Angeln gehoben wird - wobei heute die Alternative nicht der so genannte "Analphabetismus" sein kann“.

Als Analphabet gilt nach der Definition der UNESCO von 1978 eine Person, die nicht in der Lage ist, eine einfache Bemerkung über ihr Alltagsleben verstehend zu lesen oder zu schreiben. Dazu gehört auch die Kenntnis grundlegender mathematischer Symbole. Die Analphabetenrate in den so genannten Entwicklungsländern lag 1995 noch bei fast 30 % (38 % Frauen und 21 % Männer).

Oralität und Visualität

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Adinkra-Symbole: Sankofa "Der Vogel ist weise. Schau, sein Schnabel, nach rückwärts gerichtet, bejaht für heute, was früher richtig war. Dann schreitet er vorwärts, mit Blick nach vorn. Der Zukunft entgegen, ohne Furcht." Foto: W. Schmidt

Wie wurden in den traditionell schriftlosen Kulturen Afrikas südlich der Sahara Botschaften visuell kommuniziert? Ein wichtiges Ausdrucksmittel zur Übermittlung religiöser, politischer oder sozialer Botschaften stellte die traditionelle Kunst dar. Kleidung, Schmuck und Rangzeichen dien(t)en als Ausstattungsmittel, um Alter, Status, Tätigkeit, Reichtum oder ein soziales Ereignis entsprechend differenziert auszudrücken. Die Goldgewichte der Ashanti aus Ghana sollen auch zur Übermittlung von Nachrichten verwendet worden sein. Sie haben geometrische Formen mit ornamentalen Oberseiten und zeigen allgemein bekannte Sprichwörterweisheiten als bildliche Darstellungen. Oft sind es Tiergestalten, die sich auf die populären Adinkra-Symbole beziehen, die ihrerseits den reichen Fundus an Gedichten, Sprichwörtern und Redensarten bildlich darstellen. Eine Henne mit einem Küken gilt zum Beispiel als Symbol für "Mitleid" und entspricht dem Sprichwort: „Eine Henne kann ihr Küken treten, aber sie wird es nie töten.“

Sprichwörter spielen eine wichtige Rolle im alltäglichen Sprechakt und nehmen Bezug auf alle sozialen und kulturellen Lebensbereiche. Sie sind Resultat persönlicher und kollektiver Erfahrungen im globalen und lokalen Kontext. Als verbaler Ausdruck kollektiver Erinnerung repräsentieren sie daher allgemein anerkannte Weisheiten. Aktuelle und historische Ereignisse werden durch Sprichwörter und Redensarten dokumentiert und kommentiert: „Als die Weißen in unser Land kamen, hatten sie die Bibel und wir den Boden; jetzt haben wir die Bibel und sie den Boden.“ Sprichwörter können moralische Botschaften transportieren, zu gutem Benehmen und zu Aktivität ermahnen oder zu Geduld ermutigen: „Geduld ist die Medizin der Welt.“ (Hausa) Als Ausdruck von kulturellen Normen, Werthaltungen und Lebensphilosophien können verschiedene Sprichwörter auch gegensätzliche Ansichten vertreten, die in Rede und Gegenrede zum Ausdruck kommen. Ein Sprichwort im richtigen Moment einzusetzen ist oft effektiver, als langwierige Erklärungen abzugeben. Sie können ohne große Schwierigkeiten verstanden werden. Oft wird ein Sprichwort nur angedeutet, ohne es vollständig auszusprechen. Dies wird mit „Gebildete Menschen benötigen nur ein einziges Wort“ (Ashanti) angesprochen. Die breite Kenntnis und die Verwendung von Sprichwörtern im Alltag wird positiv gesehen. Die Verwendung von Sprichwörtern in der Öffentlichkeit zeigt den Sprecher nicht nur als Erben und Bewahrer lokal-kulturellen Wissens, sondern auch als jemanden, der um die poetische Dimension von Sprache weiß. Kollektives Wissen wird durch die orale Tradition langfristig bewahrt.

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R. Nkwonta (CAS Creation): The first lady wine tapper. God's Providence Printers Mushin. Lagos, Nigeria, 2002. Foto: S. Beckers. Sammlung Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main

Als „neuere“ visuelle Kommunikationsmedien gelten die weitverbreiteten gemalten Schilder, die insbesondere im handwerklichen und kommerziellen Bereich Anwendung finden. In Ghana und Nigeria werden die gemalten Schilder seit einigen Jahren zunehmend durch gedruckte Plakate (Calendars) verdrängt. Wie das „radio trottoir“, das in den Städten für die Zirkulation von Nachrichten, Neuigkeiten und Gerüchten sorgt, so sind die Calendars ein populäres Massenmedium, das eine Öffentlichkeit für politische, soziale und religiöse Konfliktfelder herstellt. Die Druckvorlagen werden zum Teil bei Schilder- und Reklamemalern in Auftrag gegeben. Die Calendars sind gleichermaßen Informations- wie Unterhaltungsmedium und sprechen vor allem die „kleinen Leute“ auf der Straße an.

Das Plakat der ersten Palmweinzapferin ist trotz der Kombination aus Bild und Text aufgrund seiner Bildsprache auch für Menschen mit fehlender oder geringer formaler Schulbildung verständlich. Der größte Teil des Plakates zeigt eine Frau, die an einer Palme hochklettert, um die Kalebassen abzunehmen, in die der Saft der Palme geflossen ist. Dieser Saft wird vergoren als schwach alkoholisches Getränk oder destilliert als Palmschnaps getrunken. Auf der linken Seite des Plakates wird die öffentliche Meinung über diese Tätigkeit in der Form von Bemerkungen und durch Interviews dargestellt. Das Palmweinzapfen ist in Westafrika eine Männerdomäne. Dass diese Tätigkeit im Bild von einer Frau durchgeführt wird, zeigt den gesellschaftlichen Wandel im heutigen Afrika. Das Plakat kann darüber hinaus selbst als ein Beispiel neuer Formen von verbaler Kultur gesehen werden. Die „ungewöhnliche“ Tätigkeit der ersten Palmweinzapferin legitimieren Sprichwörter, die zu Aktivität auffordern. In Ashanti: „Wenn du nur aus einem Tontopf trinkst, trinkst du automatisch vom Boden.“ („Wenn du nur eine einzige Arbeit hast und du sie verlierst oder sie nicht genug einbringt, wirst du verarmen.“) Und in Hausa: „Die Exkremente im Magen zu lassen, vertreibt nicht den Hunger.“ („Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“.) Natürlich können auch Sprichwörter die Bildbotschaft kritisieren und den Einbruch der Frauen in neue, bisher Männern vorbehaltene Sphären verurteilen. In Hausa: „Wenn eine Frau in einen Kornspeicher klettert, wird sie einen Dieb gebären“ oder „Wenn eine Frau eine Leiter hochklettern sollte, wird sie verrückt werden.“

In den Kommunikationsprozessen mit einer breiten Öffentlichkeit ist die visuelle Vermittlung von Inhalten noch vor dem gesprochenen Wort wichtig, weil viele Aspekte sich besser visuell als oral vermitteln lassen. So können Bilder nicht nur die Botschaft des gesprochenen Wortes verstärken, sondern auch dazu beitragen, dass die Erinnerung durch das Bild mit dem Ausgesprochenen verbunden bleibt, wenn der Sprecher abwesend ist. Das chinesische Sprichwort „Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte“ kann dabei als Motto gelten, gesprochene und/oder geschriebene Wörter durch Bilder zu ersetzen.

Weiterführende Literatur

Barber, Karin (Hg.) 1997: Readings in African Popular Culture. London: The International African Institute
Baumann, Richard (Hg.) 1992: Folklore, Cultural Performance and Popular Entertainments. Oxford: Oxford University Press
Furniss, Graham 1996: Prose, Poetry and Popular Culture in Hausa. Edinburgh: Edinburgh University Press
Schmidt, Wendelin 2004: „Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte?“ Visuelle Kommunikation und Probleme in der Bildwahrnehmung. Audiovisuelles Begleitmaterial zur Ausstellung „Plakate in Afrika“. Frankfurt am Main: Museum der Weltkulturen (DVD)

Zum Autor

Wendelin Schmidt M. A. Studium der Ethnologie und Afrikanistik in Frankfurt und Hamburg. Feldforschungen in Benin und Ghana. Arbeitsschwerpunkte: visuelle Kultur und Gegenwartskunst, Rechtspluralismus und Genderfragen, Islam, Migration und Ethnizität. Seit 2002 Tätigkeiten für die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Kurator der Ausstellung „Plakate in Afrika“ im Museum der Weltkulturen, Frankfurt.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008